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Zehntes Kapitel.
Ein zweiter Mord?

»Mr. McManus,« sagte Trafford, nachdem sie die nochmalige Prüfung der Privatpapiere Wings beendet hatten, »besaß Mr. Wing besondere Neigung zur Geheimniskrämerei oder zur Verheimlichung mancher Dinge?«

»Wenn er einen Fehler hatte,« erwiderte McManus, »und da er ja auch nur ein Mensch war, so muß er wohl welche gehabt haben – so beruhte sein Fehler höchstens in seiner außerordentlichen Freimütigkeit und Offenheit.«

»Und dennoch schleppte er manche Aktenstücke, bloß weil er keinen andern in sie einweihen wollte, eigens mit sich herum, trug sie vom Bureau nach Hause und von Hause nach dem Bureau und schloß sie sogar in seinen Privattresor ein? Wie erklären Sie das?«

McManus blickte sich um, ehe er antwortete, und dämpfte dann seine Stimme bis zum Flüstern herab, obwohl sie mitten im großen Bibliothekzimmer bei verschlossenen Türen saßen.

»Ich glaube, er hatte Furcht.«

»Furcht?« fragte Trafford, unwillkürlich seine Stimme ebenfalls herabdämpfend, »Furcht? Wovor?«

»Vor genau zwei Jahren fand er eines Morgens, daß sein Schreibpult im Bureau erbrochen und durchsucht worden war. Alle Papiere waren von unterst zu oberst gekehrt und Aktenbündel geöffnet und nachlässig wieder zusammengebunden worden. Die Gründlichkeit, mit der die Durchsuchung ausgeführt worden war, zeigte, daß der Betreffende eine ganz bestimmte Absicht dabei befolgt hatte, während der Umstand, daß eine bedeutende Summe Geldes, die im Pulte lag, unberührt liegen geblieben war, bewies, daß es sich hier um keinen Raub oder Diebstahl handelte. Wir taten alles, um den Schuldigen festzustellen, allein vergebens. Eine Zeitlang hatten wir den Bureauburschen im Verdacht, aber ohne positiven Anhalt, und Mr. Wing wollte nicht, daß ihm möglicherweise ein Unrecht geschehe und er unter solchen Umständen entlassen würde. Und so behielten wir ihn.«

»Und er wiederholte die Tat,« sagte Trafford in überzeugtem Ton.

McManus sah ihn erstaunt an, als frage er, woher ihm diese Kenntnis komme. Schließlich sagte er:

»Allerdings wurde die Tat wiederholt, aber unter Umständen, die es unmöglich machten, den Knaben zu beschuldigen. Er war gerade beurlaubt und fortgereist.«

»Wenig schlau von dem Täter, gerade diesen Zeitpunkt zu wählen. Sind Sie sicher, daß es jemand aus dem Bureau gewesen ist?«

»Ja. Aber wir haben ihn niemals feststellen können.«

»Und von dieser Zeit an trug Mr. Wing die wichtigen Akten bei sich und schloß sie in diesen Tresor?«

McManus nickte.

»Und das Pult wurde natürlich niemals wieder heimgesucht,« sagte Trafford.

»Woher wissen Sie …?«

»Wurde es denn?«

»Nein.«

Trafford nickte befriedigt und erklärte: »Wenn das Objekt entfernt war und der Dieb es wußte, dann hatte es selbstverständlich keinen Zweck mehr für ihn, noch einmal das Wagnis zu unternehmen.«

»Dann glauben Sie also, daß diese Papiere es waren, worauf er es abgesehen hatte.«

»Höchst wahrscheinlich.«

»Und daß die Entfernung der Papiere – –«

»Wings Tod zur Folge hatte,« vollendete Trafford.

McManus zögerte und wurde bleich.

»Mein Gott, Trafford, sehen Sie, wohin der Gedanke führt?«

»Ich sehe gut, was Sie denken. Sie denken, der Gedanke führt zu dem Schluß, daß Wing von jemand aus Ihrem Bureau ermordet worden ist, der seit wenigstens zwei Jahren dort arbeitet.«

»Nun,« widersprach McManus, »die Papiere können auch von einem andern, als dem, der den Mord beging, gestohlen worden sein. Vielleicht von demselben, der das Pult erbrach; aber deswegen braucht dieser durchaus nicht auch der Mörder zu sein.«

»Möglich, aber dann steckten die beiden jedenfalls unter einer Decke. Und je mehr Leute bei dieser Affäre beteiligt sind, um so mehr Aussicht auf Entdeckung haben wir. Gerade bei den Affären mit nur einem Täter irrt man sich am leichtesten.« –

Nachdem McManus gegangen war, stellte Trafford die Ergebnisse seiner dreiwöchigen Arbeit zusammen und fand, daß sie demütigend gering waren: ein Paket Papiere war verloren und nicht wiederzufinden, ein Unschuldiger war mit Verdacht belegt, eine Frau aus den ersten Kreisen als Mutter eines unehelichen Kindes erwiesen, ein Angriff gegen sein eigenes Leben war vereitelt, ein verwundeter Kanadier von der Erdoberfläche verschwunden, und ein geachteter Bürger stattete einem andern ebenso geachteten Bürger um Mitternacht heimliche Besuche ab.

Als er an den verschwundenen Kanadier dachte, kehrte seine Besorgnis zurück. Der Mann konnte unmöglich nach Kanada geflohen sein, und dennoch ließ sich nicht leugnen, daß er entkommen war. Nachdenklich begab er sich zu dem Fluß hinaus, um das Fallen des Wasserspiegels zu beobachten. Das Wetter war seit zwei Wochen trocken gewesen, und an der Ecke neben den Fällen zeigten sich bereits Felsen, die vor einer Woche noch unter Wasser gestanden hatten. An diesen trockenen und untiefen Stellen hatten sich allerhand Gegenstände abgelagert, und mitunter waren es recht merkwürdige Dinge, die das Wasser zurückließ. Er hatte bisher gezögert, eine Prüfung dieser Gegenstände vorzunehmen, doch nun glaubte er kein Recht zu längerem Zaudern mehr zu haben und traf alle Anstalten, das Flußufer und alle seichten Stellen von Millbank ab bis zur Fähre zu durchsuchen. Das war die letzte Aussicht, die er hatte.

Den praktischen Teil der Durchsuchung konnte er andern überlassen; für ihn gab es anderes zu tun, und bis spät in die Nacht hinein war er in seinem Hotelzimmer mit dem Gegenstand beschäftigt. Den ganzen Abend über dachte und dachte er und betrachtete es von allen Seiten, ohne die Lösung zu finden. Schließlich begab er sich zu Bett, in der Hoffnung, daß ihm vielleicht wie so manchem unter der magischen Einwirkung des Schlafes die Erkenntnis zuteil werden würde, die ihm beim Wachen versagt blieb.

»Ich kämpfe gegen meine eigene Überzeugung,« sagte er fast klagend, »statt daß ich mich ihr hingebe und ihr freien Lauf lasse. Ich kann keine Hilfe erwarten, solange ich dies tue, und dennoch kann ich nicht anders – ich will es nicht glauben! Und in solcher Stimmung kann man keine Rätsel lösen.«

So kam es, daß ihm die Nacht keine Hilfe brachte und er sich am nächsten Morgen ohne jenes Gefühl gehabter Ruhe erhob, das selbst der Schlummer einer Stunde einem zu verleihen vermag.

Gegen Mittag brachte ihm ein Landbursche zu Pferde Botschaft von einem sechs Meilen unterhalb der Stadt gelegenen Punkt. Der Botschaft Folge leistend, machte er sich zusammen mit dem Coroner und dem Arzt unverzüglich auf den Weg dorthin.

An einer winzigen Wiese, die sich wie ein grüner Streifen an einer Biegung des Flusses entlang zog, war etwas von dem zurücktretenden Wasser angeschwemmt worden und lag nun mit einem Lappen bedeckt als unkenntliche Masse da. Hinter der Wiese streckten sich hohe Bäume dem Junihimmel entgegen, vor ihr glitzerte der Fluß im Scheine der Sonne, und auf der andern Seite lag die braune Ackererde, mit dem Grün des jungen Korns gesprenkelt, in aller Schönheit des Frühsommers da. Ein paar Männer und Knaben umstanden den bedeckten Gegenstand in seltsamem Schweigen, das fast wie Furcht anmutete; aber dennoch drängten sich alle näher heran, als auf Befehl des Coroners das verhüllende Tuch entfernt wurde.

Trafford und der Doktor traten hinzu und nahmen eine genaue Untersuchung des abstoßenden Dinges vor. Niemand wagte lauter als flüsternd zu sprechen, und dennoch ging die Geschichte der Auffindung von Mund zu Mund. Schließlich erhoben sich die beiden Männer wieder und schritten zum Fluß hinab, um sich die besudelten Hände zu reinigen.

Der Coroner folgte ihnen.

»Was halten Sie davon?« fragte er.

»Er ist ein Kanadier – ich möchte sagen, ein Holzflößer,« versetzte der Arzt, »ein Arbeiter auf jeden Fall. Vor einer Woche ertrunken und von oberhalb der Fälle angeschwemmt worden. Das können Sie aus der Art ersehen, wie er zerschlagen ist. Als er mit dem Strom durch die Fälle gerissen wurde, sind ihm, wahrscheinlich durch den Anprall gegen die Felsen, mehrere Knochen zerschmettert worden. Nur der Bruch des Halsknochens rührt von einem Schlag her, den er vor seinem Tode von oben erhalten hat. Es ist möglich, daß dieser Schlag ihn in das Wasser geworfen hat. Wenn Sie nicht besondere Kennzeichen an ihm finden, werden Sie seine Identität nicht feststellen können. Sie tun daher gut, den Fluß hinaufzugehen und nachzufragen, ob einer der Flößer seit einer Woche vermißt wird. Aber ich bitte um Entschuldigung, Mr. Trafford, ich fürchte, ich nehme Ihnen das Wort aus dem Munde.«

»Oh, durchaus nicht,« erwiderte dieser. »Ich hätte nichts Besseres erdenken können. Nur wegen des Bruchs des Halsknochens war ich weniger sicher darüber, ob dieser vor oder nach dem Tode erfolgt ist. Wenn er zum Beispiel mit dem Kopf nach vorne die Fälle hinabstürzte, könnte er dann nicht gegen einen Felsen aufgeschlagen sein und sich hierbei den Bruch zugezogen haben?«

»Nein,« sagte der Doktor, »ich bemerkte eine Schwellung des Fleisches, die nicht hätte eintreten können, wenn der Schlag nach dem Tode gekommen wäre. Die Verletzung muß ziemlich lange vor dem Tode geschehen sein, um eine solche Wirkung hervorzubringen.«

»Dann kann es also kaum der Schlag gewesen sein, der ihn ins Wasser warf?«

Der Doktor stutzte bei der Frage und schritt, ohne zu antworten, zu der Leiche zurück und untersuchte den gebrochenen Knochen und einige der andern Verletzungen noch einmal. Dann kehrte er zu Trafford und dem Coroner zurück.

»Es steht außer Frage, daß der Bruch des Schlüsselbeins vor dem Tode geschehen ist und zwar um einige wenige Stunden. Der Mann ist dem Augenschein nach aus einiger Entfernung verletzt worden, hat dann ein Boot genommen, um Hilfe herbeizuholen, und ist nicht imstande gewesen, es zu lenken.«

»Dem Augenschein nach kann er alles mögliche getan haben,« widersprach Trafford ungeduldig, »wir müssen herausfinden, was er tatsächlich getan hat. Wie kam er zu dieser Verletzung und wie kam er dazu, nach dem Schlage zu ertrinken? Soll das alles nur durch Zufall geschehen sein? Dann hat er innerhalb eines lächerlich kleinen Zeitraums ganz ungewöhnlich viel Pech gehabt!«

»Meinen Sie,« fragte der Coroner etwas unruhig, »daß wir einen zweiten Mord aufzuklären bekommen haben, noch ehe wir mit dem ersten fertig sind?«

»Ich meine,« sagte Trafford, »daß es sich in diesem Fall als leichter erweisen wird, zwei Morde statt einen auseinander zu fädeln.«

Sie schritten langsam zurück und sahen in das Gesicht des Toten, das keine Menschenähnlichkeit mehr besaß. War dieser es gewesen, der auf der Millbanker Brücke so klagend geschrieen hatte: » Sacré, c'est moi, Pierre!?« Wenn dem so war, was war dann in den wenigen Stunden bis zu seinem Sturz ins Wasser geschehen? Wie war dieser Sturz überhaupt zustande gekommen? Wo war der Pierre, der den Schlag auf der Brücke getan hatte und der den Hergang des Sturzes mußte erzählen können? Alles dies waren Fragen, die in Trafford auftauchten und dringend eine Beantwortung verlangten.

Die Nachricht von der Auffindung der Leiche verbreitete sich schnell durch ganz Millbank, ohne indessen große Aufregung hervorzurufen. Es ertranken in jedem Jahre Menschen im Fluß; das Flößergeschäft war voller Gefahren und forderte in jedem Frühling seine Opfer. Die Leute zuckten die Achseln, fragten höchstens, ob er Familie habe, und dachten nicht viel mehr als: Ein Kanadier weniger auf der Welt. Ein einsamer Priester, arm und abgearbeitet, brachte die Nacht mit Gebeten für den Toten zu; denn diese Leute, die von Norden kommen, um den Fluß hinabzutreiben, sind fast ohne Ausnahme getreue Kinder der Kirche.

Trafford saß allein auf seinem Zimmer im Hotel. Er zweifelte nicht, daß dies derselbe Mann war, der den für ihn bestimmten Schlag empfangen hatte. Kampfunfähig wie er dadurch war, hätte er sich nicht verbergen und seiner Entdeckung und Feststellung zu entziehen vermocht, weshalb er eine Gefahr für seine Genossen bedeutete, die sich denn auch nicht gescheut hatten, den armen Burschen in den Tod zu schicken, um allen Folgen seiner Entdeckung zu entgehen. Sein Zustand war dazu angetan, selbst den Hartherzigsten zum Mitgefühl zu rühren. Getreulich hatte er versucht, das ihm aufgetragene Werk zu verrichten, und mußte nun, da es ihm mißlungen, den Tod für seine Treue erleiden. Wer war dieser schreckliche eine, der mit Morden spielte und sich selbst nie entdecken ließ?

Als Trafford auf diese Frage stieß, blickte er unruhig nach den Fenstern hinüber. Hier, in dieser selben Stadt, keinen Steinwurf von ihm entfernt, schlich der Mord umher, der ihn einst als sein Opfer gesucht und dann sein eigenes Werkzeug vernichtet hatte. Er fühlte dieses Unbekannte wie eine lauernde Drohung, als stünde es jederzeit bereit, ohne Warnung über ihn herzufallen, und fast zum ersten Male, seitdem er diesen Beruf ergriffen, wurde er sich eines persönlichen Furchtgefühls bewußt. Dieses unerbittliche, ungesehene Etwas erweckte in ihm den Eindruck, als stünde es außerhalb seines Gesichtskreises, als wache es über ihn mit ungesehenen Augen und lauere auf den Augenblick, wo es nach ihm schlagen könne.

Daß diese Leute, die zwei Morde begangen und einen dritten versucht hatten, vor nichts zurückschrecken würden, das stand für ihn außer jeder Frage. Zwei Jahre lang hatten sie über Wing gewacht und ihm nachgestellt, bis ihnen schließlich jedes andre Mittel, ihren Zweck zu erreichen, fehlgeschlagen war. Und als sie den Streich führten, da taten sie es mitleidslos und gründlich. Nun waren sie auf ihrer Hut, wie der Angriff auf der Brücke und diese perfide Ermordung des verwundeten Mannes bewiesen. Nachdem sie einmal so weit gegangen waren, würden sie sich jetzt sicher nicht vom Spiele zurückziehen. Zum Rückzug war es zu spät, und hatten sie bisher kein Gewissen gezeigt, so würden sie auch fernerhin keins besitzen. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, den er mit einem unsichtbaren Feinde führte. Er kam sich vor wie einer, der mit der Laterne in der Hand in die tiefe Dunkelheit hineintappt, um einen Schimmer von seinem Feinde zu erhaschen, von dem er weiß, daß er zu seinem Unheil auf der Lauer liegt.

*


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