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Zwölftes Kapitel.
Im Lager der Flößer

Zwei Tage später erhielt Trafford eine Botschaft, die ihn zu einer Fahrt den sogenannten Toten Fluß aufwärts, den er vor zehn Tagen überschritten hatte, veranlaßte. Nun aber waren die Lager, die er damals besucht hatte, schon verlassen, die Flößer waren weiter flußabwärts gezogen. An der Gabelstelle der beiden Flußarme traf er mit seinem Gehilfen zusammen, demselben, der ihn an jenem Morgen in Millbank gewarnt hatte. Sie hielten eine lange Beratung ab, bei der sie augenscheinlich verschiedener Meinung waren. Der Gehilfe war den Spuren zweier Kanadier, die am 12. Mai plötzlich die Arbeit verlassen hatten, von ihrem Lager bei Moosehead bis zu den Madisonbuchen oberhalb Millbank gefolgt. Und er war überzeugt, den einen dieser Männer, einen großen, kräftigen Burschen, unter einer der Arbeitergruppen, die am Toten Fluß flößten, festgestellt zu haben.

»Und der andre?« fragte Trafford.

»Von dem andern vermag ich keine Spur zu finden. Die beiden haben sich in Millbank – vielleicht noch vorher getrennt.«

»Und wie ist der Name dieses Burschen hier am Toten Fluß?«

»Pierre Duchesney.«

»Und der des andern?«

»Victor Vignon.«

Trafford sann kurze Zeit nach. »Das alles hat kaum einen Wert,« erklärte er. »In solcher Eile konnte kein entscheidender Plan gefaßt werden; der Mord war damals erst vierundzwanzig Stunden alt.«

»Aber sie sind nach Millbank gegangen, haben dort vier Tage lang in der alten Indianerhütte bei den Madisonbuchen gewohnt und sich während der ganzen Zeit nicht in Millbank blicken lassen. Dann ist der eine, ohne daß jemand weiß, wie, plötzlich am Parlinteich erschienen und hat sich von da nach dem Toten Fluß begeben. Er ist ein großer, stämmiger Bursche, während der andre nur von mittlerer Größe war.«

»Mag alles sein,« erwiderte Trafford, »aber ich sage Ihnen, wenn die beiden nach Millbank gerufen worden wären, so würde das vor Bekanntwerden des Mordes geschehen sein; – sie sind zu irgend einem andern Zweck nach Millbank gekommen, nicht zu dem, einen Mann, in dessen Händen man gewisse Papiere vermutete, zu überfallen.«

»Das ist richtig. Aber wenn sie auch zu diesem Zweck zu spät kamen, so waren sie doch zeitig genug zur Hand, um einen andern Mann anzufallen, in dessen Händen man die Papiere vermutete, nachdem man gefunden, daß sie inzwischen den Besitzer gewechselt hatten.«

Diese Ansicht überraschte Trafford, und er beschloß, sie in Erwägung zu ziehen.

»Gut. Solange wir hier sind,« sagte er, »wollen wir ein Auge auf Ihren Mann werfen.«

Der nächste Tag fand sie als Gäste des Flößerlagers oberhalb der ersten Stromschnellen des Toten Flusses. Trafford übernahm es sogleich, Pierre Duchesney heimlich bei der Arbeit zu überwachen. Es war ein riesenhafter, starkknochiger Kerl, dessen Schlag wohl imstande sein konnte, einen kleineren Knochen zu zerschmettern. Solch einen Mann inmitten seiner Freunde festzunehmen, daran war allerdings kaum zu denken, aber Trafford, der noch immer über die Identität des Mannes im Zweifel war, meinte, selbst wenn er ihnen diesmal entginge, würde von Vorteil sein, ihn auf eine Probe zu stellen, und so stimmte er dem Plan seines Gehilfen, eine gewaltsame Gefangennehmung des Riesen zu wagen, bei.

Die Leute lagerten um die brennenden Holzscheite herum, teils schlafend, teils rauchend oder plaudernd. Trafford, der sich mitten unter ihnen befand, sah dem Flackern der Flammen und der allmählichen Umwandlung der großen Holzstücke in Kohle zu. Die andern Fremden, die aus der Umgegend täglich das Lager zu besuchen pflegten, hatten schon vor einiger Zeit den Kreis verlassen. Unwillkürlich hielt Trafford seinen Blick auf die große Gestalt Pierres gerichtet, der mit geschlossenen Augen dicht neben dem wärmenden Holzfeuer lag und sich nach eingenommener Mahlzeit in behaglichem Halbschlummer von der Arbeit des Tages ausruhte. Plötzlich erklang aus der Dunkelheit eine scharfe, kanadische Stimme, die die Worte rief: » Sacré! C'est moi, Pierre!«

Ein jeder fuhr auf und blickte forschend nach der Stelle, von wo der Ruf ertönte; auf Pierre Duchesney aber waren die Worte von wahrhaft erstarrender Wirkung. Weitgeöffnet starrten seine Augen aus dem aschfahl gewordenen Gesicht, und wie von einem Fieberschauer geschüttelt, sprang er auf die Füße. Trafford, der ihn genau beobachtet und alle seine Bewegungen verfolgt hatte, war im selben Moment an seiner Seite, noch rechtzeitig genug, um die von bleichen Lippen gestammelten Worte zu vernehmen: » Mon dieu, Victor!«

Durch diesen Ausruf hatte er seine Identität verraten, und mit der Pistole in der Hand trat Trafford ihm entgegen und erteilte mit scharfer Stimme den Befehl: »Schnell, ergreift diesen Mann. Er wird als Mörder Victor Vignons gesucht!«

Bei dem Worte »Mörder« traten die Männer erschrocken aus dem Lichtkreis zurück. Wohl lebten sie frei und froh in ihren Wäldern und wenig in der Furcht des Gesetzes; mit Mord und Mördern aber mochten sie nichts zu schaffen haben. Die andern Gesetze Gottes und der Menschheit verletzten sie wohl hin und wieder, dem einen aber: Du sollst nicht töten – dem beugten sie sich. Und so starke Männer sie auch waren, sie blickten doch mit entsetzten Augen nach der Szene, und einige der tapfersten unter ihnen zitterten.

Auf Pierre aber wirkten die Worte wie ein Zauber; er war nicht minder blaß als vorher, doch jetzt leuchtete in seinen Augen der erwachende Trieb zur Selbsterhaltung, ein Blick lag darin wie in den Augen eines gejagten Wildes. Er versuchte keinerlei Ausflüchte, leugnete nicht, aber er raffte alle Muskeln zusammen wie einer, der zum Sprunge ansetzt.

Trafford, neugierig, welche Haltung die andern einnehmen würden, hielt die Pistole in Anschlag und rief mit klarer, scharfer Stimme: »Ergib dich, oder ich schieße! Hände hoch!«

Er fühlte mehr als er sah, daß am Rande des Lichtstreifens sein Gehilfe stand, ebenfalls den Mann mit seinem Revolver deckend. Letzterer machte eine Bewegung, als ob er dem Befehle, die Hände hochzuheben, folgen wolle; doch plötzlich schlug er mit einer Geschwindigkeit, die ihm keiner zugetraut hätte, auf Traffords Arm, daß dieser steif herabflog und der Schuß in die Erde ging. Zugleich mit dieser Bewegung duckte er sich halb nieder, auf diese Weise dem Schuß des andern entgehend. Und in so gebückter Haltung stürzte er dem verbergenden Schatten der Bäume zu – allein doch nicht schnell genug, um seinen Arm vor dem zweiten Schuß des Gehilfen zu bewahren. Trafford hatte inzwischen den Revolver in die Linke genommen und feuerte nach dem fliehenden Schatten, bis er verschwand. Beim zweiten Schuß hörte er den Gehilfen an seiner Seite sagen: »Nun kennen wir ihn; aber er ist uns entkommen.«

»Ihm nach in den Wald! Ihm nach in den Wald!« schrie Trafford, einen brennenden Fichtenholzspan ergreifend. »Schnell, schnell, wir können ihn noch ergreifen.«

Aber niemand außer Trafford rührte ein Glied, und er selbst machte nur ein oder zwei Schritte. Zurückblickend, sah er die Flößer mit erregten Mienen und heftigen Gestikulationen beisammen stehen, und ihr Aussehen verkündete nichts Gutes. Vor ihm lag die undurchdringliche Finsternis der dicken Bäume – er erkannte, daß der Mann entkommen war.

Inzwischen hatten sich die Männer aus der Erstarrung ihrer ersten Überraschung aufgerafft und eine gefährliche Haltung angenommen. Daß es nicht zu tätlichen Ausschreitungen kam, erzielte Trafford nur dadurch, daß er sich ihnen zu erkennen gab und ihnen die nötigen Erklärungen erteilte. Sie hörten ihn geduldig, aber recht gleichgültig an, und ihre Kühle stand in merklichem Widerspruch zu der Freundlichkeit, die sie ihm noch vor einer Viertelstunde erzeigt hatten. Sie verweigerten Trafford und seinem Gehilfen die weitere Gastfreundschaft nicht, aber sie machten ihnen fühlbar, daß sie unwillkommene Gäste im Lager seien. Und mit Ungeduld und voller Unruhe erwarteten die beiden den Anbruch des neuen Morgens, nicht allein von dem Wunsch beseelt, ihre mürrischen Gefährten zu verlassen, sondern auch von dem Drange, das neu erworbene Material zu verwerten.

Sie hatten sich nach dem hastig eingenommenen Frühstück kaum eine halbe Meile von dem Lager entfernt, als aus dem Wäldchen, das sich zwischen der Fährte, die sie verfolgten, und dem Flußufer hinzog, ein Bursche von etwa sechzehn Jahren, den sie in der vorigen Nacht im Lager gesehen hatten, hervorkam und ihnen nacheilte. Er war augenscheinlich den größten Teil des Weges gelaufen, ängstlich darauf bedacht, wieder im Lager zu sein, bevor seine Abwesenheit entdeckt wurde. Die Unterhaltung mit ihm wurde teils auf Englisch geführt, das er nur unvollkommen sprach, teils auf Französisch, wobei Traffords Gefährte als Dolmetscher fungierte.

»Victor Vignon ist mein Vetter,« erklärte der junge Mann. »Sie sagten vorhin, er wäre ermordet – tot?«

Trafford nickte.

»O nein,« widersprach der andre, »er ist nach dem großen See gegangen.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?« fragte Trafford.

»Pierre – Pierre Duchesney. Als er neulich zurückkam, sagte er: Victor ist nach dem großen See gegangen.«

»Unsinn, – er hat ihn getötet – ertränkt im Flusse bei Millbank, wo die großen Fälle sind.«

»Aber warum soll er ihn getötet haben?«

»Hm, wer hat Ihren Vetter und Pierre Duchesney veranlaßt, überhaupt nach dem großen See zu gehen?« fragte Trafford, und sein Gefährte wiederholte die Frage, da der Bursche sie augenscheinlich nicht verstand, auf Französisch.

Sein Gesicht leuchtete auf, als er seine Muttersprache hörte, und von nun ab redete er meistens auf Französisch.

»Der Boß,« antwortete er.

Der Boß, so erklärte er auf Befragen, habe gesagt, »der große Herr« lasse Pierre und Victor holen; sie seien daraufhin auch nach der Gabelungsstelle des Flusses gegangen, um dort auf eine andre Arbeitergruppe zu stoßen, aber diese sei zu jener Zeit schon weitergezogen gewesen, und so wären Pierre und Victor wieder entbunden worden von ihrer Arbeit; Pierre sei dann zurückgekehrt und habe ihm erzählt, daß Victor nach dem großen See gegangen sei, um dort Arbeit zu finden. Der Bursche wußte nicht genau, wohin Victor gezogen war, aber er meinte, daß er ihn zu Johanni – wenn sie sich nach Beendigung der Flößerei zur Rückkehr nach Kanada rüsten würden, wiedersehen werde.

»Der große Herr,« erklärte er weiterhin, »wohnt weiter flußabwärts noch hinter den großen Fällen; ihm gehören alle Wälder ringsherum, und durch den Boß sendet er immer Geld zu unserer Bezahlung. Seinen Namen weiß ich nicht, aber er ist ein sehr großer Herr – der größte, den ich gesehen habe.«

»Noch größer als der Boß?«

»Aber gewiß. Den Boß benutzt er ja bloß zum Geldüberbringen, während er selbst alle Wälder besitzt. Seinen Namen weiß ich nicht, wie ich schon sagte, aber den kann Ihnen ein jeder nennen; er besitzt ja sämtliche Wälder, auch der Boß weiß seinen Namen. – Aber nun muß ich zurück, denn der Boß darf nicht merken, daß ich fort gewesen bin; er würde sehr zornig werden und mir den Lohn verkürzen. – Le bon dieu, was wird Victors Weib sagen, wenn ihr Mann wirklich tot sein sollte! Das kann der gute Gott und die heilige Anna ja gar nicht zulassen, daß er tot ist, wo er doch ein Weib und drei kleine Kinder hat und das vierte im Sommer kommen soll, wie er mir selbst erzählt hat. Sie müssen zugeben, daß Victor gar nicht tot sein kann, und wenn Sie ihn sehen, dann sagen Sie ihm, daß ich – Etienne Vignon – dies gesagt habe und auf ihn bei den großen Fällen warten werde, um zusammen mit ihm nach La Beauce zurückzukehren.«

Nach diesen Worten stürmte er in den Wald, um seinen Rückweg nach dem Lager anzutreten.

Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, ertappte sich Trafford dabei, daß er beinahe geseufzt hätte.

»Dieser Teil der Affäre liegt so klar zutage wie die Nase in Ihrem Gesicht,« sagte er. »Hunter hat diese Männer holen lassen, er hat sie nach der Gabelungsstelle geschickt unter dem Vorwand, daß dort Arbeit für sie sei, und ihnen dorthin Nachricht gesandt, daß sie sich nach der Hütte hinter den Madisonbuchen begeben sollten.«

»Hunter?« fragte der Gehilfe.

»Nun natürlich. Wer soll denn sonst »der große Herr« sein, der nach der Ansicht dieses einfältigen Burschen sämtliche Wälder besitzt? Er wußte seinen Namen nicht, aber wir kennen ihn um so besser: Charles Hunter aus Millbank.«

»Dann ist er also mit am Morde beteiligt?«

»Hm, wenn Sie die undurchsichtigen Dinge ebenso klar durchschauen können wie die durchsichtigen, dann übertreffen Sie uns alle an Weisheit,« erwiderte Trafford. »Wenn Hunter am Morde beteiligt gewesen wäre, dann würde er auch gewußt haben, wo sich diese Papiere befinden, und dann brauchte er jene Leute nicht zu bemühen. Seine verzweifelten Bemühungen, die Papiere auf anderm Wege zu bekommen, beweisen, daß er nicht der Mörder ist.«

»Aber jedenfalls ist Charles Hunter der Mann, der Grund hat, diese Papiere zu fürchten.«

»Er ist einer von ihnen,« sagte Trafford. »Das weiß ich schon seit langem.«

»Aber wenn die Leute, die diese Papiere zu fürchten haben, nicht diejenigen sind, die Mr. Wing ermordeten – ja, wie rechnen Sie sich dann ein Motiv zu dem Morde heraus? Das ist der Punkt, über den wir uns die ganze Zeit den Kopf zerbrochen haben, und nun, da wir endlich einen festbekommen haben, ist's doch schade, daß es in nichts zusammenfallen soll.«

Trafford lachte und sagte: »Hüten Sie sich vor dem Schema F. Diese Lektion haben Sie immer noch nicht begriffen. Ich sagte vorhin, Hunter wäre einer von denen, die die Papiere fürchten. Ich habe mithin nicht behauptet, daß außer ihm keine andern mitinteressiert sind. Und hieraus folgt durchaus nicht, daß die Leute, die die Papiere zu erlangen wünschten, gerade diejenigen waren, die sie zu fürchten hatten. In Verbindung mit den Papieren kann es ein Dutzend Umstände geben, die das Motiv zum Morde gebildet haben – ganz abgesehen von der Furcht vor den Papieren.«

Nachdem sie eine Weile schweigend verbracht hatten, wandte sich der andre an Trafford und fragte: »Wußten Sie damals, als Sie mich den Kanadiern um ganz Millbank herum nachjagten, bereits, daß Hunter mit beteiligt war an dieser Sache?«

»Gewiß,« erwiderte Trafford, »ich wußte es bereits eine halbe Stunde nach dem Angriff, den man auf mich bei der Brücke machte. Aber warum fragen Sie?«

»Nun, Hunter war gerade einer von denjenigen, bei dem ich am besten Auskunft über die Kanadier, die ich suchte, zu erhalten glaubte.«

»Es ist niemals empfehlenswert, bei irgend einem Erkundigungen einzuziehen, wenn man nicht haben will, daß bald jedermann davon weiß. In diesem Fall allerdings war es ganz gut, daß Hunter erfuhr, daß wir ihm auf der Spur sind. Er ist einer von denen, die gerade dann, wenn sie in Angst geraten, die meisten Fehler machen.«

*


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