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Scham

Jene Einsicht, welche uns das geschlechtliche Erlebnis als mittelstes und tiefstgreifendes zeigte, als Schoß des Schicksals, beleuchtet auch den seltsamen von der Sitte darum gelegten Schleier. Die Scham hat es zum eigentlichen und einzigen Geheimbesitz gemacht. Ja, der zwar abgeleitete aber bedeutendere Teil der erotischen Macht kommt aus ihr her.

Das Zeichen der äußersten Hingabe des Einwesens umgibt sich mit dem Gürtel innerster Bewahrung. Des Blutes Wallung ist zum Wächter bestellt vor dem Schatz des Selbstgefühls.

Nichts offenbart unsere Welt der naturgesetzten Widerspiele so wunderbarlich und gleichnishaft. Es ist das unterbewußte Wesenszentrum, wo die Menschheit mit der Forderung ihres unzerbrechlichen Bestandes in das zerbrechliche Individuum einbricht. Der Erleidende erfährt den Herabgriff des Seins in das Werden. Er kann nichts von gewaltigerer Bedeutung erfahren. Der göttliche Goldregen in den Schoß der Danae fallend ist ein nicht zu hoch gesehenes Sinnbild.

Scham und Verhüllung sind der Vorhang vor dem Begebnis. Daß beide nur beim Menschen sich einstellen, ist auch eines der Zeichen von dessen Berufung. Das Tier weiß (wie nichts vom Tod) auch nichts von der Kette des Geschlechtes, nichts von dem Gemeinschaftswunder der Gattung, welches in seiner triebhaften Dienstleistung geschieht.

Man kann die Urgeschichte des Kleides auf leichtem rationalistischen Weg deuten als eines klimatischen Schutzmittels, kühne entwicklungstheoretische Phantasie vermöchte vielleicht gar zu sagen, es drücke sich darin ein atavistisches Heimweh nach verlorenem Tierpelz aus. Und zum dritten wurde in jener naturgesetzlichen Grundparadoxie aus dem Behelf der Scham das Hilfsmittel der Lockung.

Allein auch hier läuft das Band der Herkunft zurück zum urreligiösen Zustand. Die Verhüllung des Heiligtums im Sakraldienst, ältestes Symbol der kultischen Ehrfurcht, ist Geschwister des Leibgewandes.

So im griechischen Mysterium ging die Zeremonie auf Bedeckung und Bergung aus. »Me in thalamum clam insinuavi – ich habe mich heimlich ins Brautgemach geschlichen«, hieß etwa die Losung phrygischer Orphik. Und im Eleusis nahm der Einzuweihende »es aus der Kiste, tat es in den Korb und wieder zurück in die Kiste«. Das Geheimnis der Menschwerdung umschlossen durch die letzten Geheimnisse des Kultes.

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»Da wurden ihrer beider Augen aufgetan und wurden gewahr, daß sie nackend waren, flochten Feigenblätter zusammen, und machten sich Schurze.«

Mit der Sünde kam die Scham. Die Legende führt in die Primitien des seltsamsten seelischen Komplexes der Menschheit. Die Erkenntnis des Risses zwischen Gott und Mensch drückte (ein Wechseltausch rätseltiefer Bedeutung!) ihr tragisches Stigma auf das Geschlecht, die Trennung von Gut und Bös warf ihr Scheidewasser in dieses hinein.

»Und Gott, der Herr, machte Adam und seinem Weibe Röcke aus Fellen und kleidete sie.«

Die Scham war die Mitgabe, das Angebind in die Welt. Ja sie war der Schutz des Eros selber, auf daß dieser zur waltenden, gestaltenden Macht der Menschengesellschaft wurde, nicht zur auflösenden. Und die »Individualität« zieht im Grund aus ihr Schattierung wie Form, ihr persönliches Reservat, ihre »Eigenart«. Scham im allgemeinen Sinn ist deren Bildnerin und Bewahrerin.

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Wer des Geschlechtes Geschichte schreiben wollte, müßte nicht so fast seine aktiven Äußerungen aufzeigen als die ihm von der Scham umlegten Hemmungen, welche ganz aus dem Grund stammen, wo Eidos und Hyle sich suchen, finden und fliehen.

(Hier wären die Kapitel vom Verzicht einzufügen, von der einmaligen nicht erfüllten Liebe, welche das betroffene Wesen für immer in sich verschließt oder zum Opferleben der Menschenliebe führt, von der heroischen Treue, von der religiösen Enthaltsamkeit. Der Verzicht kann zum reicheren Besitz werden, als der Zugriff, und stilles Wesenslicht. Die unausgegebenen Kräfte des Eros setzen sich geheimnisvoll um. Der Heilige hat das Zeichen dieser Wandlung auf der Stirn. Sankt Franziskus etwa kommt auf uns zu. Und der HERR selber steht im hohen reinen Schein.)

Durch das scheinbare Negativ fällt der Blick in die Kammern aller Kultur, je nachdem es schwand und wuchs, schwand und wuchs deren Kraft. Scham, Geschwister der Ehrfurcht, ist das unwägbarste der Kulturfluide, das Geheimfaszinans der Liebe, ihr Pneuma.

Damit käme von selber wiederum der metaphysische Kern zutage, das zwiespältig an die Einheit geknüpfte Weltbild.

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Beispiel: Ilja, Leo Tolstois Sohn, erzählt von seinem Vater:

»Ich werde ein Gespräch mit ihm nie vergessen: er saß in meinem Zimmer, in Moskau, an meinem Tisch und schrieb. Ich war zufällig ins Zimmer gekommen, um mich umzukleiden. Als er meine Schritte hörte, fragte er, ohne sich umzusehen: ›Ilja, bist du es?‹ – ›Ja.‹ – ›Bist du allein? Schließ die Türe. Jetzt wird uns niemand hören, und wir sehen uns auch nicht, wir brauchen uns also nicht zu schämen. Sage mir … hast du schon Beziehungen zu einer Frau gehabt?‹ – Als ich ihm antwortete: »Nein, noch nicht‹ – ich war damals achtzehn Jahre alt – hörte ich plötzlich, wie er zu schluchzen und zu weinen anfing wie ein kleines Kind. Ich weinte auch – und wir beide vergossen lange Zeit, durch die Schirmwand getrennt, gute Tränen, und wir schämten uns nicht, und es war mir so wohl zumute, daß ich diesen Augenblick zu den glücklichsten meines Lebens zähle.«


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