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Eros

Die Synthese der Neigung
ist es, die lebendig macht.

Goethe

Wieder vermöchte man von der Macht dieses Namens wie nirgendher das alldurchscheinende Grundgesetz abzuleiten, und könnte beispielhaft daran die Schichten der immerwährenden Schöpfung darstellen. Theoretisch wie historisch betrachtet kämen deren beide Ur-Teile hervor: ὑλη und εἰδος.

Stoff und Geistbild, Chaos und Gestalt. Schon der hellenischen Orphik und Philosophie wurde der polare Zwilling zum Erzproblem und zum Inhalt ihrer Geschichte.

Setzt man den Begriff des Eidos mit dem Phänomen des Eros in wesentliche Verwandtschaft, erkennt diesen als seinen Verkörperer und Figurenbildner, dann ist das platonische Zeichen sichtbar gemacht. Man könnte die beiden Namen etwa einigen: Ἐρος εἰδοφορος.

Nicht mehr das nur als Gedankliches denkbare Bild, das jenseits körperlos, beziehungslos, keimlos aufgestellte » An sich« der Dinge, das eigengesetzliche Theorem gilt es zu suchen, sondern seine transzendent-immanente Wesenheit, welche immanente Verwirklichung braucht. Das παραδειγμα, das Gestaltmodell, muß (wie vordem schon gezeigt) in die Natur eingehen, sein μιμημα, die Schaugestalt, zu schaffen. Die geschöpfliche Nachahmung ist seine eigene Lebendigmachung. Sein kann im Wechsel des Werdens, in der Schöpfung nicht erreicht werden, aber indem die Idee sich raumzeitlich in das Werden eingliedert, erhält sie wie in einer hindurchrollenden Kette ihre Kontingenz, ihr Sein, das transzendent-immanente durch die Immanation. Sie gibt dem Werden den Sinn des Seins. Dies nenne man wiederum die creatio continua. Und κοινινια, Gattung des Dinges mit der Idee gibt dieser dauernde und wandelnde Gestalt zugleich. Denn sehet, darin sitzt eben das magische Geheimnis und die unlösbare Rätselhaftigkeit aller irdischen Erscheinung, das Irrationale. Des Eidos Samen sucht den Schoß der Hyle, um sich sichtbar zu zeugen und zu bezeugen. Auf dem Fundweg wird er Eros Diesen hält Platons Lehre inmitte.

Es handelt sich nicht mehr um Erkenntnistheorie und Begriffsphilosophie, sondern um die himmlisch-irdische Kosmogonie. Plötzlich, aus solcher Sicht geht auch kein Weg mehr zu Kant, wohin die Schulphilosophie den Akademiker als Etappenläufer verschoben hat.

Zum ersten Mal tut sich in solchem Zusammenhang die Einsicht auf: Aristoteles ist kein Abtrünniger gewesen gegenüber seinem Lehrer, wie es herkömmlich dargestellt wird, sondern sein Testamentsvollstrecker. Er setzte den Spiegel der Idee in das Ding und verhaftete sie, um zu erscheinen, dem Stoff. Er unternahm den Griff der Objektivierung des Geistes im Stoff; die Welt der Sinnbilder war in die Welt der Anschauung eingeführt. Solches Vollbringen ist etwa das Gegenteil von dem Vorwurf, das platonische Gedankenwerk verrationalisiert zu haben. Die scheinbaren Gegensätze sind nur Durchgriffe zu tiefer ordnender Verknüpfung und des Schülers Tat war Verwesentlichung. Der Begründer der Logik, der Geistformalien, war, so widersprechend das klingt, der erste, bleibend große Morpholog. Seine zehn Kategorien etwa sind vollständiges Augeninstrumentarium, von einer nie wieder erreichten plastischen Fixierkraft und zugleich Fassungskraft der Schattierungen. Ding und Umgebung kommen zutag. Und zwar sinds nicht vom Subjekt projizierte Maße, sondern es ergibt sich die Offenbarung des Objekts über dessen Selbst. Durch εἰδοσ-Form, οὐσια-Substanz (Zustand) erscheint μορφη-Gestalt. Neuere philosophische Schulen, welche diese, die Gestalt umsuchen, werden nicht gewinnlos ihren Blick zurückwenden in die Bauhütte des geist-stofflichen kosmischen Begriffsbildners.

Es wäre an der Zeit, zwischen dem Doppelgestirn nicht das Trennende, sondern das Bindende zu ergründen. (Und schließlich darf man sich in solchem Zusammenhang die Frage nicht ersparen, warum ausgerechnet Aristoteles, welchem doch alle Philosophie, große und kleine, ihre Fundamentierung wie ihr Werkzeug verdankt, in eine merkwürdige Verfehmung geraten ist? Weil die katholisch-kirchliche Scholastik auf ihm fußt und die Schulen der Aufklärung mit dieser jenen erniedrigen und verdunkeln mußten. Mancherlei Anzeichen führen jetzt den Stagiriten und den Aquinaten auch außerhalb der dogmatischen Zirkel ins Licht der Rechtfertigung. Ja Kundigen ist der Nachweis geglückt, daß über Descartes eine lückenlose Ableitung von der Hochscholastik zur neuen Philosophie aus möglich ist, also nicht jener Bruch besteht, welchen die Gegnerschaft künstlich konstruiert hat. Die Philosophie wird dadurch wieder an Quellen gesetzt.)

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Eros, der Bildner des Kosmos. Man erschrickt schier vor solch zwangloser Enträtselung. Der Zwiespalt der Kräfte bekommt plötzlich unter seiner Hand gleichsam Erwärmung, Besamung, Durchsäftung; er wird Zwiefalt. Der Zug der Einung strömt als Zusammenfluß. Die Gesetze der Organisation beleben sich zu Keimformen des Organismus.

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Ein jetzt wohl vergessener Roman eines nordischen Dichters begann mit dem Satz: »Im Anfang war das Geschlecht«. Der Schreiber unseres Buches erinnert sich noch der Umwälzung, welche damals durch die kühne Verschiebung in des lesenden Jünglings Gedankenfachwerk bewirkt wurde. Es brauchte lange Zeit, bis der aussendende Logos der Schrift wieder im geklärten Vorrang saß.

Durchläufig durch alle organische Erscheinung zeigt sich das Geschlechtliche als das inmitte gesetzte Erlebnis der Kreatur. Der Blust, die Brunst ist die Hoch-Zeit der Natur, das Fest ihrer Epiphanie, die immer siegreiche Offenbarung des Lebens über den Tod. Natura naturans und natura naturata kopulieren sich.

Bis in die Kristallwelt hinab und in die chemischen Prozesse ist Vermählung Prämisse der Aktivierung. Affinität zeugt und bewegt diese. Schon der Weg der Atome zum Molekül geht davon aus. Widerstand, Reaktion erscheint so betrachtet nur als Ablaufrolle, als Hilfsgerät. Elektrizität mag des biotischen Vorgangs mechanisch-rhythmisches Mittel sein.

Scheinbare Ausnahme macht freilich die Einzelle, das Protozoon. Sie teilt sich Generation um Generation ungeschlechtlich aber eben auch todlos, das heißt keine Leiche hinterlassend, in zwei Einzellen. Dürfen wir darin etwas wie die ureinheitliche Vorform der keimhaften Spaltung sehen, welche als geteiltes Geschlecht in neuer Einung die Figuration des organischen Lebens vollzieht und auch, um des Figurenwechsels willen, den Raumschaffer Tod bringt. Denn erst das mehrzellige »Individuum«, die geschlechtlich gebildete Zellengruppe ist sterblich bestimmt, altert, erlischt körperlich, hinterläßt die Leiche, den Restkörper. Nicht nur mythologisch, sondern biologisch sind Eros und Thanatos Brüder. Wo der eine gibt, muß der andere nehmen.

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Mit Kohlenstoffverbindungen ist die Wissenschaft nahe an die Vergleichsgrenze gelangt, wo die Keimzelle, das zeugende Leben, beginnt. Allerdings vergißt man im stolzen Gefühl der Errungenschaft, daß das Versuchsmittel an sich schon aus petrefaktem, einstigem organischen Leben herkommt und vornehmlich jenes bereits erwähnte Forscherwort auf sich bezieht, wonach selbst in der sogenannten »toten« Materie, also im Anorganischen noch Lebenskeime (Liebeskeime) sind und damit Tendenzen der Rückbildung zu jener höheren Verbindung, aus deren Zerfall sie entstanden. Dieses Wort beleuchtet auch hier den ganzen panerotischen Grund der Gestaltungsgesetze.

Die organische Chemie zieht aus (scheinbar?) abgestorbenen Weltlagerungen Wunder der Erweckung. Es ist gleichsam als wären die vitalen Säfte nur historisch gestockt und würden jetzt durch Auftauung wieder flüssig. Nun beginnt man auch in den Versuchsstätten vom gewalttätigen, mechanischen Weg hoher Erhitzungen und scharfer Lösungen sich der milderen Umwandlungsweise anzugleichen, welche Natur selber in den Zellgebilden zeigt. Kolloid und Gärung werden neue Synthesen zu den erstaunlichen alten bringen. Es ist eine Annäherung an jene erotischen, philogenetischen Grundvorgänge. Phantastisch wäre denkbar, ein versteinerter Farn gewänne so im Laboratorium wieder sein grünes Kleid zurück.

Aber freilich schon die mit jenen Versuchen erwachte Hoffnung, als werde es, nachdem man alle seine Bestandteile bereitet (oder nur reaktiviert?), wohl bald gelingen, wirklich den Keim darzustellen, birgt eitlen Übermut. Die vitalistische Schwelle bleibt; das Experiment erstarrt vor ihr.

Man mag die Pflanze in ihre letzten Staubfasern zerlegen und wieder zusammenfügen. Man mag den Saft, der sie durchrann, kunstreich bewahren und wieder einflößen. Ach es ist Versuch! Das Wunder der Wunder bleibt, wie das Gebilde aus einem verwesenden Samenkorn, aus grauer Erde so geordnet wurde, daß sie diese Pflanze ist.

Eros läßt sich in keine Retorte sperren. Der Schöpfer hat sein Vorrecht gesetzlich geschützt. Wenn die Wissenschaft zu erkennen glaubt, daß alle Lebensbildung und alle Lebensvorgänge auf eine letzte Einheitlichkeit hinweisen, so führt sie uns damit in den innersten Kreis der Ehrfurcht vor dem Vielfalt der Gebilde, welche sich daraus enthob in Zeit und Raum. Der Baum, der Hund, der Mensch werden darum nur wunderbarere, unbegreiflichere Wesen, wenn man ihre physischen Lebensgesetze in den Ring einer Gleichung zusammenbringt. Und wieder geht der Weg keineswegs zum stoffkausalen Monismus, sondern zum Gesetz-Geber jener »Synthese der Neigung«, die lebendig macht.

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Es hat sich unter den vielen Versuchen, auf neuem Weg der Erscheinungen und ihres Sinnes Herr zu werden, auch eine sogenannte »personalistische Philosophie« eingestellt. Sie sieht etwa in der Einperson eine unitas multiplex von vielen abgestuften Personelementen und sucht daraus vergleichend die Welt zu begreifen, im Spiegel dieser vielfältigen Einheit. Und irgendwie erhellt sich die Szene. Wenn »Ich«, diese seltsamste, geist-stofflich individualisierte Zelle in unbegreiflicher (auch nur unterm Zeichen der φιλια annehmbarer) Gesellung gleichsam ein Figurenkabinett von Wesenheiten und ein Museum von Bildern beherbergt, wenn das Eingefäß so vielwertig und vielideell füllbar ist, darf man da nicht hinaustreten auf die Stufung bis zu dem Bild einer »Allperson« in welcher das Figurenkabinett zum Panoptikum und das Museum zum Panorama wird. So führt das kosmische Organon zu jener letzten, physisch eingeordneten, metaphysisch übergeordneten Einheit des Ursprungs und des Zieles.

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Es ist ein wundersamer Umweg, daß jetzt (noch nicht eingestanden) von der Naturwissenschaft her, welche scheinbar am weitesten davon abführte, die Zeichen der Übereinstimmung kommen müssen für das platonisch-aristotelische Weltbild, dessen Väter langher, inmitte primitiver kosmographischer Irrtümer stehend, den Schlüssel einer Lösung fanden, worein sich alle geistigen und stofflichen Gesetzesfunde natürlich und einfältig einordnen. Mag die Hoffart auch der Philosophie sich über Jahrtausende hinweg zum neuen Anschluß beugen? Würde und Autonomie der reinen Geisteswissenschaft sind ja eben durch jene greifbare Besiegelung in höchster Weise gewahrt.

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Der geist-stoffliche Eros wirkt sichtbarer denn jede Macht in jener transzendent-immanenten Wechselbindung, welche (als das Grundgeheimnis dem Einblick verschlossen) eben auch im metaphysisch-physischen Grenzgesetz der unlösbaren Spannung und Einung webt, am Saum, an der Lücke im Bild des Michel Angelo.

Etwas wie ein Wissen darum leuchtet aus der Belehrung heraus, welche im »Gastmahl« Diotima dem Sokrates gibt. Sie widerredet ihm, daß Eros ein Gott sei, und fragt:

»Sag mir doch, hältst du nicht alle Götter für glückselig? Würdest du von irgendeinem Gott zu leugnen wagen, daß er glückselig sei? Nein, beim Zeus, antwortete ich (Sokrates). Glückselig aber nennst du doch wohl die, welche besitzen, was gut und schön ist? Gewiß! Aber vom Eros hast du eingeräumt, daß er aus Mangel am Schönen oder Guten eben nach dem verlangt, woran es ihm mangelt. Wie kann er also ein Gott sein? Was kann denn sonst Eros sein? fragte ich. Ein sterbliches Wesen? Nichts weniger als das! Aber was denn? Ein Mittelding, sprach sie, zwischen Sterblich und Unsterblich. Wieso, Diotima? Er ist ein großer Dämon, Sokrates, denn das ganze Dämonenreich steht mitteninnen zwischen Göttern und Sterblichen. Und was hat er für einen Wirkungskreis? Den Dolmetscher und Fährdienst von Menschen zu den Göttern und von den Göttern zu den Menschen. Sie helfen den Raum zwischen beiden füllen, so daß das All haftend in sich selbst beschlossen ist.«

Wieder schiebt sich das unerklärbare   x herein, der Mehrquell des Lebens, das Tertium der Bewegung und Zeugung. Es ist gleichsam das hindurchrinnende Aquavit und treibt im Bett des Urbaches Rhythmus die Erscheinungen durch die dünne Lichtbahn der jeweiligen Gegenwart, darin gewesene und künftige Erscheinung wie ein Wesen zusammen beleuchtend, das vergängliche Ding wundersam symbolisch zur Dauer erhebend.

Was ist auf einmal dieses Ding gesehen in der allgestaltenden Formen-Liebe! Wie wird es bedeutungsvoll eingestellt und eingesellt in die Umgebung der anderen Dinge, ihnen fremd, ihnen verwandt! Wie wird es zusammen mit ihnen zum unergründlich magischen Aufenthalt, zur Szene seines eigenen Rätselseins! Der Raum darum ist plötzlich ein mütterliches Element sinnvoller Eintracht, kindliche Wesen stehen darin beieinander, sind zusammengekommen, um ein Garten, eine Wiese, ein Acker, ein Wald, ein Sommermorgen zu sein. Man steht im Gelände einer wahr gewordenen Legende.

Das Ding, Pflanze, Tier, es ist etwas anderes geworden als ein Gegenstand kausalgesetzlicher oder logisierter Analyse. Wie ein Kind auch wird man groß davon ergriffen. Wer sah je in des Dinges Inwendiges, und in die Kammer seiner verborgenen Regung, seiner Binnenweise? Was will es von mir, was will es mir sein?

Eine rührende Bescheidenheit, der leis traurige, leis heitere Schimmer still verinselten Fürsichseins und dann wieder das große, reine Bewußtsein der Eingemeindung sieht mich daraus an. Wie in einem ehrwürdigen Mosaik der bunte Scherbensplitter und doch das Inglied des Bildes notwendig zu diesem gehört, wie das Bild selber zu sich gehört.

Will es zu mir sprechen? Gibt es nicht wirklich eine verlorene Sprache, darin wir uns verständen?

Es ist ein Symbol, alle sind Symbole, eine Welt von Symbolen sind sie. Auch für mich, der nichts anderes ist. Jedes muß von einem inneren Zustand erfüllt sein. In seiner Erscheinung regt sich der hervor, macht es rührend, ehrwürdig, mystisch.

O, man wundert sich nimmer, daß im Anbeginn das Ding dem Menschen Gottes Zeichen war, und sieht kommen, wie es uns dieses einmal wieder werden wird, Gefäß der Offenbarung.

*

Jetzt darf man etwa die kostbar tiefe Frage wagen: »Warum ist die Blume schön?«

Und darf sich in das Wunderwesen Frühling stellen.


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