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Der Tod

Wenn uns jemand gestorben ist, wird uns jedesmal von hinten her ein Stück des Weges genommen, den wir gekommen sind. Ein Spaten um den andern. Und wenn's einmal Vater und Mutter sind die Entrissenen, ist der Weg weggeschaufelt. Es ist dahinten leer geworden, es ist keine Hand mehr, welche uns in das Vergangene zurückführt und unser Fuß hat eigentlich die Schwelle der Heimat verloren, selbst wenn das Haus noch wäre, darin die Mutter uns gewiegt und der Vater gelehrt hat.

Solcher Abbruch des Gestrigen hat etwas grausam Großes, solche Vereinsamung, die nur noch das Morgen läßt und auch dieses mit kühlem Schatten belegt, mit dem fortan immer wirkenden Bewußtsein, daß unser Leben angeschnitten ist.

So waren wir verbunden, und in dem Schnitt wird uns die tiefe Knüpfung sichtbar.

Wir mögen uns Freundschaft, Liebe gesellen, wir sind vom Schicksal gezeichnet. Unsere Erscheinung gleicht dem schwindenden halben Mond. Und das ist auch das dunkle Ungeheuere jener Stunden, da wir die Leichen in den Sarg tun. Die Toten nehmen mehr als sich, sie nehmen Stücke von uns mit hinunter.

Wir stehen mit unseren von ihren Quellen abgeschnittenen Blutgängen nur mehr nach einer Seite, wir haben vom Grund der Herkunft nichts mehr zu empfangen. Und arg ist's, wenn wir Wesens nicht genug erhalten haben, um weggeben zu können, ohne zu versiegen. Im Wechsel der Geschlechter werden wir für die uns vorne Zuwachsenden das, was die rückwärts Weggefallenen uns gewesen sind. Bald fallen wir auch hinter den Fersen derer weg, welche an unserer Stelle in die Zukunft wandern.

Es ist der entscheidende Schritt in unserer Vorstellung von Welt und Eigensein, wenn wir uns ernst auf dieser Grenze zu sehen vermögen. Media vita. Wir sind von dieser Stunde an Menschen, die das Tragische des Einzelnen und die Größe des Ganzen begriffen haben.

*

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Er weiß vom Tod. Darum, freilich wechselwirkend, weiß er von sich, daher hat er das Bewußtsein des Bewußtseins, das »principium individuationis«, das »Ich« und die schicksalhafte Bindung der Gemeinschaft, das »Du«. Daraus ist die Zeit geworden. Daher die Frage nach dem Woher und Wohin, nach Ursache, Sinn und Ziel, nach der Idee, dem Urbild, nach dem »Ding an sich« hinter der befristeten Erscheinung, nach der Unsterblichkeit und nach Gott.

Der Tod hat uns die Frage gegeben unter dem Baum der Erkenntnis, welcher wahrhaft irgendwo in grauer Menschenzeit steht. Weil die ungeheure Frage ist, muß auch die Antwort sein. Die Stufe, worauf der Fragende getreten, muß sich hinan fortsetzen, ganz gewiß …

Der Tod erhebt den Menschen in einen Geheimzustand, wofür die Offenbarung nicht fehlen kann.

*

Ein Naturforscher sagt: »Es gibt überhaupt keine vollständige Entmischung der Lebens- und Todestriebe; selbst in der sogenannten »toten« Materie also im Anorganischen gibt es noch Lebenskeime und damit auch Tendenzen der Rückbildung zu jener höheren Verbindung, aus deren Zerfall sie entstanden sind.«

Des Wortes Sinn: Getötetes, das heißt unwirkend Gewordenes, nimmer zur Keimung Strebendes ist nicht denkbar.

Und die Einzelle stirbt nicht in der Teilung. Die Wissenschaft hat im Geheimschoß des organischen Lebens wirklich die Kette der Fortdauer festgestellt zum Grundbeispiel.

Das Gesetz des Zerfalles bringt Leid und Tod. Doch zeigt es sich wiederum als Teil des Polgesetzes der Zeugung. Was zerfällt ist schon auch Stoff der Zeugung. Es ist das Urgesetz, ehrwürdiges Geheimnis aller Erscheinung. Und jene ruhelose Frage sucht die Ursache, das Movimentum des verborgenen Augenblickes, da der Funke zwischen Negativ und Positiv springt, da der Keim sich sterbend spaltet zur Sprossung.

Es ist kein Grab, das nicht ein Acker wäre.

Wir dürfen das Zeichen wieder aufnehmen:

Zerfall   x = Aufbau.
Tod   x = Leben.
Tod   Leben   x = Unvergänglichkeit.

Das Unbekannte, Zeit Schaffende, Gestaltende kann nichts in dieser Zeit und Gestaltung Beschränktes sein.

Alles hier ist voll Zielen. Alle unsere Gedanken und Gefühle sind wie Läufer, jeder und jedes zu seinem Ziel rennend. Alle rennen in den Tod. Dahinter wäre kein Ziel?

Wir wissen um das Wunder, auch wenn wir es nicht ergründen. Darum sind wir Wesen des Geistes. Daher wissen wir auch gläubig, daß ein Geist des Geistes ist, in dessen Wesen das Unerforschliche gründet und wirkt, mit seiner Ursache gleich mit seinem Ziel.

Wir haben das »Stirb und Werde« begriffen, außen wie innen. Hier liegt die Schwelle der Sonderung und Erwählung, worauf der homo animal im Finstern bleibt und der homo anima ins Licht tritt.

*

Schauriges und erhabenes Geschenk der Auszeichnung, vom Tod zu wissen! In seinem Blick wächst das Schicksal, uns Alle in Einem ungreifend, die Gegangenen, die Seienden, die Kommenden. Jene achtzehnhundert Millionen Menschen, wohl in diesem Augenblick auf der Erde atmenden, wer vermag sie zusammen zu denken? Und einzurechnen in die Summe der gewesenen und künftigen Geschlechter, mit denen der erschrockene Zähler im Blut und Wesen verädert ist, welche er darstellt im Atemzug seiner Frist. Wer gar ertrüge die Vision, plötzlich sie alle tot auf der Erde umher liegen zu sehen?

Der verloschene Glanz erwacht wieder in den verfallenen Augenbechern, die wir an jenem Tag des rückwärtigen Abbruchs gesehen haben, und Schritte der Hinweggesunkenen kommen wieder herauf in unseren Tritt. Sie holen uns.

»Daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,
So eins mit mir als wie mein eignes Haar?«

Hugo von Hofmannsthal

Nimmt die dunkle Hand Einen aus uns, rücken wir Anderen enger zusammen wie in einem kalten Luftzug und spüren im »Todeshauch« jäh uns selber: daß wir nichts sind als dünnwandige, zerbrechliche Gefäße, darin unruhig die dunkle Welle geht.

Eine Schale, die nicht weiß woher
Sie geschöpft, steht draußen an dem Meer.
Doch ihr Dunkel muß, ihr Glänzen nun
Mit dem Ungeheuren gehn und ruhn.

Oft in ihrer Träume enger Wand
Hebt es nahe sich bis an den Rand.
Und gelinget einmal ihm der Blick,
Strömt es in die Schale nicht zurück.

*

Der Ring des Lebens, das in dieser Stunde lebendige Leben, in die Kette des Todes geschlossen, zurückgehängt in die Vergangenheit und hineingelegt in die Zukunft. Kein Logarithmus vermöchte unseres Daseins Spanne durch Größenvergleich auszuscheiden, keine Division die Dauer seines Hauches zu bemessen im Abgrund des Schweigens dies- und jenseits.

Fünfundzwanzigtausend Tage lebt der Mensch, wenn er siebzig Jahre alt wird. Wieviel gestorbene Tage sind dahinten, wieviel ungeborene davor in der ganzen Menschenzeit? Und die fünfundzwanzigtausend Tage zerbröckeln immer fort. Nur einen Augenblick lebt ihr Inhaber jeweils von ihnen. Immer nur ein Augenblick ist das Leben.

Was wäre des Geschaffenen Dasein ein grausamer Spaß, wenn sein Ring nicht in der Kette hinge, die Kette ihn nicht ihrer Dauer einbände? Wenn sein Tag nicht in Zeiten, sein Augenblick nicht im Ewigen sich bärge.

Uns als Blatt sehend, wissen wir, es sei dazu ein Baum. Und das Blatt ist ein Wunder.

*

Die Erde hat einen Durchmesser von zwölftausendsiebenhundertsechsundfünfzig Kilometern und einen Rauminhalt von über eine Billion Kubikkilometern. Auf der Kruste dieses Balles begibt sich, was wir Leben nennen, was wir als solches erfahren und erkennen; was uns selber wieder das Gewaltige, Ungeheure dünkt. Ein dünner Belag, ein Schorf, eine Flechte, im dauernden Ausschlag begriffen. Vermöchte man von außen den Planeten unter ein Mikroskop zu bringen, man sähe kaum etwas, einen Hauch. Aber der Hauch verwischt nicht und das Leben, welches er ist, atmet im All.

Plötzlich, aus dem Schauwinkel des Unausmeßbaren entdecken wir im Maß unsere Erscheinungen, diese können nichts anderes sein, als Abbilder, welche indes mit ihrer dauernden Wandlung im Urbild bewahrt bleiben müssen. Was die Philosophie uns halb Begreifenden sagt, wird auf einmal zum Gesicht des Erlebnisses.

Das Mysterium des vor sich zum Staub gewordenen Menschen schwand nicht, es wuchs. Jenes »principium individuationis«, welches ehdem ihn stolz in die Mitte der Schöpfung setzte, wird jäh durchleuchtet zum Zeichen, daß wir ganz klein geworden erst wirklich im Großen sind. Die Sonne scheint in den Staub und scheint um des Staubes willen. Wir sehen die Hieroglyphe eines höheren Daseins in Stoffes Splitter schimmern.

Goethe, der Greis schrieb: »Wenn Einer fünfundsiebzig Jahre alt ist, kann es nicht fehlen, daß er mitunter an den Tod denkt. Mich läßt dieser Gedanke in völliger Ruhe; denn ich habe die feste Überzeugung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit; es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen Augen (dem Staub) unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.«

Und wenn wir unseren flüchtigen Augenblick gleich einem Takt in den unendlichen Rhythmus eingelegt wissen, wenn wir des Geistes Dauer im vergänglichen Leib ahnend gewahr werden, so geschieht das nicht um des kümmerlichen Triebes der Erhaltung willen. Nachdem wir jenes principium in uns zerbrochen haben, gilt uns nur noch die Wahrung des Wesens, nicht des Scheines, die Mündung im Einen über der Spaltung; wir gehen durch das Werden (unser Leben) hindurch in unser Sein.

Wir glauben an die Dauer unserer Geistesform nicht um des irdenen Tones willen. Und weil wir erkannt haben, daß unser Wesen des Geistes und des Stoffes sei, vermag der beiden Trennung nicht anders vor sich zu gehen, als daß das Gestaltende bleibe, dieweil das Mittel des Gestaltwandels in den Kreislauf zerfällt.

Weizenkammern hieß man in der Antike die Totenkammern.

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Weil uns gemeinsam der Tod bewußt ist, ist uns das Leben bewußt gemeinsam, in dieser flüchtigen Frist der Verkörperung wie in der währenden Wesenheit. Unser verwobenes Geschick erhält daher einen zweiten, hintersinnlichen Einschlag, das Gewebe des Grundes, des Gesamträtsels Menschheit.

Numen tremendum, jenes mit dem Menschen geborene heilige Grauen befällt das »Ich«, alle Menschenaugen auf es richtend, alles Haar um es flechtend, mit allen Händen nach ihm greifend, alle Erbträume in ihm träumend. Alle Erblast auf es ladend, alle Erbnot, Erbverantwortung. Dies ist der schwere Preis der Hebung aus den Binden der Kreatur, er wird bezahlt in der Gemeinschaft, woraus er stammt. Und darin liegt wiederum der (wirkende) Unterschied »von allen Wesen, die wir kennen«. Der Tod schenkt uns die Liebe. Das Übel wird zum Gut.

Und was Schönes gestaltet, was Großes geschaffen, von Malern gemalt, von Dichtern gedichtet, von Musikern gespielt, was Weises ersonnen worden ist in Menschenzeiten, alles sinnvolle Werk entstand, weil der Blick des stummen Herrn der Vergänglichkeit darüber stand. Die unsterbliche Form, die ewige Idee, das Wesen will von den verweslichen Händen hereingeholt werden in die befristete Erscheinung. Ja das Schöne ist nur schön, da wir um sein Schwinden wissen und seine transzendente Dauer ahnen. Bildet es sich unter uns, so muß wahrhaft auch sein Sinnbild sein.

»Mensch und Tier und Meer und Land
Sind des Ewigen Gewand.«

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Pfortenwort der Phantasie: »Die andere Welt.«

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Höchstes heiliges Gleichnis: das Kreuz. Die Erlösung kommt durch den Tod.

*

»Non v'aggorgete voi che si amo vermi
Nati a formar l'angelica farfalla?«


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