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Der Erbgeist

Die Erbgemeinschaft des Menschen hat sich auch gleichsam einen Erbgeist geschaffen, ein Kategorium übereinzelner Brauchbarkeit und doch vom Einzelnen zu verwenden. Denn die Individuation wird dadurch nicht aufgehoben, vielmehr bereichert. Einen Figurenkasten des Gedankenspiels (gegen – zusammenspielend, thetisch – antithetisch, analytisch – synthetisch), Steine zum Prüfungsgesetz der Logik, zum Baugesetz der Dialektik, zum Bausinn des Logos. Das semen naturale hat es Descartes geheißen.

Nicht aus dem abstrakten Ich, sondern von hier, aus dem immerhin geheimnisvoll aufgereihten Ich – Du – Denkvorgang, stammt jenes ohne Zerfall bestehende geistige Allmendgut, welches dem demütigen Auge ein unübersehbares Schatzgewölbe ist. Es gleicht in stoffloser Erscheinung dem unsterblichen Allmendgut, welches als Zelle das organische Leben gebiert. Ja, nicht nur Vergleich, sondern Wechselwirkung lagert in beiden.

Thomas weiß davon. Für Platon ist Erkenntnis das Wiedererinnern des in der Vorexistenz Geschauten. Vielleicht handelt es sich um eine mitgebrachte philogenetische Lagerung der Denkelemente. Von hier aus kommt wohl auch, was neuere Philosophen die »Intuition« nennen.

Man muß annehmen, dieses Gut bringe der Mensch schon angelegt in sich mit, wenn auch seit Locke solche Anlage bestritten wird und die Seele bei der Geburt als tabula rasa erscheinen soll.

Die Erfahrung, welche die Erkenntnis bedingt, ist wohl nur wie der Druck auf die Taste der Auslösung. Das Kind entnimmt durch sie die rasch wachsende Summe der Begriffe eben den Vorformen seiner Erberkenntnis. Wer hat schon einmal ganz das Rätsel bedacht, wie der einzelne Menschengeist sich das aufgehäufte Geistesleben der Gezeiten in die kurzer Spanne seiner Tage eineignet. Vermöchte er das Alles durch die Mechanismen der Erfahrung, die Kamera der Augen und die Platten der Wahrnehmung, Gestaltung, Bewahrung im zerebralen Hintergrund? Brunnen der Neugier springen im Kind über die Dinge, kaum gesichtet sind diese Besitz und legen sich in die Truhe der Erinnerung. Der Spieltrieb ist fortlaufende Eroberung der Erscheinung. Die hat einen Zauber an sich, gleich als wäre schon ein geheimnisvoller Zusammenhang da, als ginge im Kindesgeist eine unterbewußte Begegnung vor sich. Auch wenn das Kind ausgesetzt würde und keines Menschen Stimme hörte, läge das Samenpfund in ihm, nur reizlos tumb und unaufgedeckt. Ja hier gewiß liegt vorgeburtlich das, was wir individuelle Begabung heißen; diese stammt aus einem von dem damit bedachten Einwesen zu schöpfenden Quell der Bewußtwerdung. Begabung für Sprachen, Mathematik, Technik, Malerei. Es ist das Zwillingsgeschwister des Erbwillens. Das sogenannte »Wunderkind« tritt auf. Aber alle Kinder sind Wunderkinder.

Ähnlich darf man sich vielleicht beim Verderb der Hirnrinde die funktionelle Störung des Gedankenschaltwerkes denken. Die Taste versagt, nicht die Letter. Gerade im Irrenhaus kommen grandiose, dem normal logisch gebundenen Hirn unerreichbare Fragmente einer Vorstellungswelt zutage, Bruchstücke von Denkbauwerken erstaunlicher konstruktiver Ausmaße. Deren Herkunft müßte einmal von den Positivisten natur-kausal aus dem Befund des denkenden Leiborgans restlos erklärt werden. Bedeutungsvoll ist dabei wohl, daß das plastische Denken, die Anschauungskraft länger bewahrt bleibt, als das logische, ja oft noch in kühnen Konjekturen wächst, während dieses sich auflöst. Der Inhalt hält sich, die Formalie schwindet.

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Aus ungestörter Gedankenwerkstatt läßt das Genie etwas von diesem chaotischen Thesaurus ins Licht; es wird darum gern mit dem Geisteskranken in Verwandtschaft gebracht. Darf man sagen, auch da sei nur eine hypertrophisch veranlagte, pathologisch wuchernde Reizbarkeit der Nervensubstanz die Ursache?

So tritt die an sich gewagte Frage auf, ob der Geist ohne jene regulativen Bindungen der »Logik« nicht wirklich etwas Größeres, Lichthafteres sei, als uns durch die (eben in der Norm umhängten) Schleier zur Erscheinung gelangen kann. Wir alle ahnen es, wie auch wir in unserem scheinbar hüllenlosen Erkenntnistag noch einen Traum im Traum herumtragen als nicht ganz Erwachte. Eine tiefere Parallelschicht der Erkenntnis, davon unser Bewußtsein nur Vorzeichen ist, deren Innewohnendes uns noch nicht sein Gesicht gezeigt hat, geschweige sein Antlitz.

Eine zweite geistige Welt deutet sich an, welche durch ihren Saum nur jene im versachlichten Gedankenraum lebensfähigen Bilder hindurchläßt, doch manchmal auf der Schwinge der Ahnung, der Erleuchtung, des Hellgesichts einen Boten hereinschickt. Indes der Weg unserer Betrachtung geht nicht in den »okkulten« Bereich.

Ob wir nicht wirklich einen zweiten Geistleib haben? Den etwa auch das Christentum mit der Auferstehung des Fleisches meint?

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Dieweil ist schon die Enzyklopädie des Menschenwissens ein zusammengeronnener Besitz unseres magischen Gemeinwesens Mensch, des Ich – Du, Du – Ich in der unabsehbaren Reihung.

Ich sitze ruhig und denke (zufällig) an eine Stelle aus Jean Paul: »Kannst du vergessen in der dunklen Stunde, daß es große Menschen gab und du ihnen nachziehst? Erhebe dich durch die Geister, die auf den Bergen standen. Rufe dir zurück die Thronfolge der Weisen und der Dichter, welche Völker nach Völkern begeistert und erleuchtet haben!«

Und ruhig sitzend sehe ich die Gerufenen, Einen um den Andern, sehe ihn und das Werk seines Wortes, das Eigentümliche seines Systems, seiner Innen- und Außenform, abgegrenzt, zusammengefaßt in einen Gedankenreif, ja in einen sinnhaften Reiz. Kaum eine Minute tritt jeder in meiner Einbildung Raum, und in einem Wort, in einem Reimklang gibt er mir all seiner Weisheit Worte, all seiner Dichtung Reime. Sie kommen, gehen; dann aber spüre ich die Dagewesenen wie ein Wesen, unsagbar beglückt, rein und groß.

Die Turmuhr hat noch nicht die Viertelstunde geschlagen, seit der feierliche Zug der erhabenen Besucher in den armen Wänden meines Kopfes vor sich ging. Aus tausenden Jahren zu mir hergekommen in einen Sonnenstreifen, welcher noch nicht über mich weggewandert ist seitdem; aus allen Ländern der Erde eingetreten in das mit einem Hut bedeckbare Beingehäus meines Schädels. Wer, wer gab mir dieses zum heiligen Saal solcher Empfänge?

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Auch der Analphabet ist unentfaltet jenes Besitzes teilhaftig und (gereifter Widerspruch) in höchster Art der zur »docta ignorantia« des Nicolaus Cusanus Gelangte, welcher den Schatz wieder in sich zusammengefaltet hat gleichsam als still leuchtenden Zustand.


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