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Die Lücke

Man kann jenes Bindemittel, das zugleich Trennmittel ist, Coagulans, Nexus, Copula, Eros nennen. Wenn alles am Gang der Welt zu erklären wäre, hier bleibt das Problem, das nicht aufgehende und doch die Rechnung schließende, das Irrationale. Nicht in der Erscheinung, nicht im Ding, nicht im Ich und Du, nicht im Gut und Übel, in Lust und Leid, im Leben und Tod. Was an diesen dem Auge der Erkenntnis fehlt, fehlt von dem Rätselpunkt her. Nicht in Gott gesondert und nicht in der Welt gesondert sitzt das Rätsel.

Hier gilt es, die Schuhe auszuziehen und Goethes Wort zu sprechen: »Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« Der Christ: sagt »zu glauben«.

Der Punkt, worin das Göttliche sich mit dem Geschaffenen, das Unabhängige mit dem Abhängigen, das unbedingt Andere mit dem bedingt Anderen berührt, ist die Wunderstätte der Weltidee, der Idee der Ideen.

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Michel Angelo hat in der Sixtina die Erschaffung des Menschen gemalt. Adam liegt nackt auf der nackten Erde, Gott Vater fliegt im Mantel (schon Eva bergend) aus dem Raum auf ihn zu und streckt den Zeigfinger der Rechten nach dem Zeigfinger seiner Linken aus. Der Angerührte erwacht beseelt zum Leben.

Doch nein, es ist keine Berührung. Zwischen dem Finger des Schöpfers und des Geschaffenen blieb ein kleiner Raum.

In dieser kaum beachtbaren Lücke ging dieses Buches staunendem Schreiber das Gesicht des Bildes und des Gesetzes auf.

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»Re-ligio« hat hierhindurch das darum unfaßbare Band ihres Namens hängen. Hier gehen die Ereignisse des Menschengeistes und der Menschenseele vor sich, wie der seelisch-geistigen Menschengemeinschaft. In dieser Lücke.

Da über ihnen unerreichbar die Einheit steht, sie aber in der Spaltung sind, so geschieht das an ihnen gleichfalls im zweipolaren Merkmal alles Geschöpflichen, in Zug und Gegenzug, in Hingabe und Hinnahme, in dauernder Sehnsucht und dauernder Abwehr, in Furcht und Beglückung, in Licht und Schatten.

Es ist auch um Gott ein Kampf, der Kampf der Entscheidung, weil in ihm der ungeschiedene Frieden ist. Jenes »Heimweh«, das doch bewegt, in der Regung des Werdens mitgeführt ist, trägt in sich zugleich den Rücktrieb nach des Ausgangs Ruhe. »Mein Herz ist unruhig, o Gott, bis daß es ruhet in Dir!«

Das Pathos der Menschheitsgeschichte wird um dieses nicht betretbare, immer anziehende Zwischenfeld der einig-uneinigen Kräfte erlitten.

»Ihr werdet sein wie Gott!« … »Wohlauf lasset uns einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche!«

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Ja das böse Prinzip, die Schattensäule im Wechselschacht hat hier seinen Sitz, Ahriman, Satan, das Dämonium, wie in der Lichtsäule das Eudämonium. Auch im letzten Vorraum vor dem Sitz des EINEN streiten φιλια ϰαι νεϰσος.

»Und werdet wissen, was gut und böse ist«. Man könnte aus der Stelle der Genesis die Ur- und Endfrage herausstellen: Warum ist zwischen Schöpfer und Geschöpf jene Lücke im Bild Michel Angelos?

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Das Widerspiel geht auch durch des Menschen Gottes-Dienst. Majestas und Amor, König und Vater, Rächer und Sühner, Richter und Begnadiger, Schauriger und Holder, Gewaltiger und Sanfter, Verborgener und Offenbarer, Äußerster und Inwendigster, Unaussprechlicher und Umkoster, Unnahbarer und Anziehendster.

Vielleicht wird uns vor Ihm stehend plötzlich gleichnishaft kund, warum wir auch leiblich zwei Augen haben, deren rechtes zudem im linken Bildnerv wirkt und umgekehrt.

Die Kreatur und das Kind, das Abgestoßene und Umarmte, das Staunende und Entzückte, das Erstarrte und Schmelzende, das Beraubte und Beschenkte, das Fluchende und Opfernde, das Erbärmliche und Geliebte steht, kniet an dem Saum des Mysteriums. In allen Gebärden und allen Lauten ihres verschiedenen Wesens. Kein Gemälde und keine Symphonie vermöchten die endlose immer abgehackte und immer geknüpfte Kette der an der heiligen Grenzscheide Hingescharten zu schildern.

Der Papua, vor dem Donner sich hinwerfend, der Australneger, den Atem des Toten einfangend, der Kaffer den Fetisch schnitzend, der Priester formgemessen die sakrale Liturgie sprechend, der Betrachtende im stummen Grund versunken, der Anbeter im hymnischen Lobpreis jauchzend offenbaren sich vor dem Zwiebild der unbegreiflichen Macht und der unbegreiflichen Liebe, dieweil dieses Zwiebild doch nur in ihrem irdisch-himmlischen Zwiespalt erscheint. Das zerknirschteste Aschenhaupt wird inmitten der Schauer, ausgehend von dem Glanz des Erhabenen, linden Hauch spüren. Der in Vermählungswonne stammelnde Mystiker hat sein tiefstes Erlebnis vielleicht doch im Schrecken des Wagnisses, das Unnahbare besuchen, das Unbewegte in sich herabziehen, das Unmischbare in sich mischen, das Unheimliche in sich einheimeln zu wollen.

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Die psychologische Geschichtsforschung hat sich auch an die Grenze gewagt und versucht, den Weg der religiösen Bildungen nach physikalischen Gesetzen der Entwicklung zu zeichnen. Es sind dabei reiche Schätze des Vergleichs und Wandels zutage gekommen. Aber gerade diese bringen in die Methode grundsätzliche Zweifel. Man spürt durch deren Kettengelenke hindurch, daß hier mit der dürftigen empirischen Ableitung nicht in das Wesen zu dringen ist, zu dem verborgenen Gran metaphysischen Radiums, wovon das primitivste wie sublimierteste jener kreatürlichen Randerlebnisse bestrahlt wird. Die Dichte der dortigen Grenzluft erweist sich zu gering, als daß man sie mit intellektualen Meßwerkzeugen bestimmen könnte.

Griffen der Donner, der (übrigens schon an sich in Metaphysis aufgehende) Totenhauch, der Scheuel und Greuel nach dem Menschen? Waren sie nicht vielmehr der sinnenhafte Bildervorhang vor dem Zwischenreich, durch welches unbegreifliche Macht wirkte? Von dieser war alles magisiert. Ja sie bewegte so stark das naiv seelische Empfangsinstrument, daß die sichtbaren Kräfte und Erscheinungen sich als selbstwirkend unterschoben. (Embryonalform des »Mittlers«.)

Alles dem Menschen Begegnende war Symbol, ein Scheinwesen, dahinter das unerkannte Wesen sitzt. (Rationalisiert gesagt: die Idee des Dinges machte sich im Ding bemerkbar. Auch von diesem Urgrund her geht das platonisch-aristotelische Weltbild natürlich aus.) Baum, Tier, Erde, Himmel, Wasser, Sonne, Mond, Tag, Nacht »erschienen«, waren gleichsam Masken. (Daher gewiß auch der Urtrieb der Verkleidung, welche so ein Kind des Urglaubens an ein Dahinter ist.) Die Symbole verwoben sich. Hinter den Teilgesichtern stand das Eingesicht des Unsichtbaren, das schon in vordeistischer Zeit den Monotheos andeutet. Das Wunderbare wirkte vom Ganzen, vom Παν aus, wie das Wort vom panischen Schrecken wohl bewahrte Anschauung in sich birgt. Auch die Naturgesetze, gruppiert um das Grundgesetz des Zwiespalts und Ausgleichs, des Zerfalls und Aufbaus, der φιλια und des νεικος, fügten sich in die Zeichenreihe, Geburt und Tod, Geschlecht, Mutterschaft, Vaterschaft schlüpften in die tellurischen und kosmischen Sinnbilder, so schon zum metaphysischen Parallelgleichnis werdend und diese Bilder zu Doppelmasken machend des irdisch-himmlischen, stoffgeistigen Urgesichtes: ὑλη und εἰδος. Die vorantike und antike orphisch-hieratische Wandlung ging im großen Zug um die Verklärung des Stoffes durch das Geistbild. Nur Dionysos blieb darin der dauernd erdhafte Gegenspieler der uranischen Überwelt.

Jüngsthin ist das vergessene Lebenswerk des Baslers Johann Jakob Bachofen wieder hervorgekommen, welches von der philologisch-archäologischen Wissenschaft mit Schweigen bedeckt worden war, aber trotz seiner Irrgänge breit und tief auf den Grund einer Urreligion hinführt. Wie aus Lichtschächten fällt neue Einsicht in das Dunkel, welches im Anfang aus dem Natursymbol den Mythos gebar. Gegen die Methode rationalistischer Forschung verteidigt sich der kühne Mann:

»Der Religion einen tiefgehenden Einfluß auf das Völkerleben einräumen, ihr unter den schöpferischen, gestaltenden Kräften den ersten Platz zuerkennen, in ihren Ideen Aufschluß über die dunkelsten Seiten der alten Gedankenwelt suchen, erscheint als unheimliche Vorliebe für theokratische Anschauungen, als Merkmal eines unfähigen, befangenen Geistes, als beklagenswerter Rückfall in die tiefe Nacht einer düsteren Zeit. Alle diese Anklagen habe ich schon erfahren, und noch immer beherrscht mich derselbe Geist der Reaktion … Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation, die Religion. Jede Hebung, jede Senkung des menschlichen Daseins entspringt einer Bewegung, die auf dem höchsten Punkt ihren Ursprung nimmt. Ohne sie ist keine Seite des alten Lebens verständlich, die früheste Zeit zumal ein undurchdringliches Rätsel. Durch und durch vom Glauben beherrscht, knüpft dieses Geschlecht jede Form des Daseins, jede geschichtliche Tradition an den kultischen Grundgedanken an, sieht jedes Ereignis nur im religiösen Lichte und identifiziert sich auf das vollkommenste seiner Götterwelt.«

Aus den antiken Gräberstädten und aus mit Meißelkunst geschmückten Sarkophagen hob Bachofen das Gemälde seiner Mysteriengeschichte.

So darf man ohne gewalttätige Schichtung sagen, die religiöse (das heißt endlich-unendlich verknüpfende) Anlage sei im Menschen die Uranlage, das numinose Ding, das Urding.

Eben das Abstruse, Ungeheuerliche, Manische, das Panoptikum der Erregungen und Gebärden, durch Dionysium, Apollinium und Dämonium schwankend, sie geben Einblick in den Mischraum der geist-stofflichen Saumbegebnisse.

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Das Kind staunt heute noch metaphysisch, nicht vor dem Ding, sondern vor des Dinges Wesen, vor seinem Mythos, es hält das Ding für magisch. Das überschwängliche Kinderauge füllt sich nicht mit Gegenständen, sondern auch mit »Erscheinungen«. Welch Zauberding ist etwa die Puppe? Wirklichkeit wird Märchen und umgekehrt dieses zu jener. Oder in das von Mutter gelehrte, unbegriffene Gebet schlüpft die Welt seiner Vorstellungen und Wünsche hinein. Die Mutter selber ist die Vertrauen spendende Botin einer guten Macht. Dem alternden Mann glänzt noch Gelände und Figurarium der ersten vorgelesenen biblischen Legende. Er hat den Stahlstich aus dem, gleich der Erzählerin, vermoderten Buch in seinem Gedächtnisschrank aufgehoben.

Warum liebte Christus die Kinder?: Wenn Ihr nicht werdet …? Es wäre hier über das Wesen der Unschuld nachzudenken, freilich nicht von der moralischen Seite her, sondern über seinen Blick, in welchem es die Welt betrachtet.

Diese war auch der Unschuldszeit der Menschheit einmal heiliges Zeichen in allen ihren Gebilden wie in ihrem Bild. Die Wand-»Zeichnungen« der Höhlenbewohner treten uns heut noch nicht etwa als Spiel der Nachahmung entgegen, sondern viel mehr als Hieroglyphe. Aus dem Zeichen wurde der Mythos und der Mythos war wiederum die Welt.

Tritt man von der Endschwelle hellenischer Religionsgeschichte in Platons Garten, so erkennt man plötzlich hell beglückt, daß seine Lehre die natürliche reine Geistesblüte der religiösen Kultur des klassischen Altertums ist, im edlen Ergebnis die Wurzel bestätigend.

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Mythos wurde seitdem durch den Verstand in den Kosmos gewandelt. Aufklärung entkleidete Erde, Sonne, Mond, Sterne, Naturgesetz ihrer numinosen Hülle. Das Wunderbare an ihnen schwand, ihre Geheimnisse wurden erforscht. Sachlich, nüchtern wird das Naturgeschehen unserem Auge zerlegt. Den noch unbetroffenen Rest auch zu bewältigen, maßt die Forschung sich an, dabei allerdings vergessend, daß es der wesentliche Rest ist, des anfänglichen Rätsels Kern.

Der Mythos, die religiöse Grundluft des Menschengeschlechts hat auch um dieses das erste, geistig allverbindende, Stoff los unzerreißbare Gewebe gezogen. Er war die Macht, welche es an den Saum der Erkenntnis im Element seiner Gemeinschaft zusammenhielt.

Mit dem Mythos ist auch dieser Verbund gebrochen. Meister Eckart sagte den Seinen: »Klaffe nicht von Gott!« Die Menschheit heute klafft davon und klafft darum in sich.

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Der Gang, welchen die Offenbarung durch die Klärungszeiten des Menschengeistes nahm, hat seine Geschichte für sich. Und freilich ist jede objektiv gewordene Religion Kind der Offenbarung. Daß das Muttergewebe, jenes Erlebnis des übersinnlichen Grundes, in allen verwandt bleibt, darf als Zeichen gemeinsamer Herkunft gelten. Der Weg zeigt sich unverschüttet verbunden mit der dämmernden irrationalen Urschwelle.

An dem Saum saßen Brahma und Buddha und Confucius und Zarathustra, saßen die Künder der nordischen Sagas, die Priesterinnen der griechischen Orakel, die Geweihten der Mysterien.

An ihm brannte der Dornbusch, die Feuersäule, ballte sich die Wolke der Verkündigung auf Sinai, zu ihm stieg die Leiter Jakobs und fuhr der Wagen Elias. Über ihm erhob sich in der Stunde der Erlösung, da die Macht Gottes in der Liebe ganz aus seinem Reich hervortrat, das Kreuz.

Von ihm fiel der Lichtstrahl auf Saulus. Er umfloß die Insel Patmos des Johannes, auf seinem Meridian gleichsam baute sich das christliche Rom auf, dort das entgötterte antike Imperium abzulösen, es erhöht wieder zu gestalten.

Daran auch zerspellte sich in Luthers großem Versuch der Erneuerung das eingläubige Christentum, und das Innenwesen der abendländischen Menschheit bröckelte dann durch die Weltwendung des hoffärtig gewordenen Geistes ab. Aus der Spaltung des Glaubens ging ein Drittes, die Entgottung, hervor.

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Doch wieder bereitet sich dort, auf vielleicht weiter erhöhter Ebene, ein Schauspiel neuen Bundes vor. Von neuem tritt Re-ligio an den Riß, die gesprengten Fäden aufzunehmen und junges Gewebe zu wirken. Des Rätsels Kern ist noch da, der Saum auch und Das uns anzieht dahinter.

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