Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.
Ein Mann ist verschwunden

Trafford sandte McManus kurze Nachricht, daß er die Durchsicht der Briefe verschieben müsse, und machte sich bereit, die Blockholzflöße längs des Kennebek zu besuchen. Es stand fest, daß kein Arzt in Millbank eine gebrochene Schulter oder einen zerschmetterten Arm in vierundzwanzig Stunden wieder einrichten konnte, mit einem der Züge war auch kein Mann mit solch einem Kennzeichen von dannen gezogen; der Fluß bot die einzige Möglichkeit, unbeachtet zu entfliehen. Ein Kanu oder das Boot eines Flußschiffers konnte leicht kommen und gehen, ohne daß jemand acht darauf gab, und es stimmte auch mit andern Anhaltspunkten überein, daß die Angreifer mit den Holzarbeitern in Verbindung standen. Ein weiterer Punkt war, daß es unter fast allen großen Arbeitergruppen jemand gab, der im Doktern eine gewisse Geschicklichkeit besaß, kleinere Unfälle zu kurieren und sogar bei ernsteren Verletzungen, wenn man wegen der Entfernung zu keinem Arzt gelangen konnte, helfend einzugreifen verstand. Solch ein Mann konnte dringendenfalls sogar die Schulter oder den Arm eingerichtet und für das Nötige gesorgt haben, bis man in Norridgewock oder weiter flußaufwärts einen Arzt erreicht hatte. Zurzeit befanden sich die Blockholzflöße alle oberhalb Millbank. so daß Trafford seine Nachforschungen nur in jener Richtung anzustellen brauchte.

Jeder Schuljunge oder Farmerbursche ist ein wandelndes Adreßbuch für sämtliche Holzflöße auf fünf Meilen in der Runde, und Trafford erfuhr somit ohne Schwierigkeit, daß das nächste Holzfloß bei den Bombazeerips lag. Hier fand er auch richtig eine Anzahl Männer vor – wie gewöhnlich ein Dutzend – die mit Booten und den Gerätschaften ihres Handwerks das Zusammenkeilen der Blöcke mit andern, die auf Grund geraten waren, zu verhindern strebten. Genau die Hälfte der Leute waren französische Kanadier, kleine, dunkle Männer von wunderbarer Geschmeidigkeit und Behendigkeit, Männer von einer Lebenszähigkeit, die allen Gefahren ihres Gewerbes Trotz bot. Tags gab es harte Arbeit, nachts einen Schlaf auf hartem Lager, oft in Kleidern, die vom Flußwasser vollgesogen waren. Aber dennoch tat sich ihre gute Laune durch das fröhliche Geplauder kund, das bei jeder Arbeitspause einsetzte.

Eine grob zusammengezimmerte Hütte aus fichtenen Brettern, deren Fußboden reichlich mit Stroh beschüttet war, diente als Schlafraum, während davor ein gewaltiges Holzfeuer brannte, das zum Wärmen während des Abends und zum Kochen während des Tages diente. Ein alter Holzfäller, der seine Fahrtzeiten hinter sich hatte, fungierte als Koch und hatte die allgemeinen Besorgungen für das Lager zu versehen. Eine Menge Knaben standen und tollten um das Lagerfeuer, die Hütte und die Boote. Die älteren krochen wagehalsig auf die Blöcke hinauf und gingen auch hin und wieder einem der Flößer zur Hand, indem sie ihm eine Picke oder einen Haken reichten, was den Betreffenden dann für den ganzen Tag zu einem Helden unter seinen Kameraden machte.

Für einen Landsmann, als welcher Trafford erschien, war es statthaft, in den Schlafraum der Hütte einzutreten oder sich an das Feuer zu setzen. Und zur Essenszeit erwartete er mit Sicherheit zur Teilnahme an dem derben Mahle eingeladen zu werden, ein Vorrecht, auf das die Knaben mit nicht geringem Neide sahen. Diese Knaben waren für Trafford unbewußte Spione, von deren Augenschärfe er viel erwartete. Sie lungerten überall umher und sahen alles, und wenn es in einem Lager einen verletzten Mann gab, so konnte das kaum ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein.

So plauderte er denn fröhlich mit dem Koch und scherzte mit den Knaben, wobei er erklärte, daß seiner Meinung nach das Holzflößen das gefährlichste Gewerbe sei. Auf diese Äußerung hin erhoben nun freilich die Knaben ein lautes Spottgelächter und konnten nicht genug Worte finden, den Beruf in den Himmel zu heben. Ein jeder von ihnen wollte nichts andres als Holzflößer werden.

Der alte Mann dagegen gab die Gefahren des Holzflößens zu und erzählte seinen Hörern wahre Schauergeschichten, die er während seiner langjährigen Fahrten miterlebt hatte; auch Todesfälle, teils durch Ertrinken, teils durch Quetschung zwischen eingekeilten Balken, waren vorgekommen. Auf dieser Fahrt hatte man freilich bis jetzt keine Unfälle erlebt, nur hin und wieder mit dem Wasser zu kämpfen gehabt. Doch bei den Millbanker Fällen wurde es ein ander Ding; dort gab es eine starke Stromschnelle, und wenn man im Laufe der nächsten Woche dorthin kam, konnte man sich auf einen harten Kampf gefaßt machen. –

So begab sich Trafford von einem Lager zum andern. Und nirgends war eine Spur von einem verletzten Manne zu entdecken. Kam er in die Nähe eines Dorfes, so fragte er regelmäßig die umherstehenden Jungen aus, aber trotz alledem kam er schließlich erfolglos und niedergedrückt den Fluß wieder hinab. Er hatte das Gefühl, als habe er eine Niederlage erlitten und als stehe in jedem Lager einer und lache ihn als den Geprellten aus. Die Unvernunft dieses Gefühls war ihm wohl bewußt, aber dennoch konnte er sich dessen nicht erwehren.

Auch als er schließlich Millbank erreichte, war vom untern Teil des Flusses her oder von einem der Ärzte auf dreißig Meilen in der Runde, bei denen er hatte anfragen lassen, keine Nachricht gekommen. Es war, als ob sich die Erde geöffnet und den Mann verschlungen habe oder – und sinnend stand er über den Fällen und sah dem stürzenden Wasser zu, als ob er es befragen und ihm eine Antwort entreißen könne. Eins stand jedenfalls fest, daß ein Mann, dessen Persönlichkeit er leicht erraten konnte, verschwunden war. Und er bemühte sich vergebens, die Unruhe, die wie ein Alpdruck auf ihm lastete, von sich abzuschütteln.

Gleich nach seiner Rückkehr suchte Trafford Mrs. Parlin auf und bat sie um eine Unterredung. Die Zeit, zu der ein neues Verhör stattfinden sollte, nahte heran, und bis jetzt war seit der letzten Vertagung keinerlei Fortschritt gemacht worden. Sogar er war ungeduldig geworden und fand es daher nicht erstaunlich, daß eine Frau von solch nervöser Veranlagung schnell reizbar gemacht war.

»Wir haben kein Recht,« sagte sie, »einen unschuldigen Mann unter Verdacht zu lassen, wie es mit Jonathan geschehen ist. Wenn wir auch den Mörder nicht finden, dann sollten wir wenigstens beweisen können, daß er es nicht ist.«

»Leider wird ihn, bevor wir den richtigen Mann gefunden haben, die Mehrheit für schuldig halten,« erwiderte Trafford.

»Welches Recht hatten Sie, den Verdacht auf ihn zu lenken?« fragte sie.

»Es war meine Pflicht, dem Coroner alles mitzuteilen, was mit dem Fall in Zusammenhang steht. Ich hatte gar nicht das Recht, Oldbegs Kauf des Revolvers und die Auffindung der Waffe zu verheimlichen.«

»So. Warum lag denn die Waffe nicht schon am Morgen des elften da?« fragte sie.

»Verehrte Frau,« erwiderte er mit leisem Lächeln, »wenn wir das wüßten, dann wüßten wir auch, wer der Mörder ist. Freilich möglicherweise nicht so, daß es erweislich wäre.«

»Dann hülfe es uns herzlich wenig,« erwiderte sie.

»Oh, in neunundneunzig von hundert Fällen gelingt ein solcher Beweis schließlich doch. Es gibt nur wenige, die so geschickt sind, jede einzige Spur zu verwischen.«

»Dieser scheint aber zu den wenigen zu gehören,« sagte sie.

»Nun, wir werden ja sehen,« erwiderte er und fuhr dann plötzlich fort: »Ist der neue Detektiv, den Hunter und seine Freunde genommen haben, schon hier gewesen?«

Dies war in der Tat der Fall. Er hatte das ganze Haus vom Keller bis zum Boden durchsucht, die Papiere, die auf dem Pult und im Tresor lagen, durchstöbert und einige von den letztern an sich genommen.

»Aber die Schreibunterlage hat er nicht bekommen?« fragte Trafford.

»Nein, und das ärgerte ihn nicht wenig, besonders als ich ihm sagte, daß Sie sie genommen hätten.«

»Zum Teufel – haben Sie das gesagt? – Ich wünschte, Sie hätten es nicht getan.«

»Ich hatte kein Recht, etwas zu verbergen.«

Trafford biß sich auf die Lippen, doch machte er keine Einwendung mehr. In diesem zweiten Detektiv sah er ein ernsteres Hindernis als in der List des Verbrechers – wenn nicht etwa die List des Verbrechers selbst diesen zweiten Detektiv in Bewegung gesetzt hatte. Beim unabhängigen Arbeiten ließ es sich kaum verhindern, daß sie sich immer wieder entgegenarbeiteten. Er hatte das Empfinden, daß der Fall ihm gehörte und daß kein andrer von Berufs wegen ein Recht besaß, sich hineinzumischen. Hätte er schon am Rande des Erfolges gestanden, dann wäre er zurückgetreten, doch so, wie die Sache lag, verbot ihm sein Berufsstolz, diesen Weg einzuschlagen.

Wohl zum zwanzigsten Male fragte er: »Pflegte Mr. Wing mitunter auch einen Teil seiner Amtssachen hier zu Hause zu erledigen? Und brachte er dann auch die zugehörigen Papiere mit?«

»O ja,« sagte sie, »er hatte stets ein Päckchen Geschäftspapiere bei sich.«

»War das schon immer seine Gewohnheit gewesen?«

»Nein,« erwiderte sie. »Zu Lebzeiten des Richters tat er es nie und bis vor zwei Jahren auch nicht. Erst seit diesen zwei letzten Jahren war es seine Gewohnheit.«

»Hat Cranston Sie auch über diesen Punkt befragt?«

»Nein,« sagte sie, »darüber nicht.«

»Wenn er es tun sollte, dann antworten Sie ihm wenn möglich nicht.« Er brach ab, als glaube er zu weit gegangen zu sein, und sie, seine Verlegenheit bemerkend, unterdrückte die Antwort, die sie auf den Lippen hatte.

Er saß eine kleine Weile schweigend da, dann sah er auf und begegnete ihrem Blick, der fragend auf ihn gerichtet war.

»Was gibt's?« fragte er.

»Haben Sie schon mit Mr. Hunter gesprochen, – ich meine mit dem, der in Theodors Bureau arbeitete?«

»Gehört er zu derselben Familie wie Mr. Hunter, der Inhaber der großen Holzfirma?«

»Er ist dessen Bruder.«

»Wie lange ist er im Bureau tätig gewesen?« fragte er gleichgültig – so gleichgültig, daß sie nicht darauf achtete, daß er ihre Frage unbeantwortet gelassen hatte.

»Ungefähr zweieinhalb Jahre. Soviel ich weiß, hielt Theodor große Stücke auf ihn und hatte viel Vertrauen zu seiner Fähigkeit.«

»Ein trefflicher Beweis dafür,« sagte Trafford, um nach einer kurzen Pause fortzufahren: »Mrs. Parlin, bei dem letzten Verhör gaben Sie in entschiedener Weise Ihr Vertrauen zu erkennen, daß die hinterlassene Urkunde wirklich von der Hand des Richters herrührt. Haben Sie seitdem irgendwelche Ursache gehabt, Ihre Meinung zu ändern?«

»Nicht die geringste,« erwiderte sie. »Im Gegenteil, die darin verzeichnten Tatsachen erklären mir manches, was mich vordem befremdete.«

»Gut, aber mit dem Morde können diese Tatsachen doch unmöglich etwas zu tun haben. Der einzigen Person, die sie sonst noch kannte, lag nur daran, sie verborgen zu halten. Selbst zugegeben, daß sie imstande war, ihren eigenen Sohn zu töten oder töten zu lassen, würde sie ihren Zweck dann durch einen Mord zu erreichen suchen, der das Interesse des ganzen Staates erregen mußte? Freilich wußte sie nichts von der Existenz eines solchen Dokuments und sie konnte auch nicht ahnen, daß durch den Mord diese Tatsachen enthüllt werden würden, aber sie mußte sich sagen, daß er selbst die Tatsachen kennen, an ihrer Veröffentlichung ein Interesse haben und diese bereits längst vorbereitet haben konnte. All diese Erwägungen führen mich zu dem Schluß, daß die Tatsachen, von denen das Dokument handelt, keinen Zusammenhang mit dem Mord haben. Diese Ansicht wird auch durch andre Tatsachen, auf die ich inzwischen gestoßen bin, bestätigt. Ich habe noch zu keinem Menschen davon gesprochen, nicht einmal zu McManus; und niemand außer Ihnen soll davon zu hören bekommen – nicht einmal McManus. Zuvor aber will ich noch eine andre Frage, die nach meiner Ansicht auf die Ursache des Mordes Bezug hat, berühren: wenn Mr. Wing zwei Jahre lang viele von seinen Geschäftspapieren mit nach Hause nahm, befand sich dann nicht eins davon am Morgen nach seinem Tode auf seinem Pult oder in seinem Tresor?«

»Auf seinem Pult oder im Tresor?« wiederholte sie, und Schrecken sprach aus ihrem Blick. »Aber gewiß! Natürlich. Ein ganzes Pack Papiere lag auf seinem Pult, als ich ihm gute Nacht sagte.«

»Würden Sie es wiedererkennen, wenn Sie es sähen?«

»Ich denke, ja.«

»Wollen Sie dann, bitte, nachsehen.«

Er öffnete den Geldschrank, und sie sah ein Paket nach dem andern durch. Geduldig wartete er, bis sie fertig war und aufblickend sagte: »Es ist nicht hier.«

»Um neun Uhr abends am 10. Mai war es noch da, am 11. morgens nicht mehr. Wie erklären Sie sich das?«

»Es ist gestohlen worden,« hauchte sie bleich und verwirrt.

»Es kann auch eine andre Möglichkeit vorliegen,« wandte er ein, »und wir müssen damit rechnen. Mr. Wing kann die Papiere verbrannt haben. Er hatte Feuer an jenem Abend.«

»Ja,« sagte sie, »das ist allerdings möglich.«

»Nun, was diesen Punkt betrifft, so habe ich mich darüber an jenem Morgen vergewissert. Freilich nicht, weil ich an ein Verschwinden von Papieren dachte, aber in der Gewohnheit, auch die kleinsten Umstände zu beachten. Und ich kann Ihnen versichern, daß an jenem Abend keine Papiere im Kamin verbrannt worden sind. Es wäre ein genialer Streich des Diebes gewesen, wenn er im Kamin zum Schein einige Papiere verbrannt hätte, um uns von der richtigen Fährte abzubringen.«

»Des Diebes!« wiederholte sie.

»Oh,« sagte er, »Sie müssen einsehen, daß jeder Diebstahl einen Dieb zur Voraussetzung hat. Ich hegte von vornherein die Überzeugung, daß jemand nach geschehenem Morde hier im Zimmer gewesen ist. Mit welcher Absicht, das habe ich erst jetzt erfahren. Es ist jemand gewesen, der diese Papiere brauchte – sie so nötig brauchte, daß er sich zum Morde gezwungen sah. Und während der Tote draußen auf der Schwelle lag, hat er das Zimmer betreten und den offenstehenden Tresor durchsucht. Es war dies ein furchtbares Wagnis – ebenso furchtbar wie der Mord selbst. Wie, wenn Oldbeg eine halbe Stunde später nach Hause gekommen wäre? Er würde zweifellos den Ermordeten außen und die Mörder drinnen entdeckt haben. Durch den kleinen Zeitunterschied ist dieses verworrene Geheimnis entstanden, das sonst nichts als ein einfaches Verbrechen gewesen wäre.«

*


 << zurück weiter >>