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Die christliche Gemeinschaft

Das »Ich« und »Du« sind auch im religiösen Bereich dem Grundgesetz unterworfen, wie darin sich ja alle natürlichen Gesetze vergeistet parallelisieren, die symbolische Durchordnung der Stoff- und Geistwelt bestätigend, so daß man geradezu in dieser immer zur Probe nach dem Gleichnis der Naturordnung fragen kann.

Das »Ich« trachtet nach Einzelung, ist aber vom »Du« unlösbar. Warum soll das innerwesentlichste menschliche Begebnis, das religiöse nicht unter der natürlichen Spannung vor sich gehen?

Zweifellos ist die Erlösung, das ist Stellung unter das Gnadenlicht zunächst persönliches, mystisches Erlebnis. Am Einwesen geht der Eintritt des Wunders vor sich. Erlösung wird Erwählung.

Indes Gott, der Erlösende, wirkt durch die Liebe. Liebe aber ist Teilung. Gott-Liebe darum Allhin-Teilung. Erlösung geschieht so nur in der Gemeinschaft, nur als an einem Glied, als an einem Sinnbild dieser. Sie wird etwas Eigenstes und Gemeinsames zugleich, Erwählung und Einordnung.

Die Paradoxie des metaphysischen Doppelvorgangs birgt freilich wunderbareres Geheimnis als jenes irdische Vergleichsgesetz. Sie ist autonom und heteronom in tiefster Kreuzung, in ihr erscheint magisch die Harmonie der Kontraste, welche sich wiederum aus der unfaßbaren Wirkung der Religio ergibt, sonst aus keiner unserer menschlichen Gaben.

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Auch psychologisch bindet das Bewußtsein, transzendent (in der Religio) verbunden zu sein, automatenhaft das immanente Bewußtsein. Ja es macht dieses durch die Bindung erst wesenhaft und objektiv, zum Zustand. Also ist gleichfalls vom menschlichen Bedürfnis aus Gemeinschaft Ausdruck des Heilerlebnisses: im »Ich«-»Du« kommt der erlösende Hereingriff des Dritten.

Hier in dem Knüpfpunkt geschieht, worauf die Gedankengänge dieses Buches zustrebten. Jetzt stellt sich das durch die Liebe gelöste Einwesen dar, welches zugleich das durch die Liebe verbundene Gemeinwesen ist.

Der Drang und Zwang, welcher den Menschen zugleich in sich bannt und von sich treibt, das widerstrebige Naturgesetz ist beglichen auf der Gesetzesebene der metaphysischen Versöhnung.

Wir sehen den reinen Wert des »Ich« im reinen Wert des »Du« und erfahren, daß beider Wert ein Wert geworden ist im übergeordneten DRITTEN, im EINEN.

Nun erst kommen wir auf den an sich keineswegs verständigen Sinn des Gebots:

»Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.«

Denn im Gesetz der Liebe ist er du, und du bist er. Liebst du ihn, so liebst du dich, liebt er dich, so liebt er sich. Gibst du ihm, so gibst du dir, gibt er dir, so gibt er sich.

Auch negativ: sündigst du wider ihn, so sündigst du wider dich.

Und nun kommt der innerste Binnenlaut des wundersamen Christenworts hervor: Bruder, Schwester. Wir sind verwandt worden, auch wenn wir einander gar nie mit Leibesaugen sehen, tiefer als mit Mutterblut verzwillingt im Blut des Mittlers zum Vater.

In dieser höher geordneten Sippung werden auch die grausamen Stellen des Matthäus 10, 34-37 und Lukas 26 mild, jene Worte von Haß und Verlassung der Familie.

»Es gibt kein Mittel, Gott zu sehen, als das, ihn in seinen Kindern zu suchen … Aller Gottesdienst ist Dienst der Kinder Gottes, welche man liebt, weil man den Vater zeigen will, wie sehr man ihn lieben möchte.«

Lagarde.

Ein Zeichen dünkt es, wenn man liest, in der sonst vorbetont ichpersönlichen, mystischen protestantischen Glaubenslehre verschiebe ein Dogmatiker, Martin Rade, den Schwerpunkt christlichreligiösen Ereignisses auch auf den Nächsten und setze in den Angelpunkt seines Werkes den Satz:

»Wäre das die Quintessenz des christlichen Glaubens: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott? Ich leugne nicht, daß man Gott so haben kann. Aber den Christengott nicht. Die Theologie, die Dogmatik, auch die Predigt hat kaum begriffen, um was es sich hier handelt. Wie es sich um Gott handelt, wo wir nur vom Nächsten sprechen müssen. Wie es Gott, unsern Gott, nicht gibt ohne den Nächsten. Natürlich redet die Theologie vom Nächsten, denkt an den Nächsten, zum mindesten in der Ethik. Aber das ist viel zu spät. Der Nächste ist schon im Gottesbegriff

Wahrhaft hier sitzt das Siegel. Nur muß immer gleich organisch jene Wechselwirkung auf das Wunder eingeschlossen werden, welches dem »Ich« aus dem Nächsten magisch verbindend geschieht.

In der Liebe Gottes sind Beide Eins, ganz Eins, und Einer ist Beide, ganz Beide.

Wer ahnt da auch den mysterienhaften magischen Sinn des Abendmahls, in seiner Bedeutung für den Einen und für Alle? Es ist das Testament der Liebe, die immerwährende Trostspende der Religion im Leib der Liebe, welcher ist Christus.

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Das Mysterium greift tiefer. In dieser Gemeinschaft sind wir auch mit den Toten verbunden und sie mit uns. Unser sterbliches Auge sieht nicht hinein, aber wir spüren und wissen das vergeistigte Geschwisterreich um das unsere her walten, im Wunder der unsichtbaren Liebe. Die Gemeinschaft der Heiligen, sonst gedeutet nur auf die lebendigen Gläubigen, erweitert sich um einen Gnadenring: das Saumbegebnis des »Zwischenraumes« wirkt.

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Und siehe: Der Christ ist kein Stückwerk mehr. Durch die Bergung im Ganzen ist er selber ganz: Die magische Figuration des Ganzen, ja dessen Erfüllung. Christus selber wird von urchristlichen und gnostischen Schriften »der Mensch« genannt, als der sakrale Inbegriff. In ihm wird unser Teilwesen ins Einwesen gefügt, das Glied in des »Menschen« Leib. Welch ein Kreislauf!

»Daß Ihr, in der Liebe verwurzelt und begründet, begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe.«

Der durch das Evangelium in den Mittelpunkt Gesetzte sieht den Kreis, er ist vom Gesetz der Liebe umkreist. Der religiöse Kosmos der Agape entspricht dem natürlichen Kosmos des Eros. Agape ist wiederum im Logos aufgegangener Eros. Das zu erfahren, wird dem Menschen geschenkt.

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Das in die Gottesliebe gebettete Gebot der Nächstenliebe muß einmal die Welt beherrschen. Denn es ist die innerste und höchste Bewußtwerdung dessen, was den Menschen aus der Natur aussondert. Das Bewußtsein des Bewußtseins, das Wissen um sein Selbst, das Wissen um den Tod, das Wissen um das Geschlecht, das Wissen um Zeit und Raum, um den relativen Zweck und die Nutzbarkeit der Dinge, ja das Wissen um die Geistigkeit seiner Art und um den geistigen Urgrund der Welt wäre nur ein kalter toter Schatz ohne das Sinngebende jener heiligsten Satzung. Sie gibt die Perle, deretwegen der Kaufmann alles Kleinod und alle Habe verkauft. Und auch sie verlangt, daß wir um ihre eine Gabe etwas »verkaufen«, daß wir uns selber hingeben, um uns ganz zu besitzen.

Und seltsam jene höchste innerste Bewußtwerdung reicht uns im psychologischen Zirkel der Religio unsere Natur wieder zurück, das metaphysische Kontinuum unserer empirischen Geistigkeit. Wir sind durch sie nicht mehr nur als Wissende, sondern als Seiende Geist-Wesen geworden.

Wir gingen durch die Ehrfurcht hindurch und finden unsere rein erneute, erleuchtete Naivität wieder, den Sonnenzustand des Liebedaseins.

Welch ein Wunder wird nun das »Ich«, welch ein Wunder das »Du«! Eines im Andern seines Wertes bewußt, zu sich selber emporgehoben? Die letzte Lüftung des Prinzips der Individuation geschieht, dessen religiöse Aufhebung und reinste Wiedergewinnung.

Was wird in diesem Verwebnis die Einsamkeit, die beata Solitudo? Man versteht, daß ein Mensch in sie gehen kann, darin verstummen kann für sein Leben. Er lebt doch in der seligen Gesellung mit dem ganzen Christenwesen und spendet das Gebet, das Opfer seiner Abgeschiedenheit in diese hinaus.

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Und die Gemeinschaft wird die Wesensform des Christentums.

Wer wagt noch ausschließlich oder zuerst an sich als das ausgewählte Gefäß des heiligen Geschehnisses zu glauben? Wem schießt das Gefühl, von diesem begnadet zu sein, nicht herrlich und gewaltig zusammen in das Gefühl der seligen Teilung und gegenseitigen Schenkung. Ins Wissen, daß aus einem Segensbrot Fünftausend gespeist werden und Körbe übrig bleiben.

Ja hier darf man wiederum und im letzten Ring sagen, daß es sich im höchsten Begriff bei jenem Geschehnis gar nicht mehr um die Erlösung handelt, sondern um den Eingang in die Liebe.

(Man denke dabei noch einmal an den im Vorigen angedeuteten Sinn dessen, was die katholische Bußlehre »vollkommene Reue« heißt.)

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Sören Kierkegaard, der auch alle Paradoxe des Christentums in sich ausgestritten hat, meint einmal: Niemand könne sagen, die Rechtfertigung sei an ihm geschehen, wohl aber am Nächsten. Der Widerspruch löst sich in der Wechselgnade des »Ich« und der Gemeinschaft. Ein Heiliger (als durchgeführtes Beispiel) würde, vor die Wahl gestellt, aus Liebe für den Andern in die Hölle gehn.

Der christliche Mensch ist in den großen Strom des religiösen Lebens genommen, in das gemeinsame Licht der Liebe gestellt, jeder ein Lichtkern der Liebe, beschienen vom andern, diesen bescheinend, ein Sternsystem der Lichtkerne, welche alle wieder von dem innersten der Lichtkerne bestrahlt, durchstrahlt und angezogen werden. Gewiß fließt unbewußt daher das große Gefühl, welches uns gleichnishaft unter dem Gestirnhimmel ergreift, nicht aus der Vorstellung der unausdenkbaren Räume. Daher wird der armen makelhaften Kreatur das Vertrauen, welches ihr der Glaube bestätigt.

Wie Gott die Welt in der creatio continua erhält, erhält sich die Liebe in immer währender Selbstgeburt. Sie ist das »Leben«, welches Gott von sich in die Welt gegeben hat. Und alles Leben kehrt durch sie im Kreis zurück in seinen Grund.


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