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Drittes Kapitel.
Wach um Mitternacht

Eine Stunde nach Schluß des heutigen Verhörs saß Mrs. Parlin bei verschlossenen Türen und Läden in ihrem Wohnzimmer. Ihr gegenüber auf der andern Seite des kleinen Tisches, der die Lampe trug, saß ein etwas untersetzter Mann in sorgfältiger Kleidung, aber von unbedeutendem Äußern. Die Witwe war augenscheinlich von ihm enttäuscht.

»Ich habe Sie rufen lassen, Mr. Trafford,« sagte sie langsam und mit offenbarem Widerstreben, »weil sowohl mein Gatte als auch Theodor – Mr. Wing – das höchste Vertrauen zu Ihrer Fähigkeit hatten. Ich wünsche, daß Sie den Mörder Mr. Wings ausfindig machen. Auf die Kosten hierbei soll es mir nicht ankommen – ich wünsche bloß den Täter zu finden.«

Während sie sprach, wuchs ihr Vertrauen, und der Ton in ihren letzten Worten zeugte von ihrem Glauben, daß er das Verlangte werde leisten können. Nun brach sie ab, denn das Unscheinbare im Äußern des Mannes kam ihr wieder zum Bewußtsein und lähmte ihren Eifer.

»Wenn Sie mir den Fall anvertrauen wollen,« erwiderte er mit einnehmender Stimme, »so werde ich gern mein Bestes tun, um das Vertrauen Ihres Gatten und Mr. Wings zu rechtfertigen; aber lassen Sie sich von mir warnen. In meinem Beruf gibt es keine bequeme Landstraße. Ich besitze keinen Instinkt, der mich befähigt, einen Mörder oder sonstigen Verbrecher sozusagen zu wittern. Ich erreiche mein Resultat nur durch harte Arbeit, genaues Beobachten aller Einzelheiten und durch Ausdauer. Wenn ich die Sache übernehmen soll, muß ich zur Bedingung machen, daß nichts vor mir verborgen gehalten werde. Ich muß zum mindesten von denselben Kenntnissen als Basis ausgehen können, die Sie, meine Auftraggeberin, besitzen.«

»Ich habe alles, was ich weiß, vor dem Coroner ausgesagt,« erwiderte sie. »Und wenn ich nicht irre, haben Sie meine Zeugenaussage mit angehört.« Sie sprach voller Würde – fast Feindseligkeit lag im Klang ihrer Stimme.

»Allerdings hörte ich Ihr Zeugnis mit an,« sagte er, »aber sind Sie auch ganz sicher, alles gesagt zu haben, was Sie wissen? Oft wissen wir von Dingen, die nicht so feststehende Tatsachen sind, daß wir sie in einer Zeugenaussage miterwähnen dürfen.«

»Zum Beispiel?« fragte sie.

»Nun, vielleicht haben Sie eine Vorstellung von der Ursache, die diese Tragödie heraufbeschworen hat.« Es lag nichts Fragendes in seinem Ton; es klang, als könne gar kein Zweifel hieran bestehen.

Seine Sicherheit schien sie zu frappieren und eine neue Flut von Gedanken in ihr wachzurufen. Sie schwieg eine Weile lang, während er, sie scharf beobachtend, aber ohne Anzeichen von Ungeduld dasaß. Endlich blickte sie auf und sagte: »Sie irren sich, ich taste absolut im Dunkeln umher. Da ist nichts, was mich nach einer bestimmten Richtung weisen könnte.«

»Das ist an sich bedeutsam,« sagte er. »Es beweist uns, daß wir tiefer in das Leben dieses Mannes eindringen müssen, als bisher geschehen ist. Das Motiv zur Tat! Das ist es, das wir suchen müssen!«

»Motiv?« wiederholte sie, »da ist gar kein Motiv. Es geschah ohne Motiv. Es gibt Leute, die morden nur um des Mordes willen.« Und der Schmerz über das erfahrene Leid ließ sie voller Bitterkeit sprechen.

Er beugte sich über den Tisch, und in diesem Augenblick sah sie an dem Manne etwas, das sie vorher nicht bemerkt hatte – etwas, das wie ein Schimmer höherer Intelligenz aufblitzte und in demselben Augenblick auch schon wieder verschwunden war.

»Motivlose Verbrechen gibt es nicht,« sagte er. »Besonders in diesem Falle, dessen können Sie sicher sein, hat ein Beweggrund zu der Tat vorgelegen. Und ein furchtbarer Beweggrund ist es gewesen – furchtbar in seiner gebieterischen Kraft. Das werden wir bestätigt sehen, wenn wir das Motiv gefunden haben.«

»Aber was kann das Motiv gewesen sein – gegen einen Mann wie ihn?«

»Eben, weil er ein solcher Mann war, können wir mit Sicherheit ein Motiv annehmen. Unter andern Umständen hätte es ebensogut Richter Parlin treffen können!«

Dies letzte sagte er wie zufällig, aber die Wirkung seiner Worte war erschreckend. Mrs. Parlin wurde bleich wie vorhin bei der Frage des Richters, wann ihr die erste Kunde vom Tode Wings geworden sei, und Trafford erwartete einen Augenblick lang, daß sie umsinken würde. Aber sie war solch plötzlichen Überraschungen gewachsen und hatte die augenblickliche Schwäche bald überwunden. Dennoch waren ihre Lippen bleich, als sie stammelte: »Ich verstehe. Es hätte ebensogut Richter Parlin treffen können.«

Trafford schwieg, scheinbar erwartend, daß sie weitersprechen werde, doch als die Gesprächspause peinlich zu werden begann, fuhr er fort: »Mr. Wing sagte Ihnen, er habe noch einen Brief zu schreiben, bevor er zu Bett gehen könne. Hat er den Brief geschrieben?«

»Ich weiß nicht. Und das werden wir wohl auch nie zu erfahren bekommen.«

»Wir müssen es zu erfahren bekommen und zwar in sehr kurzer Zeit. Wer hat sein Zimmer an jenem Morgen als erster betreten?« Es lag etwas Entschlossenes in seiner Stimme, das sie veranlaßte, mit plötzlich erwachtem Interesse aufzublicken.

»Ich,« sagte sie; »Mary versicherte mir mit Entschiedenheit, daß sie es nicht wage, die Türe zu seinem Zimmer zu öffnen, bevor ich käme, und Jonathan stand draußen bei der Leiche.«

»War die Tür zu seinem Zimmer denn geschlossen?«

»Darüber habe ich keine Nachforschungen angestellt. Ich vermutete nicht, daß sie offen gestanden hätte.«

»Sie hat offen gestanden,« sagte Trafford mit Nachdruck. »Wing schritt, als die Glocke ertönte, ohne ein Licht in der Hand zur Türe hinaus. Natürlich ließ er dabei die Türe offen, damit das Licht der Zimmerlampe auf den Flur hinausfallen könne. Er wird die Tür ganz weit offen gelassen haben, um den vollen Schein der Lampe auszunutzen. Irgend jemand hat dann später die Türe geschlossen.«

Mary und Jonathan wurden herbeigerufen und ausgefragt. Der letztere bestätigte Mrs. Parlins Aussage. Nachdem er den toten Körper entdeckt hatte, war er über denselben hinweggestiegen, um sich von seiner vollständigen Leblosigkeit zu überzeugen. Dann aber, als ihm einfiel, daß man vor Eintreffen des Coroners an dem Körper eines Ermordeten nichts verändern dürfe, hatte er sich wieder erhoben und dabei deutlich gesehen, daß die Tür zur Bibliothek geschlossen war.

»Stand die Außentür denn weit offen?« fragte Trafford.

»Nein, Sir, nicht ganz. Nur so weit, wie Mr. Wings Kopf und Arm, die dazwischen geklemmt waren, sie offen hielt. Ohne diese wäre die Tür zugeschlagen.«

Nachdem die beiden gegangen waren, erklärte Trafford, daß er sich das Zimmer ansehen wolle, doch zog er es vor, dies allein zu tun. Er trat von der Haupthalle her ein, setzte sein Licht auf den Lampenteller, der auf dem Schreibpult lag, und stellte sich dann vor die Türe, die von der Seitenhalle hereinführte. Hier stand er, das Zimmer betrachtend, wohl zehn Minuten lang. Dann schritt er zu dem mäßig großen Geldschrank, der rechts vom Kamin stand und teilweise von Bücherregalen verborgen wurde.

Nachdem er ihn eine Weile lang prüfend betrachtet, unterzog er jeden Teil des Zimmers einer minutenlangen Untersuchung – auch das Löschpapier, das in der Schreibmappe auf dem Pult steckte; vorsichtig zog er es heraus und hielt es vor den Spiegel, um die Tintenabdrücke zu entziffern, deren Inhalt er dann in ein kleines Notizbuch eintrug. Dann läutete er und trug Mary auf, Mrs. Parlin zu ihm in die Bibliothek zu bitten.

»Lag diese Schreibunterlage bereits in jener Nacht hier auf dem Pult?« fragte er, als Mrs. Parlin eingetreten war, »und waren Sie die erste, die an jenem Morgen an das Pult trat?«

Als sie beides bejahte, fuhr er fort: »Und lag kein Brief auf dem Pult?«

»Nein.«

»Dann hat er also augenscheinlich den Brief, von dem er redete, nicht geschrieben?«

»Augenscheinlich nicht,« pflichtete sie bei.

»Dann muß er also ermordet worden sein, ehe er Zeit zum Schreiben gefunden hatte.«

»Es scheint so.«

»Und demzufolge bald darauf, nachdem Sie ihn verlassen hatten?«

»Es ist wohl kaum anders möglich, außer wenn er etwa seinen Entschluß, den Brief zu schreiben, hat fallen lassen.«

»Glauben Sie denn aus der Art, wie er zu Ihnen von dem Brief redete, den er schreiben wollte, entnehmen zu können, daß er später seine Absicht ändern würde?«

»Nein,« sagte sie, »ich verstand aus seinem Ton, daß es sich um eine wichtige Sache handelte, die keinen Aufschub duldete. Und er meinte bestimmt, daß ihm am nächsten Morgen keine Zeit dazu bleiben werde.«

»Dann wurde er augenscheinlich sehr bald, nachdem Sie ihn verlassen hatten, getötet.«

»Ich glaube auch.«

»Gut. Lassen Sie jetzt, bitte, Jonathan noch einmal holen.«

Als der Mietsknecht eintrat, blickte er sich verstört nach allen Seiten um, als ob er sich in diesem Zimmer recht unbehaglich fühle. Trafford schob ihm einen Stuhl zu und sagte plötzlich ohne jede Einleitung: »Beim nächsten Verhör werden Sie gefragt werden, um wieviel Uhr Sie an jenem Abend zu Bett gegangen sind. Was werden Sie dann zur Antwort geben?«

»Ungefähr um neun Uhr, es können fünf Minuten vor oder nach dem gewesen sein, mehr aber auch nicht.«

»So –! Und was taten Sie dann in jener Nacht um fünf Minuten nach zwölf in der Canaan Street?«

Oldbeg sah erschrocken auf, und in dem Blick, mit dem Mrs. Parlin die beiden Männer beobachtete, war ebenfalls Angst verborgen.

»Nun?« fragte Trafford in scharfem Tone. »Wenn ich herausfinden konnte, daß Sie dort gewesen sind, dann werde ich auch feststellen können, warum Sie dort waren. Aber ich möchte das doch lieber von Ihnen erfahren.«

»Ich kam vom Zwölfuhrzug nach Hause. Mein Vetter Jim Shepard war in jener Nacht nach Portland abgereist, um dort auf Arbeit zu gehen, und ich hatte ihn zur Station begleitet.«

»Passen Sie auf,« warnte ihn Trafford, »wenn Sie von der Station gekommen wären, hätten Sie durch die Somerset Street und nicht durch die Canaan Street gehen müssen.«

»O ja, o ja, aber sehen Sie, Sir,« erklärte der Mann, erfreut, etwas erzählen zu können, worüber er Bescheid wußte, »Jim hatte den Abend bei seinem Mädel, Miß Flanders, in der Canaan Street verbracht, und ich sollte ihn dort abholen; er kam aber so spät, daß wir auf dem gewöhnlichen Wege den Zug nicht mehr erreicht hätten, und so schnitten wir den Umweg ab, indem wir durch Grays Hof liefen, und kamen auf diese Weise gerade noch zur Zeit. Das ist alles. Wir mußten laufen, sollst hätten wir den Zug versäumt. Nachher ging ich statt durch die Somerset Street denselben Weg zurück.«

»Dann kamen Sie also aus der Canaan Street in die River Road, von da auf den Fahrweg und auf diesem hier ins Haus hinein?«

»Ja, Sir.«

»Dann müssen Sie ungefähr zehn Minuten nach zwölf zurückgekehrt sein.«

»Stimmt auf den Punkt,« rief Oldbeg aus, in höchster Verwunderung über den Scharfsinn des andern. »Stimmt auf den Punkt. – Ich sah nach meiner Uhr, und da war es genau zehn Minuten nach zwölf.«

»Und Sie müssen dicht an der Schwelle der Seitentür vorübergeschritten sein.«

»Ganz recht, Sir. In der Tat. Ich stieß mir sogar den Zeh daran, als ich vorbeikam.«

»Lag da Mr. Wings Leiche bereits darauf?« Die Frage klang kurz und befehlend.

»Aber nein, Sir! Glauben Sie, ich hätte dann bis zum Morgen gewartet, um Lärm zu machen? Mr. Wing war zu jener Zeit noch in diesem Zimmer hier.«

»So? Woher wissen Sie das?«

»Ich sah seinen Schatten auf dem Rouleau. Er schritt in diesem Zimmer auf und ab. Als ich vom Fahrweg kam, machte er gerade kehrt.«

»Warum sahen Sie ihn denn nicht selbst? Das Rouleau jenes Fensters war ja aufgezogen, als man ihn am Morgen fand.«

»Ja, freilich, aber als ich den Fahrweg herabkam, waren alle Rouleaus geschlossen; ich sah seinen Schatten darauf.«

Durch weitere Fragen war aus dem Manne nichts Besonderes herauszuholen, bloß eine Mitteilung erregte Aufmerksamkeit: als Vetter Jim sich auf das hintere Ende des Eisenbahnwagens geschwungen hatte, war ein andrer Mann, plötzlich aus der Dunkelheit auftauchend, auf das Vorderende desselben Wagens gesprungen. Jonathan wußte nicht, wer er gewesen war; er hatte auch kaum darauf acht gegeben, in der Angst, daß Jim nicht mitkommen würde. –

Als Jonathan gegangen war, wandte sich Trafford an Mrs. Parlin und fragte: »Wann, glauben Sie, beabsichtigte Mr. Wing jenen Brief zu schreiben, wenn er ihn selbst um zehn Minuten nach zwölf noch nicht geschrieben hatte?«

»Er muß – nach dem Gehörten zu urteilen – seinen Entschluß geändert haben,« antwortete sie.

»Augenscheinlich, ja,« sagte er.

Dann ging er zu dem hinterlassenen Bekenntnis des Richters Parlin über.

»Ich möchte Ihnen keine Pein bereiten,« sagte er, »aber ich glaube, diesen Punkt nicht fallen lassen zu dürfen, ehe ich näher darauf eingegangen bin. Hegen Sie irgendwelche Vermutung, wer die Mutter Theodors war oder ist, wenn sie noch leben sollte?«

»Nicht den leisesten Anhalt habe ich dafür,« erwiderte sie. »Aber ich denke, diese Sache ist genügend aufgerührt worden. Sie können die Wunde heilen lassen.«

»Gar nichts kann ich heilen lassen,« sagte Trafford. »Allerdings vermag ich nicht im entferntesten einzusehen, inwiefern das mit dem Mord zusammenhängen soll, aber das ist auch kein Grund, kurzerhand das Gegenteil anzunehmen. Jedenfalls muß ich diese Mutter ausfindig machen.«

»Wird Ihnen das auf den schwachen Anhalt hin, den wir besitzen, gelingen?«

Er lächelte. »Auf diesen Anhalt hin finde ich sie in einer Woche heraus. Ihr Gatte wünschte sie vor einer Entdeckung zu schützen, und wenn diese fatalen Umstände nicht eingetreten wären, würden wir gehalten sein, seine Wünsche zu achten. Aber wie die Sache liegt, muß ich die Identität dieser Frau feststellen. Ich hoffe, nichts zu finden, was mich zu weiteren Schritten in dieser Richtung veranlassen müßte. Inzwischen will ich die Schreibunterlage mitnehmen, und bitte Sie, dieselbe noch einmal genau zu betrachten, damit ich ganz sicher sein kann, daß sie wirklich Mr. Wings Eigentum war. Es ist dieses sehr wichtig, um jeden Irrtum auszuschließen.«

In diesem Augenblick trat Mary Mullin ein, um zu melden, daß Mr. McManus, den Trafford zu kommen gebeten hatte, zur Stelle wäre. Mr. McManus hatte während einer Reihe von Jahren unter Mr. Wing gearbeitet und bei seinem Chef das meiste Vertrauen von allen genossen. Seit dem Morde natürlich hatte er sich um seine eigenen Sachen gekümmert. Er war ein Mann von etwa dreißig Jahren, groß und geschmeidig, mit Geisteskraft und Willensenergie begabt.

»Ist Ihnen bekannt, welch besondere Verpflichtungen Mr. Wing für den elften dieses Monats hatte, so daß er diesen Tag einen besonders geschäftigen nannte?« fragte der Detektiv.

»Geschäftliche Angelegenheiten haben nicht vorgelegen, es müssen persönliche Verpflichtungen gewesen sein.«

»Haben Sie diesen Geldschrank am Tage nach dem Morde geöffnet?«

»Ja.«

»War er ordnungsmäßig verschlossen?«

»Soviel ich bemerkte, ja.«

»Ich gäbe hundert Dollars, wenn ich damals zur Stelle gewesen wäre,« sagte Trafford ernst.

McManus schaute ihn überrascht an.

»Sie hegen doch nicht etwa den Verdacht, daß hier Raub vorliege?«

»Ich hege überhaupt keinen Verdacht,« erwiderte Trafford etwas brüsk. »Verdächtigungen und Vermutungen vermeide ich von allen Dingen am meisten. – Es wäre mir aber angenehm, wenn Sie den Geldschrank noch einmal öffnen wollten.«

McManus kniete nieder, zog aus seiner Tasche ein Blatt Papier hervor, auf welchem eine Reihe Zahlen und Zeichen standen, und öffnete nach dieser Tabelle die geheime Schließmechanik der Tür. Im Innern des Tresors wurde eine kleine eiserne Türe sichtbar, um die sich mehrere Fächer mit hölzernen Scheidewänden befanden. Trafford ließ sich ebenfalls auf die Kniee nieder und besichtigte die Tür und vor allem das Schloß mit besondrer Genauigkeit. Dann wandte er sich an McManus und fragte: »Waren diese beiden leeren Fächer auf der linken Seite schon damals, als Sie den Geldschrank öffneten, leer?«

»Jedes Papier befindet sich in genau derselben Lage, in der ich es fand,« erwiderte McManus scharf. »Mein Beruf hat mich einiges gelehrt.«

»Und diese Tür?«

»War verschlossen wie jetzt. Hier ist der Schlüssel.«

Trafford öffnete die Tür, hinter der sich einige Päckchen Briefe vorfanden, die ungefähr die Hälfte des Raumes über der zu unterst liegenden kleinen Schublade ausfüllten.

»Haben Sie diese Briefe durchgesehen?«

»Nur soweit, um feststellen zu können, was sie betrafen. Sie beziehen sich auf gewisse Prozesse, mit denen Mr. Wing betraut war.«

»Und was befindet sich in der Schublade?«

»Sie haben den Schlüssel dazu. Nichts als einige unbedeutende Juwelen und Schmuckstücke.« Er sprach in empfindlichem Tone; es schien ihn zu ärgern, daß Trafford den Abstand zwischen einem Detektiv und einem Rechtsgelehrten außer acht ließ.

Trafford zog mechanisch die Schublade heraus, schloß sie wieder und zog aufs Geratewohl eines von den Briefpäckchen hervor. Legte es alsdann wieder zurück und schloß die Tür, die er ebenfalls sorgfältig betrachtete.

»Haben Sie eine Vorstellung, Mr. McManus,« fragte er darauf, »was das Motiv zu diesem Mord gewesen sein kann?«

»Nach meiner Ansicht ist das Verbrechen ganz ohne Motiv geschehen,« erwiderte McManus. »Ich kann mir nur denken, daß es die Tat eines Wahnsinnigen oder eines einfachen Lustmörders gewesen ist. Und ich halte es einfach für einen Zufall, daß gerade Mr. Wing und nicht irgend ein andrer ihm zum Opfer fiel.«

»An die Möglichkeit habe ich nicht gedacht,« meinte Trafford. »Glauben Sie, daß hier in der Gegend ein solches unglückseliges Geschöpf vorhanden ist?«

»Meines Wissens nicht; aber kann es nicht ein Fremder gewesen sein, der hier vorbeikam?«

»Hm – haben Sie je von einem jener Sorte gehört, daß er sich mit einem einfachen Totschlag begnügt hätte? Nein, alle derartigen Verbrechen sind durch Verstümmlung der Leiche gekennzeichnet. Daß in diesem Falle die Verstümmlung gänzlich fehlt, ist ein wichtiges Merkmal. Nebenbei eine Frage: War es in jener Nacht vom zehnten sehr windig?«

»Im Gegenteil: gänzlich windstill.«

»Nicht windig genug, um diese Türe hier zuzuwerfen?« und er wies auf die Türe zur Seitenhalle.

»Durchaus nicht.«

Trafford begab sich zu den verschiedenen Fenstern, zog die Vorhänge herab und setzte die Lampe auf das Schreibpult. Dann ging er hinaus und prüfte die Schatten auf den Rouleaus. Als er wieder eintrat, sagte er: »Ich werde auf einige Tage verreisen. Wollen Sie, Mr. McManus, währenddessen dafür sorgen, daß der Coroner das Verhör bis nach meiner Rückkehr vertagt. Solange wir kein Motiv zur Tat gefunden haben, wird es schwer fallen, den Verbrecher selbst zu finden.«

»So lange wie Sie mit der Sache beauftragt sind,« erwiderte McManus, »werde ich Ihren Wünschen folgen, aber Sie begreifen wohl, daß ich mich mit dem Mißlingen Ihrer Untersuchungen nicht zufrieden geben werde. Der Zweck Ihrer Bemühungen ist die Bezahlung, die Sie für die Entdeckung des Täters erhalten, der Zweck meiner Bemühungen, den Mörder zur Strafe heranzuziehen. Solange nun unser Streben in derselben Richtung geht, – –«

Trafford unterbrach ihn.

»Wenn dieser Fall in Ihre Hände gelegt wäre, dann hätten Sie ihn eben zu bearbeiten, nicht wahr? Nun ist er aber in meine Hände gelegt, und ich werde ihn, solange ich damit beauftragt bin, in meiner Weise behandeln. Das soll durchaus nicht besagen, daß ich einem guten Rat unzugänglich bin, es besagt bloß, daß ich über mein Vorgehen allein zu entscheiden habe.«

Die beiden Männer maßen sich einen Augenblick lang fast feindselig. Dann klärte sich McManus' Gesicht auf und er streckte ohne ein Wort der Entschuldigung die Hand aus: »Das stelle ich Ihnen frei. Und wenn ich zur Sache etwas beitragen kann, dann stehe ich zur Verfügung. Besuchen Sie mich, wann Sie wollen, bei Tag oder bei Nacht. Oder schreiben Sie wenigstens.«

*


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