Georg Ebers
Die Frau Bürgemeisterin
Georg Ebers

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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Peter fühlte sich wie gefeit. Muth und Begeisterung wogten mit neuer Fülle in seiner Brust, denn es ergoß sich in sie ohne Unterlaß die Zuversicht der starken Frauenseele an seiner Seite.

Er hatte in der Versammlung unter dem Druck der furchtbaren Verantwortung, welche er trug, und von seinen Amtsgenossen bedrängt, zugestanden, an Valdez zu schreiben und ihn um freies Geleite für Gesandte zu bitten, welche die Staaten und den Prinzen von Oranien ersuchen sollten, die gemarterte Stadt von ihrem Eide zu entbinden.

Valdez bot Alles auf, den Bürgemeister zu weiteren Verhandlungen zu bewegen, doch dieser blieb fest und keine Bitte um die Befreiung von der heiligen Pflicht des Widerstandes verließ die Stadt. Die van der Does, der Stadtsekretär, der Junker von Marmond und andere standhafte Männer, welche schon in der großen Versammlung gegen jeden Verkehr mit dem Feinde geeifert hatten, standen ihm jetzt wacker gegen seine Amtsgenossen und den Rath zur Seite, welcher mit Ausnahme von sieben seiner Mitglieder zäh und heftig auf die Anknüpfung von Verhandlungen drang.

Adrian genas schnell, aber des Doktor Bontius Voraussagung erfüllte sich schrecklich, denn Hunger und Pest überboten einander in grausamer Wuth und würgten beinahe die Hälfte aller Bewohner der blühenden Stadt. So schwarz war das Dunkel, so finster der Himmel, und doch gab es mitten unter dem grausamen Jammer auch manche Stunde, in der heller Sonnenglanz in die Seelen strahlte und die Hoffnung ihr grünes Panier entfaltete. Froher als eine Braut, die der Gesang ihrer Gespielinnen am Hochzeitstage erweckt, erhoben sich die Leydener Bürger von den Lagern, als sich am Morgen des 11. September aus der Ferne lauter und lang anhaltender Kanonendonner vernehmen ließ und der Himmel sich purpurn färbte. Im Südwesten der Stadt standen Dörfer in Flammen. Jedes Haus, jeder Speicher, der in Asche versank und das Glück redlicher Menschen begrub, war ein Freudenfeuer für die verzweifelnden Bürger.

Die Geusen waren im Anzug!

Da wo die Geschütze donnerten und der Horizont glühte, lag die Landscheiding, das Bollwerk, welches die Leydener Ebene vor dem Andrang der Wogen jahrhundertelang treulich behütet hatte und nun der Hülfe bringenden Flotte den Weg verlegte.

»Falle, du schützende Mauer, erhebe dich, Sturm, verschling' deine Beute, brausende See, vernichte den Wohlstand des Landmanns, verdirb unsere Wiesen und Felder, aber ersäufe den Feind oder treib' ihn von hinnen.« So sang Janus Dousa, so scholl es laut in Peter's Seele, so flehte Maria, so beteten mit ihr Tausende von Männern und Frauen.

Aber die Glut am Horizonte erlosch, die Geschütze verstummten. Ein zweiter Tag verging, ein dritter und vierter, und kein Bote erschien, kein Geusenschiff wollte sich zeigen und die See schien zu ruhen; aber eine andere furchtbare Macht wuchs und rührte sich mit heimlicher, schleichender, unwiderstehlicher Kraft: der Tod, mit seinen bleichen Gehülfen Verzweiflung und Hunger.

Heimlich in dunkler Nacht trug man die Verstorbenen zu Grabe, um bei der Nahrungsvertheilung ihre schmale Ration für die Ueberlebenden zu retten. Von Haus zu Haus flog der Engel des Todes, und er rührte auch an das Herz des lieblichen Lieschen, und küßte ihr mitten im Schlummer in stiller Nacht die geschlossenen Augen.

Die Kleinmüthigen und Spanischgesinnten erhoben das Haupt und rotteten sich zu Schaaren zusammen, deren eine bis in die Rathskammer drang, um Brod zu fordern. Aber keine Krume war mehr vorhanden, und die Obrigkeit hatte nichts mehr zu vertheilen, als ein winziges Stück Kuh- und Pferdefleisch und Rindshaut, gesottene und gesalzene Rindshaut.

In dieser Zeit der höchsten Drangsal ging van der Werff die breite Straße hinunter. Er achtete es nicht, daß ihm eine Schaar von verzweifelten Männern und Weibern mit Drohungen folgte; als er aber einbog, um in das van Hout'sche Haus zu treten, sah er sich plötzlich umringt. Ein blasses Weib mit ihrem verröchelnden Kind auf dem Arme stürzte vor ihm nieder, hielt ihm den sterbenden Säugling entgegen und schrie mit tonlosen, hohlen Lauten: »Laß es genug sein, laß es genug sein – sieh' hier, sieh' dies; es ist das dritte. Laß es genug sein!«

»Genug, genug! Brod, Brod! Schaff' uns Brod!« schrie und grollte es rings um ihn her und es erhoben sich drohend Waffen und Steine; ein Zimmermann aber, den er kannte, und der bis dahin treu zu der guten Sache gestanden, trat ihm näher und sagte gemessen mit tiefer Stimme: »Es geht nicht länger. Wir haben Hunger und Leid geduldig ertragen gegen den Spanier und für unsere Bibel, aber mit dem sichern Tod zu kämpfen ist Wahnsinn.«

Bleich und erschüttert schaute Peter auf die Mutter, das Kind, den wackeren Arbeiter und die drohenden, schreienden Armen. Das eine Elend, welches sie und so viele Darbende beugte, belastete mit tausendfältiger Wucht seine Seele. Ein Mitgefühl ohnegleichen erfaßte sein Herz. Wie Brüder im Leid, wie Genossen eines künftigen, würdigeren Daseins hätte er sie Alle an sein Herz zu ziehen begehrt. In tiefer Bewegung schaute er von dem Einen zum Andern. Dann preßte er die Hände fest auf die Brust und rief in die Menge, die auf ihn eindrang:

»Da steh' ich. Ich habe geschworen, treu auszuhalten; und ihr thatet es mit mir. Meinen Eid werd' ich nicht brechen, aber sterben kann ich. Ist euch mit meinem Leben gedient, da steh' ich! Brod hab' ich keines, aber hier, hier ist mein Leib. Nehmt ihn, legt Hand an mich und reißt mich in Stücke. Hier steh' ich, hier steh' ich. Meinen Eid werde ich halten!«

Da senkte der Zimmermann das Haupt und sagte dumpf: »Kommt, Leute, wie Gott will; wir haben geschworen!«

Gelassen trat der Bürgemeister in das Haus seines Freundes. Frau van Hout hatte dies Alles gesehen und gehört, und noch am nämlichen Tage erzählte sie es Maria, und ihre Augen leuchteten hell, als sie ausrief: »So groß wie ihn in jener Stunde sah ich noch keinen Mann! Wohl uns, daß er in unseren Mauern gebietet. Diese That werden ihm auch Kinder und Enkel nimmer vergessen.«

Sie haben sie aufbewahrt im treuen Gedächtniß, und in der Nacht, welche dem Tage folgte, an dem sich der Bürgemeister so männlich bewährte, kam ein Brief des Prinzen voll froher und ermuthigender Kunde. Der edle Mann war genesen und mit aller Kraft bemüht, das brave Leyden zu retten. Die Geusen hatten die Landscheiding durchstochen, ihre Schiffe drangen vor – die Hülfe nahte, und die getreuen Bürger, welche das Schreiben brachten, hatten die Rettung bringende Flotte und die vor Kampflust glühenden Freiheitskämpfer mit eigenen Augen gesehen. Die Herren van der Does wurden in dem gleichen Briefe an Stelle des verstorbenen van Bronkhorst zu Kommissaren des Prinzen ernannt. Van der Werff stand nicht mehr allein, und als am nächsten Morgen des »Vaters Wilhelm« Schreiben verlesen worden war und der Bericht der Boten Verbreitung gewonnen hatte, hob sich wie welkendes Gras nach erfrischendem Regen der Muth und die Zuversicht der gemarterten Bürger.

Aber es waren noch schwere Wochen der Angst und des Elends über sie verhängt.

In den letzten Septembertagen mußte man die zu Gunsten der Säuglinge und Wöchnerinnen geschonten Milchkühe schlachten, und dann, dann?

Hülfe war in der Nähe, denn oft genug röthete sich der Himmel und wurde die Luft von fernem Kanonendonner erschüttert; aber der Ostwind hielt an und trieb das in's Land gedrungene Wasser zurück, und doch bedurften die Schiffe, um sich der Stadt zu nähern, einer mächtig ansteigenden Flut.

Keiner von allen Boten, welche ausgesandt worden waren, kehrte wieder; es gab nichts Gewisses, als das grausam zunehmende unerträgliche Elend. Heute hatte sich auch Barbara gelegt und klagte über Schwäche und Ekel vor jeglicher Speise.

Da dachte Maria an die gebratene Taube, welche dem verstorbenen Lieschen so wohl bekommen war, und sie begab sich zu dem Musiker, um ihn zu fragen, ob er sich wohl entschließen könne, noch einen von seinen Lieblingen für ihre Schwägerin zu opfern.

Wilhelm's Mutter empfing Maria. Sie saß schlaff und müde im Sorgenstuhl. Zwar konnte sie noch gehen, aber es war ihr in all' den Aengsten und unter der schweren Noth ein wunderliches Zittern in die Hände gekommen. Auf Maria's Bitte schüttelte sie den Kopf und sagte: »Fragt ihn selbst. Er muß die Thierchen verschlossen halten, denn wo sie sich sehen lassen, werden sie von den armen Hungerleidern fortgeschossen. Es sind nur noch drei. Die anderen haben die Boten mit hinaus genommen und sie kehren nicht wieder. Gottlob! Denn das bischen Futter, das er noch hat, paßt besser in die Schüssel als in den Kropf. Wollt Ihr's glauben? Vor vierzehn Tagen hat er von seinem Ersparten fünfzig Gulden für einen halben Sack Erbsen gegeben, und Gott weiß, wo er den noch gefunden. Ullrich, Ullrich! führe die Frau Bürgemeisterin zu Wilhelm hinauf. Ich sparte Euch gern das Steigen, aber er wartet auf die ausgesandten Tümmler und kommt nicht einmal zum Essen hinunter. Lieber Gott, es würde auch die Mühe nicht lohnen!«

Der Tag war hell und sonnig. Wilhelm stand auf seiner Warte und schaute über die grüne, wasserreiche Fläche, welche unter ihm ausgebreitet lag, nach Süden. Hinter ihm saß des Fechtmeisters Waise Andreas und schrieb Noten, aber es war mit seiner Aufmerksamkeit übel bestellt; denn sobald er eine Zeile vollendet hatte, schaute auch er in die Luft und spähte nach dem Tümmler, dessen Heimkehr sein Meister erwartete. Er sah nicht sonderlich abgefallen aus, denn manches Körnchen Taubenfutter hatte sich heimlich zu seiner schmalen Fleischration gesellt.

Wilhelm zeigte sich so überrascht wie geehrt über den Besuch der Frau Bürgemeisterin und versprach auch, ihre Bitte zu gewähren, aber man sah ihm doch an, daß ihm das »Jasagen« nicht leicht ward. Die junge Frau trat mit ihm auf den Altan und er zeigte ihr im Süden, da wo sonst dem Auge nichts als Grün begegnete, eine weite, von zarten Nebeln überhauchte Fläche. Die Nachmittagssonne schien den weißlichen Duft mit Licht zu tränken und mit ihren Strahlen aufzulockern und hoch zu heben. Das war das durch die geöffneten Dämme eingeströmte Wasser, und die schwarzen länglichen Flecke, welche sich am Rande desselben bewegten, mußten spanische Truppen und Viehheerden sein, welche vor der andringenden Flut aus den äußersten Verschanzungen, Dörfern und Weilern zurückgezogen worden waren. Die Landscheiding selbst war nicht sichtbar, aber die Geusen hatten sie schon überschritten. Wenn es der Flotte gelang, den Soetermeer'schen See zu erreichen und von dort aus . . .

Wilhelm brach plötzlich seine Erklärung ab, denn Andreas war aufgesprungen, hatte den Sessel weggestoßen und schrie:

»Sie kommt! Die Taube! Roland, mein Vormann, da kommt sie!«

Zum ersten Mal vernahm Wilhelm heute von des Knaben Lippen den Ruf seines Vaters. Es mußte ihn wohl etwas sehr Großes bewegen, und in der That hatte er sich nicht geirrt, denn der die Luft durchschneidende Punkt, welchen sein scharfes Auge wahrgenommen hatte, war schon kein Punkt mehr, sondern ein längliches Etwas – ein Vogel, die Taube!

Wilhelm griff nach der auf dem Altan stehenden Fahne und schwang sie so freudig, wie nur je ein Sieger nach der gewonnenen Schlacht das Banner geschwenkt hat. Da kam der Tümmler, – da ließ er sich nieder, da schlüpfte er in den Schlag, und wenige Minuten später erschien der Musiker mit einem Brieflein.

»An den Magistrat!« rief Wilhelm. »Ueberbringt ihn gleich Eurem Gatten. O, werthe Frau, werthe Frau, vollendet Ihr, was die Taube begonnen. Gottlob, gottlob; sie sind schon bei der Nord-Aa. Das rettet das arme Volk vor Verzweiflung! Und nun noch Eins! Ihr bekommt den Braten, aber nehmt auch diese Körner; eine Gerstensuppe ist die beste Medizin für Barbara's Zustand, ich hab' es erprobt!«

Als es Abend geworden und der Musiker mit den Eltern seine Freude getheilt hatte, befahl er, die blaue Taube mit der weißen Brust zu greifen. »Mach' ihr draußen ein Ende,« bat er, »ich kann's nicht mit ansehen.«

Andreas kam bald mit dem geköpften Tümmler zurück. Seine Lippen waren blutig und Wilhelm wußte wovon, aber er schalt den hungrigen Buben nicht, sondern sagte nur:

»Pfui, Du Iltis!«

Am folgenden Morgen kehrte in aller Frühe eine zweite Taube zurück. Die Briefe, welche die geflügelten Boten gebracht hatten, wurden vom Fenster des Rathhauses verlesen, und der Muth der an den äußersten Rand des Elends gedrängten Bevölkerung flackerte von Neuem auf und half ihr das Schwerste tragen. Der eine der Briefe war an den Magistrat, der andere an Janus Dousa gerichtet, und sie klangen gar zuversichtlich und hoffnungsvoll, und der Prinz, der treue Hort der Freiheit, der Freund und Lenker des Volkes, der Prinz war wieder kräftig und hatte die zum Entsatz von Leyden aufgebotenen Schiffe und Schaaren besucht. Die Rettung war so nahe, aber der Nordostwind wollte sich nicht drehen und das Wasser stieg nicht. Auf der Burg und an anderen erhabenen Stellen standen die Bürger, Soldaten, Rathsherren und Frauen in großer Zahl und schauten in's Weite.

Tausend Hände falteten sich zu inbrünstigen Gebeten, und Aller Augen schauten in fieberhafter Erwartung und brennender Sehnsucht nach Süden, aber die Grenzlinie des Wassers regte sich nicht, und wie zum Hohn brach sich die Sonne fröhlich durch die Dünste des Herbstmorgens Bahn, erwärmte freundlich die frische Luft und ging mit glühendem Glanz und weit ausgebreiteten goldenen Strahlengarben am Abend zur Rüste. Das wolkenlose Blau des Himmels wölbte sich ungetrübt und mitleidlos über der Stadt und schmückte sich in der Nacht mit Milliarden von flimmernden Sternen. Am Neunundzwanzigsten in der Frühe ballten die Nebel sich fester zusammen, das Gras blieb trocken, die Dünste stiegen empor, die frische Luft wich lauer Schwüle und das graue Gewölk häufte sich und färbte sich mit finsterem Schwarz. Jetzt erhob sich ein leises Wehen und spielte in den kahlen Zweigen, jetzt schnob ein plötzlicher Windstoß über die Häupter der in die Ferne spähenden Menge hin. Ihm folgte ein zweiter und dritter, und nun brauste und pfiff ohne Pause und Unterbrechung heulender Sturm durch die Stadt, schmetterte Ziegel von den Dächern, bog die Obstbäume in den Gärten und die jungen Ulmen und Linden an mancher Straße, riß die Fähnchen zu Boden, welche die Knaben den Spaniern zum Trotz auf den Wällen befestigt hatten, peitschte das stille Wasser des Stadtgrabens und der ruhig fließenden Grachten und – der Herr verläßt die Seinen nicht – und die Wetterfahnen drehten sich, der Sturm kam von Nordwesten und – Niemand sah es, aber die Schiffer riefen es aus, und Jeder jubelte es ihnen nach und trug es weiter – und die Windsbraut trieb die in der Springflut sich hoch aufbäumende See in die Mündung der Maas und drängte mit wildem Anprall das Wasser des Stroms zurück und über seine Ufer hinaus und jagte es durch die zu seinem Empfang geöffneten Gassen in den Deichen und die weit aufgesperrten Thore der Schleusen und hob mit der Kraft seines sich bäumenden Rückens die Rettung bringenden Schiffe.

Brause, du Sturm, ströme, ströme, rauschender Regen, wüthet ihr Wogen und vernichtet die Wiesen, verschlingt die Häuser und Dörfer! Euch grüßen auf den Wällen und Thürmen Leydens Tausend und Tausend. Sie sehen in euch die furchtbare Heerschaar des rächenden rettenden Gottes und jauchzen und jubeln euch zu!

Zwei Tage hinter einander stellen sich der Bürgemeister mit Maria und Adrian, den van der Does und van Houts mit kurzen Unterbrechungen mitten unter das Volk auf die Höhe der Burg oder auf den Thurm am Kuhthor, und selbst die nothdürftig genesene Barbara, welche die Hoffnung noch besser erquickt hat, als der Gerstenschleim und das magere Täubchen, läßt sich nicht zu Hause halten und schleppt sich zu dem Musiker auf die Warte, denn Jeder will das andringende Wasser sehen und wie der Boden aufweicht und das Naß zwischen den Grashalmen hervordringt, Lachen, Teiche und endlich eine weite Fläche bildet und unter dem strömenden Regen Blasen schlägt und sich mit leicht bewegten Kreisen bedeckt. Jeder will Zeuge sein, wie die Spanier hierhin und dorthin eilen, wie Schafe, unter die der Wolf gefahren. Jeder will hören, wie die Kanonen der Geusen donnern, will das Geknatter ihrer Hakenbüchsen und Musketen vernehmen, und Frauen und Männern scheint der Sturm, der sie niederzureißen droht, lieblicher zu wehen, als der holdeste Zephyr, und der Platzregen, der sie durchnäßt, will ihnen freundlicher dünken, als sonnenspiegelnder Lenzthau!

Hinter der festen Schanze von Lammen, die von einigen hundert spanischen Streitern vertheidigt wurde, und dem Schloß Kronenstein konnte das scharfe Auge die Schiffe der Geusen erkennen.

Willhelm hatte am Donnerstag und Freitag vergebens nach einer Taube ausgeschaut, aber am Sonnabend kehrte sein bester Flieger zurück. Sie brachte einen Brief des Admiral Boisot, welcher die bewaffnete Mannschaft der Stadt aufforderte, am Freitag einen Ausfall zu unternehmen und sich auf Lammen zu werfen.

Der Sturm hatte die Taube verweht. Sie war zu spät in die Stadt gekommen, aber am Samstag Abend rührten sich Janus Dousa und der Kapitän van der Laen. Was Waffen tragen konnte, wurde auf Sonntag früh aufgeboten. Arme, bleiche, gelichtete Schaaren waren es, an welche der Ruf der Führer erging, aber Keiner wollte fehlen und Jeder war bereit, das Leben für die Rettung der Stadt und die Seinen zu lassen.

Der Sturm hatte sich gemäßigt, das Geschützfeuer schwieg, und die Nacht war schwül und finster. Kein Auge mochte sich schließen, und wen der Schlaf auf kurze Zeit übermannte, der ward von seltsamen, geheimnisvollen Geräuschen erschreckt und geängstigt. Wilhelm saß auf seiner Warte und schaute und lauschte nach Süden. Bald sauste ein schwacher Windstoß um das hohe Haus, bald klang ein Ruf, ein Schrei, ein Trompetenstoß durch die nächtige Stille; dann erhob sich ein Krachen und Lärmen in der Nähe des Kuhthors, als hätte ein Erdbeben einen Theil der Stadt in seinen Grundfesten erschüttert und zu Boden gestürzt. Kein Stern war am Himmel sichtbar, aber in der Gegend von Lammen bewegten sich wie Irrlichter in geordneter Reihe glühende Punkte durch das tiefe Dunkel. Es war eine grausige, angstvolle Nacht.

In der Frühe des Morgens zeigte es sich, daß ein Theil des Stadtwalles beim Kuhthor eingestürzt war, und dann erhob sich ein Jubel ohnegleichen in der Nähe der nun nicht mehr schädlichen Bresche, und das Freudengezeter pflanzte sich fort durch alle Gassen und Straßen und zog Männer und Frauen, Greise und Kinder, Gesunde und Kranke aus den Häusern, und Einer drängte den Andern an's Kuhthor, und nun sah man die Geusenflotte herannahen und den Stadtzimmermann Thomassohn mit anderen Männern die Pfähle aus dem Wasser reißen, mit denen die Spanier den »Vliet« zu versperren gesucht hatten, und dann legte sich das erste Schiff und ein zweites und drittes an die Mauern, und wilde, bärtige Männer mit narbigen, grimmigen, tief gebräunten Gesichtern, deren Wangen seit Jahrzehnten kein anderes salziges Naß als das Wasser des Meeres berührt hatte, lachten den Bürgern entgegen und warfen ihnen ein Brod nach dem andern und lauter gute, langentbehrte Dinge zu und weinten und schluchzten vor Rührung wie Kinder, während das arme Volk da oben aß und aß und genoß und kein Wort des Dankes zu finden vermochte. Und dann kamen die Führer, und der Admiral Boisot sank den van der Does und van der Werff in die Arme, und der Geusenkapitän van Duijkenburg der alten Barbara, seiner Mutter, und mancher Leydener einem Befreier, den seine Augen zum ersten Mal sahen. Da flossen viele, viele Thränen, da strömten Tausende von Herzen über, und die Sonntagsglocken klangen so viel heller und reiner als sonst und riefen die Retter und die Geretteten in die Kirche und zum Gebet. Der weite Raum des Gotteshauses war heute zu eng, und als der Prediger Corneliussohn, welcher den wackeren Verstroot vertrat, der in der Sorge für so viele Leidende erkrankt war, die andächtige Gemeinde zum Dank aufforderte, da war sie seiner Mahnung längst zuvorgekommen, denn seit dem ersten Orgelton erfüllte die Tausende, welche die Kirche umschloß, die gleiche heiße Sehnsucht, Dank, Dank, inbrünstigen Dank zu sagen.

Auch Pater Damianus dankte dem Herrn in der Kapelle der grauen Schwestern, und mit ihm Nicolas van Wibisma und andere Katholiken, denen das Vaterland und die Freiheit lieb war.

Adrian watete nach der Kirche mit einem Stück Brod in der einen und den Schuhen in der andern Hand an der Spitze seiner Schulkameraden durch die höher gelegenen feuchten Wiesen nach Leyderdorp, um das verlassene Lager der Spanier zu sehen. Da stand das stattliche Zelt des Maëstro del Campo Valdez. Ueber der Ruhebank des Feldherrn hing eine Karte des Rheinlands, welche der Niederländer Beeldsnijder zum Schaden seines eigenen Volkes für ihn gezeichnet hatte. Die Buben schauten sie an, und ein Geuse, welcher früher in einer Schreibstube gesessen und jetzt wie ein Seebär aussah, stellte sich vor sie hin und sagte:

»Seht her, ihr Buben. Da liegt die Landscheiding. Die haben wir zuerst durchstochen, aber damit war's nicht vorbei. Am grünen Weg gab es argen Aufenthalt, und hier bei dem dritten Damme – sie heißen ihn den Vorweg – gab's Nüsse zu knacken, und von Durchkommen war keine Rede. Nun ging es wieder zurück und in einem großen Bogen über den Segwaert'schen Weg und durch den Kanal hier, in dem es arg zuging, in die Nord-Aa. Nun lag der Soetermeer'sche See hinter uns, aber das Wasser war zu flach und wir konnten nicht weiter. Habt ihr die große Arche von Delft gesehen? Das ist ein mächtiges Fahrzeug, und es wird nicht durch Riemen bewegt, sondern durch Räder, mit denen man das Wasser fortschaufelt. Ihr werdet eure Freude daran haben. Endlich gab der Herr den Sturm und die Springflut. Da bekamen die Schiffe den rechten Tiefgang. Bei der Kerklaen ging es noch einmal heiß her, aber vorgestern hatten wir Lammen erreicht. Es war schon manch' braver Mann hüben und drüben gefallen, aber bei Lammen, dachte ein Jeder, geht es erst recht los. Heute früh wollten wir stürmen, aber als es tagte, war Alles verteufelt still in dem Nest, und es herrschte überhaupt eine nichtswürdige Schwüle. Da dachten wir schon: Leyden ist über; der Hunger hat sie bezwungen. Aber nichts da! Ihr seid ein braver Schlag, und da kam ein Bursche an unser Schiff, so groß wie Einer von euch und sagte, er hätte in der Nacht aus den Bastionen einen langen Zug von Lichtern hervortreten und abziehen sehen. Wir wollten ihm erst nicht glauben, aber der Bub' hatte Recht. Es war den Krebsen zu warm im Wasser geworden, und die Lichter, die der Bursche gesehen hat, sind die Lunten der Spanier gewesen. Seht, Kinder, das da ist Lammen . . .«

Adrian war mit seinen Genossen dicht an die Karte getreten und hatte nun dem Geusen mit einem lauten Gelächter das Wort abgeschnitten.

»Was gibt's da, Krauskopf?« fragte der Geuse.

»Seht, seht!« rief der Knabe, »hier hat sich der große Maëstro del Campo verewigt, und da steht auch sein Name. Hört, hört! Der Rektor hängt ihm den Esel um den Hals, denn da steht es: ›Castelli parvi! Vale civitas, valete castelli parvi; relicti estis propter aquam et non per vim inimicorum!‹ O, dieses Heupferd! ›Castelli parvi!‹«

»Was heißt das?« fragte der Geuse.

»Fahre wohl, Leyden, lebt wohl, ihr kleinen Castelli; ihr werdet verlassen wegen des Wassers und nicht wegen der Macht der Feinde. Parvi Castelli! Das muß ich der Mutter erzählen!« –

Am Montag kam Wilhelm von Oranien nach Leyden und stieg im Hause des Herrn von Montfort ab. Das Volk empfing seinen Vater Wilhelm mit Jubel, und der unermüdliche Vorkämpfer für die Freiheit Hollands war mitten in der Lust und Freude, die ihn umringte, thätig für das fernere Wohlergehen der Stadt. Er hat später die treue Ausdauer ihrer Bürger mit einem Siegesdenkmal ohnegleichen belohnt: die hohe Schule von Leyden war's. Sie hat in der geschäftigen Stadt und in dem unter schweren Kämpfen jahrzehntelang blutenden Lande jenen Geist geweckt und lebendig erhalten, dessen hohes Ringen und Streben sein eigener Lohn ist, und der das ewige Gut hoch über dies zeitliche stellt. Der Baum, dessen Keim am Rande des tiefsten Elends mitten unter Kampf und Drangsal gelegt ward, hat der Menschheit die edelsten Früchte getragen und trägt sie noch heute und wird sie, will's Gott, noch Jahrhunderte tragen.


Am 26. Juli 1581, sieben Jahre nach der Befreiung Leydens, sagten sich im Haag Holland und Zeeland, deren politische Unabhängigkeit schon seit sechs Jahren fest stand, von Spanien los. Wilhelm von Oranien hatte bis dahin als »Statthalter« des Königs Philipp regiert und auch in seinem Namen gegen ihn Krieg geführt. Selbst die Stiftungsurkunde der Universität, ein Dokument, welches bei allem Ernst, der es diktirt hat, ein unübertroffenes Musterstück des feinsten politischen Spottes genannt zu werden verdient, legte der Oranier dem König Philipp in den Mund, und es klingt ergötzlich genug, wenn man in diesem Schriftstück liest, daß der düstere Finsterling im Eskurial nach reiflicher Ueberlegung mit seinem lieben und treuen Vetter Wilhelm von Oranien beschlossen habe, eine freie Schule und Universität zu stiften, aus lauter Gründen, welche dem Könige verabscheuungswürdig erscheinen mußten.

Am 24. Juli war diesem Spiel ein Ende gemacht und Philipp entsetzt worden. Der Prinz hatte die souveräne Würde angenommen.

Drei Tage später wurden diese freudigen Ereignisse durch ein schönes Gastmahl im van der Werff'schen Hause gefeiert.

Die Fenster des Speisezimmers waren weit geöffnet und die frische Luft der Sommernacht kühlte die Stirne der Gäste, welche sich an der Tafel des Bürgemeisters versammelt hatten. Es waren die besten Freunde des Hauses: Janus Dousa, van Hout, der gelehrte Doktor Grotius aus Delft, welcher zu Maria's Freude als Professor nach Leyden berufen worden war und gerade in diesem Jahre das Rektorat an der neuen Universität bekleidete, der gelehrte Wirth Uquanus, Doktor Bontius, nunmehr Professor der Medizin an der hohen Schule, und Andere.

Auch der Musiker Wilhelm hatte sich eingestellt, aber er war nicht mehr allein, denn neben ihm saß seine schöne, zarte Gattin, Anna d'Avila, mit der er jüngst aus Italien heimgekehrt war. Er hieß schon seit Jahren van Duivenbode (Taubenbote), denn die Stadt hatte ihm diesen edlen Namen und ein Wappen, auf dem im silbernen Felde drei blaue Tauben und zwei gekreuzte Schlüssel standen, verehrt.

Mit Zustimmung des Prinzen waren auch die von dem alten Fräulein für ihre Verwandten und Diener ausgesetzten Legate anerkannt worden, und Wilhelm bewohnte nun mit seiner Gattin ein schönes, neues Haus, auf dem der Taubenschlag nicht fehlte, und in welchem Maria, obgleich ihr die vier Kinder, welche sie Peter geschenkt hatte, wenig Zeit ließen, an manchem Madrigalgesang theilnahm. Der Musiker mußte Adrian, einem stattlichen jungen Manne, welcher auf der neuen Universität studirt hatte und bald in den Rath aufgenommen werden sollte, mancherlei von Rom und seiner Schwägerin Henrika erzählen. Belotti war mit derselben, nach dem Tode ihres Vaters, welcher Anna noch wiedergesehen und gesegnet hatte, nach Italien gegangen, und sie lebte dort als Oberin eines weltlichen Ordens, in dessen Mitte die Musik mit besonderer Liebe gepflegt ward.

Barbara fehlte unter den Gästen. Sie hatte genug in der Küche zu schaffen. Ihre weiße Haube war jetzt mit beinahe übermüthiger Kunst und Sorgfalt getollt, und die sicher zufriedene Art, mit der sie Trautchen und die beiden Nebenmägde regierte, wies darauf hin, daß in Peter's Haus und Geschäft Alles ging wie es gehen sollte. Es lohnte der Mühe, für die Gäste da oben ein Uebriges zu thun! Auch der Junker von Warmond befand sich unter ihnen, und ihm mußte der Ehrenplatz neben dem Rektor und Janus Dousa, dem ersten Kurator der Universität, eingeräumt werden, denn er war ein großer Herr und hochmögender Staatsmann geworden, welcher nur schwer Zeit gefunden hatte, sich mit seinem jungen Mitarbeiter Nicolas van Wibisma vom Haag zu trennen und an dem Feste theilzunehmen. Heiter und lebhaft wie früher trank er dem Meister Aquanus zu und rief:

»Auf die alten Zeiten und unsern Freund Georg von Dornburg.«

»Von Herzen,« entgegnete der Wirth. »Man hat lange nichts mehr von seinen verwegenen Thaten und Fahrten gehört.«

»Natürlich! Der gährende Wein ist nun klar. Dornburg steht wieder in englischen Diensten, und vor vier Wochen bin ich ihm als Mitglied der hohen Admiralität ihrer britischen Majestät in London begegnet. Sein Geschwader ist jetzt auf dem Weg nach Venedig. Er denkt noch immer mit Liebe hieher und läßt Euch auch grüßen, aber Ihr würdet in dem Achtung gebietenden Befehlshaber und ruhig heiteren Mann unsern Liebling von damals nicht wiedererkennen. Wie oft hat ihn der beflügelte Geist weit über uns Andere hinausgetragen, und wie weh konnte Einem das Herz thun, wenn man ihn sein verborgenes Leid schwermüthig verträumen sah.«

»Ich habe seinerzeit den Junker in Delft gesehen,« sagte der Rektor Grotius. »Solch' ein beschwingter Geist fliegt leicht zu hoch und kommt dann zu Falle, aber wenn er sich an den Wagen der Arbeit und Pflicht spannt, so bewegt seine Kraft große Lasten und mit heiterer Uebermacht besiegt er das Schwerste.«

Adrian war indessen auf den Wink seines Vaters aufgestanden und hatte die Gläser mit dem Besten gefüllt. Das »Hoch«, welches der Bürgemeister ausbrachte, galt dem Prinzen, und Janus Dousa ließ ihm ein zweites auf die Unabhängigkeit und Freiheit des Vaterlandes folgen.

Van Hout weihte ein Glas der Erinnerung an die Tage der Noth und die wunderbare Errettung der Stadt.

Jedermann that ihm kräftig Bescheid, und nachdem das Hoch verklungen war, sagte Aquanus: »Wer dächte nicht gern an den herrlichen Sonntag am dritten Oktober; – aber wenn ich mich an den Jammer, der ihm vorausging, erinnere, so schnürt sich mir noch heute das Herz zu.«

Peter ergriff bei diesen Worten Maria's Hand, drückte sie herzlich und flüsterte ihr zu:

»Und doch habe ich damals am schwersten Tag meines Daseins mein Bestes gefunden!«

»Und ich!« entgegnete sie, und schaute ihm dankbar in die treuen Augen.


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