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Neuntes Kapitel.
»Du bist meine Mutter!«

Im kleinen Bibliothekzimmer der Wohnung Henry Matthewsons in Waterville saßen am Morgen nach dem Ereignis auf der Brücke drei Männer im Gespräch vertieft beisammen. Es waren dies Henry Matthewson selbst, sein um drei Jahre älterer Bruder Charles und der Mann, der mit dem Nachtzuge von Millbank gekommen war, Frank Hunter, ein Bruder des großen Holzhändlers und ehemals Bevollmächtigter Mr. Wings.

»Im Bureau sind die Papiere nicht zu finden,« sagte Hunter soeben. »Ich habe mir gleich gedacht, daß er sie nicht dort gelassen haben wird, aber dennoch habe ich alles genau durchsucht.«

»Vielleicht hatte er sie in seinem Privattresor zu Hause,« meinte Henry Matthewson.

»Ja, den zu durchsuchen, habe ich natürlich keine Gelegenheit gefunden.«

»Sie hätten sich aber eine verschaffen sollen,« sagte Charles Matthewson ernst.

Die Bemerkung wirkte niederschlagend auf alle Anwesenden, und es trat eine Gesprächspause ein. Endlich sagte Hunter: »Es wäre zu gefährlich gewesen, nach dieser Richtung hin hervorzutreten. Außerdem hatte bereits Trafford alles in Augenschein genommen.«

»Da hat Mr. Hunter recht,« sagte Henry Matthewson in dem ihm eigenen herrischen Ton, »es wäre zu gefährlich gewesen.«

»Was aber wollen wir nun eigentlich machen?« fragte Charles, »die Papiere in Traffords Hände fallen lassen, damit sie gegen uns gebraucht oder bestenfalls uns gegen eine horrende Summe verkauft werden? Wings Tod bildet eine außerordentlich günstige Gelegenheit, die Papiere zu erlangen. Sollen wir diese nun unbenutzt vorübergehen lassen?«

»Wenn Papiere überhaupt zu finden gewesen sind,« widersprach Henry, »dann haben doch Trafford oder McManus sie bereits an sich genommen, noch ehe wir überhaupt von dem Morde etwas wußten. Uns kommt es jetzt bloß noch darauf an, zu erfahren, ob Papiere vorhanden gewesen sind oder nicht, ohne daß wir dabei gleich ihre Existenz behaupten dürfen. Wenn wir sie dann durch Kauf wiederbekommen könnten, so wäre dieses noch der beste Ausweg für uns.«

Wieder trat eine Gesprächspause ein, bis Hunter schließlich in spöttischem Ton bemerkte: »Wir können bloß froh sein, daß man keinen andern als Trafford zur Untersuchung herangezogen hat.«

»Sind Sie auch ganz folgerichtig in Ihrem Urteil über den Detektiv, Mr. Hunter?« fragte Charles Matthewson. »Ich fürchte, Sie unterschätzen seine Fähigkeit.«

»Durchaus nicht. Was hat er denn in den vierzehn Tagen mit seiner ganzen Arbeit herausgefunden?«

»Ja, das ist es gerade, was ich selbst gern wissen möchte, ohne es zu können,« sagte Matthewson.

»Doch, was Fähigkeit anbetrifft, da steht Trafford obenan,« sagte Henry, »und der zweitbeste ist Cranston. Wenn wir einen zweiten Detektiv anstellen wollen, dann tun wir gut, ihn zu nehmen. Er hätte nach zwei Richtungen hin zu arbeiten: erstens Trafford auf der Spur zu sein und uns schnelle Nachricht zu geben, wenn er etwas von den Papieren hört, und zweitens die Sache mit Wings Geburt aufzudecken.«

»Und das Motiv zum Morde dazu,« meinte Hunter.

»Ach was,« sprach Charles dagegen, »wenn wir nur unsre Papiere bekommen; um das übrige laß sich bekümmern, wer da will. Wenn ich bedenke, daß ich – ich selbst in jener Nacht in Millbank gewesen bin, fast in demselben Augenblick! Hätte ich bloß eine Ahnung gehabt, ich wäre in das Zimmer gedrungen vor allen Detektiven der Welt!«

Das Resultat der Unterredung war schließlich, daß man Cranston holen ließ und ihm die Sache vorlegte. Nachdem dieser seine Instruktionen angehört hatte, sagte er: »Sie wünschen also einmal, daß ich ausfindig mache, wer Mr. Wings Mutter war – doch dieses nur nebenbei. Zum andern Mal wünschen Sie zu wissen, wer der Mörder Wings ist – aber dieses auch nur nebenbei! Was soll ich somit eigentlich als Hauptsache herausfinden?«

Henry Matthewson zeigte wieder seine Überlegung im Entscheiden und Handeln.

»Mr. Wing hat vor einiger Zeit eine Sache bearbeitet, die für den Holzhandel des ganzen Staates von großer Wichtigkeit war. Uns ist nur die nackte Tatsache bekannt, denn er zog niemand in sein Vertrauen und trieb die Heimlichkeit so weit, daß er die Papiere mit nach Hause nahm und in seinem Tresor in seiner Bibliothek verschloß. Wir wissen nicht, was die Papiere enthalten, glauben jedoch, daß sie, wenn sie in die Hände eines weniger gewissenhaften Menschen fallen, als Wing es war, höchst gefährlich werden können – das heißt, Anlaß zu üblem Gerede gebend Wir möchten nun festgestellt haben, wo sich die Papiere befinden, und sie womöglich in unsern Besitz bringen.«

»Wie weit bin ich bevollmächtigt, vorzugehen, um sie in die Hand zu bekommen?«

»Stellen Sie nur fest, wo sich die Papiere befinden, und berichten Sie mir darüber. Wir werden dann unsre Entscheidung treffen, wie wir sie sicher in unsern Besitz bringen können.«

»Wenn sie nicht bereits entfernt worden sind,« sagte Cranston. »Trafford und McManus haben lange genug Gelegenheit gehabt, sie beiseite zu schaffen. Ich bin gewiß, daß sich die Papiere in ihren Händen befinden.«

»Ach, die dürften den Wert der Papiere nicht erkannt haben,« sagte Charles Matthewson.

Cranston sah den Sprecher spöttisch an.

»Mr. McManus kenne ich freilich nicht genauer,« sagte er, »aber von Trafford weiß ich, daß er, wenn er diese Papiere in die Hände bekam, auch deren Wert erkannt hat.«

Nachdem der Detektiv seine Instruktionen empfangen hatte und gegangen war, sagte Hunter: »Ich glaube nicht, daß mein Bruder damit einverstanden ist, daß auf die Feststellung der Mutter Wings noch Zeit verschwendet wird. Er ist der Meinung, daß diese Affäre nichts mit dem Morde zu tun habe.«

»Wie sollte ein vernünftiger Mensch das auch nicht denken?« fragte Henry Matthewson ungeduldig; »wenn das Dokument des Richters echt ist, dann hat diese Frau eine hohe Stellung zu verlieren und sie muß einen großen Einfluß auf ihren Mann besitzen, der einen hohen politischen Rang einnimmt. Es kann somit nicht viel Mühe kosten, diesen Teil der Affäre aufzuklären und uns einen Bundesgenossen zu verschaffen, der uns im Falle der Not sehr zum Vorteil gereichen kann.«

»Gut,« sagte Hunter, »ich für meine Person stimme bei; ich hielt es bloß für korrekter, die Haltung meines Bruders festzustellen.«

Cranston machte sich sogleich mit Eifer an das Werk. Sein erster Besuch galt Millbank und dem Parlingehöfte, wo er, wie gesagt, das ganze Haus von unten bis oben durchsuchte. Bei seinem zweiten Besuch plagte er Mrs. Parlin mit so viel Fragen, daß sie sich schließlich nicht mehr zu helfen wußte und auch ihm eingestand, daß sie am Abend ein Bündel Papiere auf dem Pult gesehen hatte. Es war indessen augenscheinlich genug, daß dieses Bündel nicht mehr dalag, und Cranston gelangte zu der Überzeugung, daß Trafford oder McManus das Bündel an sich genommen habe. Das Ereignis mit der Schreibunterlage, die Trafford mitgenommen hatte, ließ ihn vermuten, daß Trafford der Betreffende gewesen und daß die Schreibunterlage bloß ein Vorwand gewesen war, alles Daraufliegende mitnehmen zu können.

Er setzte daher seine Untersuchung in dem Bewußtsein fort, daß andre, wenigstens ebenso scharfe Augen wie die seinigen bereits hier gesucht hatten, und daß daher wenig Aussicht bestand, etwas zu entdecken, das den Augen des andern entgangen sein konnte. Es ärgerte ihn, daß man ihn erst so spät zur Sache herangezogen hatte.

»Oldbeg ist wohl schon viele Jahre hier in Dienst?« sagte er nachlässig zu Mrs. Parlin, die darauf bestand, ihn bei seinen Nachforschungen zu begleiten.

»Er ist seit sechs Jahren bei uns,« erwiderte sie, »ein Jahr vor dem Tode des Richters trat er hier ein.«

»Haben Sie ihn immer für treu befunden?«

»Besondern Grund zur Klage hat er nie gegeben. Er ist von gesetztem Charakter, hat immer hart gearbeitet und sich auch gewöhnlich bei guter Laune gezeigt.«

»Gewöhnlich!« wiederholte Cranston. »Mitunter also auch nicht?«

»Nun, er hat seine Ausnahmetage, wie wohl jeder von uns, – Tage, an denen ihm etwas gegen den Strich gegangen und er mürrisch ist. Aber das verschwindet bald wieder, und anscheinend bedauert er es stets. Immer sanftmütig ist keiner von uns.«

»Wann hatte er denn zuletzt einen solchen Ausnahmetag, wie Sie es nennen?« fragte Cranston in gleichgültigem Tone, als ob er der Sache nicht viel Wichtigkeit beilege, sondern nur pflichtgemäß die Frage stelle.

»Am Sonntag vor dem – –«

»9. Mai,« unterbrach Cranston.

»Ganz recht. Des Nachmittags hatte er sich angezogen, um auf Besuch zu gehen, als Theodor ihm bestellen ließ, ihm sein Reitpferd vor den leichten Wagen zu spannen, da er nach Norridgewock fahren wollte. Jonathan hatte keine Lust dazu und erwiderte, wenn er nicht einmal des Sonntags nachmittags Ruhe haben könne, dann wolle er sich nach einer andern Stelle umsehen.«

»War das alles, was geschah?« fragte Cranston, nachdem er einen Augenblick lang gewartet hatte, ob Mrs. Parlin fortfahren würde.

»So ziemlich. Es ist ja lächerlich, das Ganze zu wiederholen.«

»Ich hätte es aber doch gern gehört,« sagte Cranston.

»Nun, Jonathan hatte wohl gedacht, daß Theodor ihn nicht hörte, aber Theodor hatte seine Worte doch gehört und gab eine scharfe Antwort und –«

»Bitte, was antwortete er?«

»Er antwortete, Jonathan könne gehen, wann er wolle, und er verlange von seinem Knecht, daß er jederzeit seinen Dienst verrichte. Darauf erwiderte dann Oldbeg, wenn er arbeiten solle wie ein Nigger, dann hätte sich Theodor lieber einen solchen engagieren sollen, und Theodor versetzte seinerseits, wenn er noch ein einziges Wort von ihm höre, dann würde er ihn auf der Stelle entlassen.«

»Hatte es damit sein Bewenden?« fragte Cranston.

»Nun, natürlich. Keiner von beiden meinte ja, was er sagte, und die einfachste Art der Beilegung des Streites war, ihn zu vergessen. Theodor sah das ein und kam nicht wieder darauf zurück.«

»Aber vergaß auch Oldbeg den Streit?« fragte Cranston bedeutsam.

»Vielleicht nicht. Er wußte, daß er unrecht hatte, und das bedrückte ihn wohl.«

Cranston sah sie verständnislos an; dann lächelte er, erkennend, daß sie seine Frage nicht verstanden hatte. »Aber auch gut!« dachte er und ging zu andern Fragen über.

Frank Hunter dagegen berichtete er an diesem Abend, daß nach seiner Ansicht Oldbeg mehr als Täter in Frage komme, als er bisher gedacht hatte.

»Es liegt in der Tat Grund genug vor, ihn auf der Stelle zu verhaften,« sagte er, »und ich bin sicher, daß er unter der Wirkung der Haft zusammenbrechen und die Wahrheit eingestehen wird.«

»Aber die Papiere!« fragte Hunter ungeduldig. »Von den Papieren kann Oldbeg keine Kenntnis besessen haben, und für sie interessieren wir uns doch am meisten.«

»Oh, was die Papiere betrifft, so hat sie ohne Zweifel Trafford an sich genommen. Sie sind zuletzt auf der Schreibunterlage gesehen worden, und er hat so getan, als nähme er diese an sich. Natürlich war das nichts andres als ein Vorwand, um heimlich die Papiere mitzunehmen. Es steht Ihnen also frei, wegen Ankaufs der Papiere Unterhandlungen mit ihm einzuleiten; allerdings – solange er glaubt, daß die Papiere einen Zusammenhang mit dem Morde haben, müssen Sie mit den Unterhandlungen warten. Später, wenn die Frage wegen des Mords erledigt ist, sind die Papiere einfach Papiere, und dann werden Sie leichte Mühe haben, sie zu bekommen. Ein Grund mehr für Sie, der Verhaftung Oldbegs zuzustimmen und die Sache, wie ich vorschlug, zu Ende bringen zu lassen.«

»Aber mein Bruder ist der festen Ansicht, daß Oldbeg absolut nichts mit dem Morde zu tun hat, und wie groß sein Interesse an den Papieren auch sein mag, er ist nicht willens, einen Unschuldigen mit unrechtmäßiger Haft zu peinigen. Ich bin gewiß, wenn Sie nicht positive Beweise für Ihre Ansicht liefern können, wird er die Verhaftung nicht gestatten.«

»Meinetwegen,« sagte der Detektiv verdrossen, »ich stehe in Ihrem Dienst und werde Ihre Anweisungen befolgen, aber wenn ich den Fall in öffentlichem Auftrage zu behandeln hätte, dann würde ich unbedingt und zwar sofort zur Verhaftung schreiten.«

Charles Hunter zeigte sich in der Tat so unnachgiebig, wie sein Bruder es von ihm vermutet hatte. Er erklärte dem Detektiv, daß bereits genug Unrecht begangen worden sei, als man diesen Mann mit Verdacht belegte, ohne einen festen Anhalt dafür zu haben.

»Schon jetzt wird der Mann Jahre seines Lebens brauchen,« sagte er, »um sich von dem auf ihm lastenden Verdachte zu reinigen. Eine Verhaftung gar würde ihn völlig zu Boden werfen. Ja, freilich, ich weiß gut, Sie erblicken ein Motiv in dem kleinen Streit, den er an jenem Sonntage mit Mr. Wing hatte – aber derartiges kommt überall und jeden Augenblick vor. Ein Mann, der gerade im Begriff steht, sein Mädchen zu besuchen, ist selbstverständlich querköpfig, wenn er statt dessen Dienst verrichten soll, und daraus einen Grund für ihn zur Ermordung seines Brotherrn abzuleiten, geht doch wider alle Vernunft und allen gesunden Menschenverstand.«

»Die meisten Morde geschehen wider Vernunft und gesunden Menschenverstand,« versetzte der Detektiv, »und von zehn Morden entstehen neun aus vollständig trivialen Gründen. Sie sollen sehen, ehe der Fall für Sie erledigt ist, befindet sich Oldbeg in Haft.«

»Auf meine Veranlassung aber jedenfalls nicht,« gab Charles Hunter zurück.

Nachdem ihm dieser Teil seiner Untersuchung somit durchkreuzt war, wandte Cranston seine Aufmerksamkeit der Aufspürung von Wings Mutter zu, der sowohl Hunter als auch die beiden Matthewsons augenscheinlich besondere Bedeutung beilegten – größere Bedeutung, als ihm begründet erschien. Offenbar war es bloß ein Vorwand oder eine Ausflucht von ihnen gewesen und hatte keinen andern Zweck als bloß den, das Geheimnis einer Frau zu enthüllen, durch das ihr guter Name um eines vor vierzig Jahren begangenen Fehltritts willen vernichtet werden mußte. Es erschien ihm als eine merkwürdige Verdrehung des Rechtsgefühls, daß man sich einerseits der Verhaftung eines Mannes, den verschiedene Umstände schuldig sprachen, so scharf widersetzte und anderseits so eifrig darauf bedacht war, Licht in eine Sache zu bringen, die schon viele Jahre zurücklag und durch ein reines Leben von längerer Dauer, als diese Männer alt waren, ausgetilgt war.

Aber sobald er sich einmal an das Werk gemacht hatte, war der Forschungsgeist über ihn gekommen – und immer fester faßte er in ihm Wurzel, je mehr die entdeckten Tatsachen in einer bestimmten Richtung wiesen und Erstaunen, verbunden mit einer niedrigen Gier, ihn erfaßte. Als er schließlich die ganze Wahrheit vor sich liegen sah, hatte seine Begier, die Entdeckung zu seinem Vorteil auszunutzen, eine solche Höhe erreicht, daß er nur zwischen zwei Wegen wählen zu können glaubte. Entweder zu ihr, der das Geheimnis so lange gehört hatte, zu gehen und einen Preis für sein Stillschweigen zu verlangen, oder sich zu den Söhnen zu begeben und sich von ihnen dafür bezahlen zu lassen. Ganz »ehrenwert« wollte er handeln, durchaus nicht den einen gegen den andern ausspielen. Er wäre geneigt gewesen, den Söhnen das Geheimnis vorzuenthalten, wenn ihn nicht der Gedanke erfüllt hätte, daß die Söhne vielleicht eher als ihre Mutter in der Lage waren, seinen hohen Preis zu bezahlen. Aber anderseits zog er auch weislich in Erwägung, daß die Mutter sich wohl fügsamer zeigen dürfte als die Söhne, besonders wenn sie die Überzeugung gewann, daß er wirklich gegen jedermann Schweigen bewahren wolle. So gingen seine Gedanken hin und her, bis er sich schließlich darüber einig wurde, die Sache vorläufig ruhen zu lassen; das Geheimnis lief ihm nicht davon und hatte nach einem Monat denselben Wert wie heute; er konnte warten und seinen Entschluß immer noch fassen. –

An dem Tage, da Trafford den Holzflößern seinen fruchtlosen Besuch abstattete, saß Charles Matthewson unruhig und ängstlich in seinem Bureau. Vergebens bemühte er sich, seinen Geist durch Arbeit von den nagenden Sorgen abzulenken; immer wieder kehrten seine Gedanken zu demselben Punkt zurück, bis er schließlich mißmutig die Feder auf das Papier warf und seinen Hut ergriff, um im Freien Erholung zu suchen. In demselben Augenblick aber öffnete sich die Türe, und herein trat seine Mutter.

Überrascht ging er ihr entgegen. »Ganz außerordentliche Ehre, Mutter!« rief er erstaunt. »Aber ich hätte dir gern die Mühe erspart, wenn du mir bloß gesagt hättest …«

»Ich möchte mit dir sprechen, Charles,« sagte sie, auf dem angebotenen Stuhl am Fenster Platz nehmend, »und hier fällt mir das Sprechen leichter als zu Hause.«

»Betrifft es denn eine wichtige Sache?« fragte er ängstlich.

Obwohl mit einer nie versagenden Beharrlichkeit begabt, die nichts andres kannte als rastloses Verfolgen des Zweckes bis zum Erfolg, enthielt seine Natur doch eine weichere Seite, die seinem jüngeren Bruder gänzlich fehlte. Sie trat besonders zutage in seinem Verhältnis zu seiner Mutter, die ihm ihrerseits eine Zärtlichkeit erwies, deren nur wenige sie für fähig hielten. Durch die Liebe ihres Sohnes war aus allem, was in ihrer männlichen Natur weiblich war, ein Verlangen entstanden, das im schroffen Gegensatz zu der Ehrfurcht und Scheu stand, die ihre Verwandten ihr erwiesen. Es fiel ihr nicht leicht, sich an jemand um Hilfe zu wenden, aber wenn sie einmal dazu gezwungen war, führte ihr Weg sie nur zu Charles. Und er seinerseits kannte sie gut genug, um zu wissen, daß die Ursache tief liegen mußte, wenn sie sich zu einem solchen Schritt entschloß.

»Bist du es, Charles, der dieses Weib mit aller Gewalt zugrunde richten will?«

»Welches Weib, Mutter?« fragte er überrascht.

Es schien ihr schwer zu werden, die Antwort auszusprechen; erst nach einem kurzen inneren Kampf hob sie fast herausfordernd den Kopf und sagte mit harter, kalter Stimme: »Die Mutter Theodor Wings.«

Sein Gesicht verhärtete sich zu demselben Ausdruck, den das ihrige trug.

»Du hast mit einem Weib wie diesem doch nicht das mindeste zu tun, Mutter!«

»Jede Frau hat mit einer andern, die unterdrückt und unrechtmäßig verfolgt wird, zu tun. Warum soll die tote Vergangenheit jener Frau vor aller Welt bloßgelegt werden? Sind die Jahre, die seit ihrem Fehltritt verstrichen, denn für nichts zu zählen? Ist diese Generation, die seit jenem Geschehnis aufgewachsen, berechtigt, über Dinge zu richten, die vor ihrer Geburt geschahen? Und bist du mit unter denen, die das Unrecht geschehen lassen?«

Dieser neue Charakterzug seiner Mutter berührte ihn seltsam und durchaus nicht angenehm. Sie pflegte sonst nicht große Sympathie für ihr Geschlecht an den Tag zu legen, wenn er auch weit entfernt davon war, sie der Härte und Grausamkeit anzuklagen. Aber bisher hatte sie in ihm den Eindruck erweckt, daß ihre Sympathieen und Gefühle eher männlicher als weiblicher Natur waren.

»Ich wünsche durchaus nicht, Mutter, dieses oder jenes Weib zugrunde zu richten, aber es ist ein schrecklicher Mord begangen worden, ein Mord, der um so schrecklicher ist, als er einen grundlosen und geheimnisvollen Charakter trägt. Ich bin mit in den Rat einberufen worden, der das Geheimnis zu enträtseln und die Täter zu bestrafen suchen soll, und es ist meine Pflicht, jedes Mittel zur Erreichung dieses Zweckes anzuwenden.«

»Dann bist du eben dabei, dieses Weib aufzuspüren und ihre Blöße aller Welt vor Augen zu halten!« Die Worte klangen wie ein Schrei, dessen Wucht mehr in dem Ton als in den Worten lag.

»Allerdings bemühe ich mich, das Weib zu entdecken; ich kann gar nicht anders unter den gegenwärtigen Umständen, und ich glaube, ich habe alle Aussicht auf Erfolg.«

Da erhob sie sich von ihrem Stuhl und sah ihn mit einem seltsamen, verzweifelten Blick an. »Ich will gehen,« sagte sie, sich zur Türe wendend. »Dies ist kein Ort für mich. Ich will gehen.«

Er sah sie kalt, fast zurückweisend an, als er, ihr den Weg vertretend, sagte: »Mutter, was soll das bedeuten?«

Den Blick, mit dem sie ihn ansah, hätte niemand vergessen können, der ihn sah. Es lag eine Herzensqual darin, nein mehr als das – das Zusammenbrechen ihres lebenslang gehegten Stolzes war darin zu lesen.

»Was kann es denn nur bedeuten?« fragte sie langsam.

Da fiel sein Kopf auf die Brust herab. Nie zuvor hatte er die Bitterkeit erfahren, die das Leben, ja, die ein einziger Augenblick des Lebens mit sich bringen kann. Sie wandte ihre Augen nicht von ihm fort: wie auch sein Urteil ausfallen mochte, sie wollte ihm begegnen, wie es ihrer Vergangenheit entsprach. Und langsam erhob er den Kopf, langsam füllte sich sein Blick mit Mitleid. Dann ging er auf sie zu, drückte seine Lippen auf ihre Stirn und sagte: »Du bist meine Mutter. Ich werde deinem Wunsche folgen.«

*


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