Georg Ebers
Die Frau Bürgemeisterin
Georg Ebers

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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Tage und Wochen waren vergangen, an den Juli hatte sich ein heißer August geschlossen, und auch dieser ging seinem Ende entgegen. Die Spanier lagen noch immer um Leyden, und die Stadt glich nun völlig einem Gefängniß. Die Soldaten und bewaffneten Bürger thaten müde und verdrossen den Dienst, auf dem Rathhaus gab es genug zu thun, aber unerfreulich und traurig war die Arbeit der Behörden des Ortes; denn keine die Hoffnung nährende Botschaft von dem Prinzen oder den Staaten wollte erscheinen, und Alles, was es zu berathen und zu bedenken gab, bezog sich auf die wachsende Noth und den furchtbaren Nachzügler der Kriege, die Pest, welche zugleich mit dem Hunger ihren Einzug in Leyden gehalten hatte. Zudem war die Zahl der Unzufriedenen von Woche zu Woche gestiegen. Die Freunde der alten Ordnung erhoben jetzt ihre Stimmen lauter und lauter, und mancher Freiheitsfreund, der die Seinen hinsiechen sah, schloß sich an die spanisch Gesinnten und verlangte die Uebergabe der Stadt. Die Kinder gingen nach wie vor in die Schule und kamen auf den Spielplätzen zusammen, aber der fröhliche Uebermuth von früher flackerte nur noch selten auf, und wo waren die rothen Wangen der Buben und die runden Aermchen der Mädchen geblieben? Die Armen zogen den Gürtel zusammen, und das Stückchen Brod, welches jedem Mund von der Stadt zugetheilt wurde, reichte nicht mehr aus, um den Hunger zu stillen und das Leben zu fristen.

Junker Georg wohnte längst im van der Werff'schen Hause.

Am Morgen des 29. August kehrte er von einem Ausgange heim. Er trug eine Armbrust in der Hand und eine Tasche hing ihm über die Schulter. Diesmal stieg er nicht die Treppe hinan, sondern begab sich zu Barbara in die Küche. Die Wittwe empfing ihn mit einem freundlichen Nicken; ihre grauen Augen leuchteten dabei so hell wie je, aber das runde Gesicht war schmäler geworden und um den eingefallenen Mund spielte ein wehmüthiges Zucken.

»Was bringt Ihr heut?« fragte sie den Junker.

Georg griff in die Jagdtasche und gab lächelnd zurück: »Eine fette Schnepfe, und außerdem noch vier Lerchen; Ihr wißt schon.«

»Arme Spatzen! Aber was mag dies wohl für ein Geschöpf sein? Ohne Kopf, ohne Beine und sorglich gerupft. Junker, Junker, das ist verdächtig.«

»Es paßt in die Pfanne, und auf den Namen kommt es nicht an.«

»Doch, doch; es weiß zwar Niemand, wovon er fett wird, aber der Herrgott hat doch nicht jede Kreatur für den menschlichen Magen geschaffen.«

»Ich sagt' es ja schon. Es ist eine kurzschnablige Schnepfe, ein Corvusvogel, ein leibhaftiger corvus

»Corvus! Geht doch. Ich fürchte mich vor dem Dinge . . . Das Federchen da unter dem Flügel . . . Jesus Maria! Es ist doch kein Rabe?«

»Ein corvus ist es, wie ich schon sagte. Legt den Vogel in Essig und bratet ihn mit einiger Würze, dann schmeckt er Euch wie eine leibhaftige Schnepfe. Wildenten gibt es nicht alle Tage wie neulich, und die Spatzen werden so rar wie Rosen im Winter. Jeder Bube steht mit einem Flitzbogen auf dem Anstand, und in den Höfen sucht man sie unter Sieben und mit Leimruthen zu fangen. Sie gehen ihrer Ausrottung entgegen, aber einer oder der andere bleibt doch noch verschont. Wie geht es dem Elschen?«

»Nennt sie nicht so!« rief die Wittwe. »Ich bitte Euch, laßt ihr ihren christlichen Namen! Sie sieht aus wie dies Tuch, und seit gestern weigert sie sich, die Milch zu nehmen, die wir täglich für sie mit schweren Opfern beschaffen. Gott weiß, wo das noch hinaus soll. Da seht den Kohlstrunk. Einen halben Stüber! Und das elende Stück Knochen da! . . . Es wäre mir sonst zu schlecht für die Hunde gewesen, – und jetzt! Das ganze Haus muß sich damit begnügen. Zum Abendbrod koche ich Schinkenschale mit Wein und gebe etwas Mehlbrei dazu. Und das für einen Riesen wie Peter! Woher er noch die Kraft nimmt, Gott weiß es. Aber er sieht aus wie sein eigener Schatten. Maria braucht nicht mehr als ein Vogel, aber Adrian, der arme Schelm, geht manchmal mit Thränen vom Tisch, und dabei hat er noch manches Stück Brod für Lieschen von seiner dünnen Schnitte gebrochen; ich weiß es. Es ist zum Erbarmen. Und doch heißt es: Streck' dich nach der Decke, sonst frieren die Füße, – Noth kennt kein Gebot und: Sparen, um zu bewahren. – Vorgestern haben wir wie die Anderen von Neuem angegeben, was wir noch haben. Morgen muß Alles abgeliefert werden, was über den Bedarf von vierzehn Tagen hinausgeht, und Peter will nicht, daß wir auch nur einen Sack Mehl hinterhalten, aber wie es dann wird, was dann kommen soll, – barmherziger Himmel! . . .«

Die Wittwe schluchzte bei den letzten Worten laut auf und fuhr weinend fort: »Woher Ihr nur die Kraft nehmt? Das elende Stück Fleisch ist in Euren Jahren auch nur ein Tropfen auf den glühenden Stein.«

»Herr van Aken gibt mir zu meiner Ration, was er vermag, von dem Seinen. Ich komme schon durch; aber was ich heute bei dem Schneider gesehen, der mir die Kleider bessert!«

»Nun?«

»Zwei Kinder sind ihm vor Hunger gestorben.«

»Und drüben bei den Webersleuten,« fügte Barbara weinend hinzu. »So ordentliche Menschen! Die junge Frau ist vor vier Tagen in die Wochen gekommen und heute Morgen sind Mutter und Kind vor Schwäche erloschen, erloschen sage ich Euch wie ein Licht, das sich verzehrt hat und ausgehen muß. Bei dem Tuchmacher Peterssohn sind der Vater und alle fünf Kinder an der Pest zu Grunde gegangen. Wen das nicht erbarmt!« –

»Laßt, laßt,« sagte Georg schaudernd. »Ich muß in den Hof zur Uebung.«

»Und das, wozu das noch gut ist! Die Spanier greifen nicht an; sie überlassen dem dürren Klapperbeine die Arbeit. Euer Fechten gibt Hunger, und die armen ausgenommenen Häringe können kaum noch die eigenen Gliedmaßen regen.«

»Falsch, Mutter, falsch,« entgegnete Wilhelm. »Die Thätigkeit und Bewegung hält sie aufrecht. Als Herr von Nordwyk mich bat, sie an des verstorbenen Fechtmeisters Stelle zu üben, wußte er wohl, was er that.«

»Ihr denkt an die Pflugschar, welche nicht rostet. Vielleicht habt Ihr Recht; aber bevor Ihr an die Arbeit geht, nehmt hier ein Schlückchen. Mit dem Wein ist's bei uns immer noch am besten bestellt. Wenn die Leute zu thun haben, so meutern sie wenigstens nicht, wie vorgestern die armen Schelme von den Freiwilligen. Gottlob, daß sie fort sind!«

Während die Wittwe ein Glas füllte, trat die Mutter des Musikers Wilhelm in die Küche und begrüßte Barbara und den Junker. Sie trug ein Päckchen unter dem Tuch und drückte es fest an die Brust. Ihre Breite war immer noch stattlich genug, aber die Fülle, in der sie vor wenigen Monaten frisch gestrotzt hatte, schien nun zu einer Last geworden zu sein, die sie bedrückte.

Jetzt nahm sie das Päckchen in die Rechte und sagte: »Ich habe hier etwas für Euer Lieschen. Mein Wilhelm, der brave Mensch . . .«

Hier hielt sie inne und schob ihr Geschenk an die alte Stelle zurück. Sie hatte des Junkers gerupfte Gabe bemerkt und fuhr in verändertem Tone fort: »Ihr habt da schon eine Taube . . . desto besser! Bei dem Stadtsekretar fängt die Kleine auch an zu siechen. Auf morgen, so Gott will.«

Sie wollte gehen; der Junker hielt sie aber zurück und sagte: »Ihr irrt, würdige Frau. Den Vogel da habe ich heute geschossen, und ich will's nur gestehen, Mutter; mein Corvusvogel ist ein armseliger Rabe.«

»Dacht' ich's doch,« rief die Wittwe. »Solch' ein Greuel!«

Dabei stieß sie mit dem Finger auf die Brust des Vogels und fügte nachdenklich hinzu: »Aber Fleisch ist doch an dem Thierchen.«

»Ein Rabe!« rief die Frau des Steuereinnehmers und schlug in die Hände. »Freilich, die Hunde und Katzen hängen auch schon an manchem Spieß und sind in viele Pfannen gewandert. Da habt Ihr die Taube.«

Barbara wickelte den Braten so vorsichtig aus, als könnte er ihr unter den Fingern zerbrechen, und schaute ihn liebreich an, während sie ihn in der Hand wog; des Musikers Mutter aber sagte:

»'s ist schon die vierte, die Wilhelm schlachtet, und er sagt, es war' ein guter Flieger gewesen. Er hat sie eigens für Euer Lieschen bestimmt. Stopft sie hübsch mit gelbem Teig, nicht zu fest und ganz leicht gesüßt. Das ist was für Kinderschnäbel, und es bekommt ihr schon, denn es wird aus gutem Herzen gegeben. Legt das Thierlein fort. Was man so gekannt hat, das thut Einem weh, wenn man's todt sieht.«

»Gott vergelt's!« rief Barbara und drückte der braven Alten die Hand. »O, diese schrecklichen Zeiten!«

»Es findet sich doch immer noch etwas, um ›danke‹ zu sagen!«

»Freilich, denn in der Hölle ist es noch schlimmer,« gab die Wittwe zurück.

»Versündigt Euch nicht,« mahnte die Alte; »Ihr habt erst einen Kranken im Hause. Ist Frau Maria zu sprechen?«

»Sie ist in den Werkstätten, um den Leuten ein wenig Fleisch von dem unsern zu bringen. Wird es bei Euch auch so knapp mit dem Mehle? Kühe sieht man doch noch auf der Weide, aber das Korn ist wie fortgefegt; es gab keine Metze mehr auf dem Markt. Ihr nippt auch einen Schluck, Frau Gevatterin? – Soll ich die Schwägerin rufen?«

»Ich suche sie selbst auf. Der Wucher auf dem Markt ist nicht mehr zu dulden. Wir richten da nichts mehr aus, doch sie bringt die Leute schon zur Vernunft.«

»Die Krämer auf dem Markte?« fragte der Junker.

»Ja, Herr von Dornburg, ja. Die zarte Frau vermag Dinge: man sollt' es nicht glauben. Als es vorgestern wieder aufzunehmen galt, was jedes Haus an Vorrath besitzt, sind die Leute mir und den Anderen unwirsch begegnet, und manche haben uns gar die Thüren gewiesen. Aber sie ist zu den Gröbsten gegangen, und wie vor dem Volke Israel die Wellen des Meeres, so haben sich vor ihr die Keller und Speicher geöffnet. Wie sie es anstellt, Gott mag es wissen, aber die Leute können ihr nun einmal nicht widerstehen.«

Georg holte tief Athem und verließ die Küche. Auf dem Hof fand er einige Stadtsoldaten, Freiwillige und Bürgergardisten, mit denen er Fechtübungen anstellen wollte. Van der Werff hatte zu diesem Zweck seinen Hof zur Verfügung gestellt, und es gab sicherlich keinen Mann in Leyden, welcher geschickter gewesen wäre, des braven Allertssohn Stelle zu vertreten, als der Deutsche.

Barbara hatte nicht Unrecht. Seine Schüler sahen abgezehrt und elend genug aus, aber mancher von ihnen hatte in des Gefallenen Schule den Degen recht gut zu führen gelernt und war mit ganzem Herzen bei der Sache.

Mitten im Hof stand eine mit Werg gefüllte, mit Leder überzogene menschliche Figur, welche an der linken Seite der Brust ein rothes Blatt in Form eines Herzens trug. Auf dieses mußten die Ungeschickteren stechen, um Hand und Auge zu üben; die Anderen stellten sich einander paarweise gegenüber und fochten unter Georg's Leitung mit stumpfen Rapieren unblutige Zweikämpfe aus.

Dem Junker war recht flau zu Muthe gewesen, als er in die Küche gekommen, denn seine Brodration war zur größeren Hälfte bei dem unglücklichen Schneider geblieben; aber Barbara's Wein hatte ihm wohl gethan, und so nahm er sich zusammen und trat frisch und frank vor seine Fechter. Sein Koller flog rasch auf eine Bank, der Gürtel wurde fester gezogen und bald stand er in weißen Hemdsärmeln den Soldaten gegenüber.

Sobald sein erster Kommandoruf erscholl, flog das Fenster im Erker Henrika's klirrend zu. Früher war es oft geöffnet worden, wenn die Fechtübungen begannen, und sie hatte sich sogar nicht gescheut, dann und wann in die Hände zu klatschen und ein Bravo in den Hof zu rufen. Das war längst vorbei, denn schon seit Wochen hatte sie kein Wort und keinen Blick für den Junker. So war sie noch keinem Manne entgegengekommen, so würde sie sich um keines Fürsten Gunst bemüht haben! Und er? Er hatte sich erst kühl gezeigt und sie dann geflissentlich und immer geflissentlicher gemieden. Ihr Stolz fühlte sich tief gekränkt. Ihre Aufgabe, ihn von Maria abzulenken, war langst vergessen; und es war ohnehin etwas, – sie wußte nicht was, – zwischen sie und die junge Frau getreten. Kein Tag verging, an dem er ihr nicht begegnet wäre, und das freute sie, weil sie ihm dabei zeigen konnte, daß es ihr gleichgültig, ja unerfreulich sei, ihn zu sehen. Ihre Gefangenschaft drückte sie schwer, und sie sehnte sich namenlos in's Freie, in's offene Feld, in die Wälder. Trotzdem äußerte sie niemals den Wunsch, die Stadt zu verlassen, denn – Georg war in Leyden, und mit ihm beschäftigte sie sich wachend und träumend. Sie liebte ihn heute, sie verabscheute ihn morgen, und beides that sie mit dem ganzen Feuer ihres leidenschaftlichen Herzens. Auch an ihre Schwester dachte sie häufig und sprach für sie viele Gebete. Um die Gnade des Himmels durch gute Werke zu gewinnen und um der Langenweile zu entgehen, half sie den grauen Schwestern, welche neben dem van der Werff'schen Hause ein kleines altes Kloster bewohnten, die Kranken, welche sie liebevoll bei sich aufgenommen hatten, pflegen, und ging wohl auch mit Schwester Gonzaga in die Häuser der katholischen Bürger, um Almosen für das kleine Hospital zu sammeln. Aber das Alles geschah ohne freudige Hingabe, bald mit übergroßem Eifer, bald lässig und tagelang gar nicht. Sie war auf's Aeußerste reizbar geworden, aber wenn sie sich heute bis zur Unerträglichkeit hochfahrend erwiesen, zeigte sie sich morgen verstimmt und traurig, ohne doch die Beleidigten um Vergebung zu bitten.

Jetzt stand das Fräulein hinter dem geschlossenen Fenster und schaute auf Georg, der mit kühnem Ansprung auf die Lederfigur zuflog und mit dem Degen in der Rechten das rothe Herz des Phantoms durchbohrte.

Die Soldaten gaben ihre Bewunderung laut zu erkennen; auch Henrika's Augen hatten beifällig geleuchtet, aber plötzlich verloren sie ihren Glanz, und sie trat in's Zimmer zurück, denn Maria kam aus den Werkstätten in den Hof und ging mit niedergeschlagenem Blick an den Fechtern vorüber.

Die junge Frau war bleicher geworden, aber die blauen klaren Augen blickten selbstbewußter und entschiedener in die Welt als früher. Sie hatte gelernt ihre eigenen Wege zu gehen und im Dienste der Stadt und der Armen schwere Pflichten gesucht und gefunden. In manchem schweren Herzenskampf war sie Siegerin geblieben, aber der Streit war noch nicht zu Ende; das fühlte sie, so oft Georg's Wege die ihrigen kreuzten. Sie mied ihn, so oft es anging, denn sie verhehlte sich nicht, daß der Versuch, mit ihm wie mit einem Freund und Bruder zu leben, für sie und ihn nichts Anderes bedeuten würde, als den ersten Schritt in's Verderben. Er half ihr redlich und mit schwerer Selbstüberwindung, das empfand sie mit Dank, denn Herz an Herz stand sie mit ihrem Gatten auf dem Schiffe des Lebens. Sie wollte keinen andern Leiter als ihn; ja, der Gedanke hatte keinen Schrecken für sie, mit Peter zu Grunde zu gehen. Und doch, und doch! Georg war wie der Magnetberg, der sie anzog, und den sie meiden mußte, um das Fahrzeug vor dem Untergang zu bewahren.

Sie hatte heute in den Werkstätten die einzelnen Arbeiter nach ihrem Ergehen gefragt und Bilder des tiefsten Elends zu sehen bekommen. Die braven Leute wußten, daß die Uebergabe der Stadt ihrer Noth ein Ende machen konnte, aber sie wollten um der Freiheit und des Glaubens willen ausharren und trugen ihren Jammer wie ein unabwendbares Unglück.

In der Hausflur traf Maria mit Wilhelm's Mutter zusammen und versprach ihr, wegen des Wuchers der Marktleute heute noch mit der Frau des Stadtsekretärs Rücksprache zu nehmen. Dann begab sie sich zu dem armen Lieschen, das bleich und matt in einem kleinen Stuhle saß. Ihre schönste Puppe lag schon seit einer Stunde in der gleichen Lage auf ihrem Schooß. Die Händchen und der Wille des Kindes waren zu schwach, das Spielzeug zu regieren. Trautchen brachte einen Becher voll frischer Milch. An solcher fehlte es noch nicht gänzlich, denn es weidete immer noch außerhalb der Mauern eine stattliche Zahl von Kühen im Schutz der Kanonen, aber das Kind weigerte sich zu trinken und ließ sich nur unter Thränen bewegen, einige Tropfen auf die Lippen zu nehmen.

Während Maria der Kleinen liebreich zuredete, trat Peter in's Zimmer. Der hochgewachsene Mann, das Urbild des angesehenen Bürgers, welcher auch auf die Stattlichkeit seiner äußeren Erscheinung Sorgfalt verwendet, sah jetzt vernachlässigt aus. Das braune Haar hing ihm in die Stirn, der kräftige, scharf abgegrenzte Knebelbart verbreitete sich dünn und in hellerer Farbe über die Wangen, das Wamms war zu weit geworden und das Strumpfwerk saß nicht prall wie sonst, sondern faltig an dem kräftigen Bein. Mit einer nachlässigen Handbewegung begrüßte er seine Frau und trat dann zu dem Kinde, um es lange sprachlos und mit inniger Zärtlichkeit zu betrachten. Die Kleine wandte ihm das liebe Gesichtchen zu und versuchte ihn zu begrüßen, aber das Lächeln erstarb an ihrem Munde, und sie schaute bald wieder theilnahmlos auf die Puppe. – Da beugte er sich tief zu ihr nieder, hob sie zu sich empor, rief ihren Namen und streifte mit den Lippen ihre blassen Wangen. Das Kind berührte leise seinen Bart und sagte dann matt:

»Hinunter, Väterchen, mir wird schwindlig hier oben.«

Mit feuchten Augen setzte er nun seinen Liebling behutsam auf das Stühlchen zurück. – Dann verließ er das Zimmer und begab sich auf seine Stube. Maria folgte ihm dahin und fragte: »Noch nichts von dem Prinzen oder den Staaten?«

Er zuckte schweigend die Achseln.

»Aber sie werben, sie dürfen uns nicht vergessen,« rief die Bürgemeisterin lebhaft.

»Wir kommen um, und sie lassen uns sterben,« sagte er dumpf.

»Nein, nein, sie haben die Deiche durchstochen; ich weiß es, sie werden uns helfen.«

»Wenn es zu spät ist. Eins kommt zum Andern, das Unglück häuft sich, und auf wen fallen die Verwünschungen des verhungernden Volkes? Auf mich, auf mich, nur auf mich.«

»Du stehst mit dem Kommissar des Prinzen zusammen.«

Peter lächelte bitter und sagte: »Der ist gestern auch auf's Lager gekommen. Die Pest, sagt Bontius! Ich, ich allein trage Alles.«

»Wir tragen es mit Dir,« rief Maria. »Erst mit Armuth, dann mit Hunger, wie wir's verhießen.«

»Besser als das. Heute ist das letzte Korn verbacken worden. Mit dem Brod ist es aus.«

»Wir haben noch Rinder und Pferde.«

»Die kommen übermorgen daran. Es ward heute bestimmt: zwei Pfund mit den Knochen für je vier Menschen. Brod fort, Kühe fort, Milch fort. Und was wird dann? Mütter, Säuglinge, Kranke! Und unser Lieschen!«

Der Bürgemeister preßte aufstöhnend die Hände an die Schläfen. Maria aber sagte: »Muth, Peter, Muth. Nur Eins festhalten, Eins nicht sinken lassen: die Hoffnung.«

»Hoffnung, Hoffnung,« entgegnete er höhnisch.

»Nicht mehr hoffen,« rief sie, »heißt verzweifeln. Verzweifeln heißt in unserem Falle die Thore öffnen, die Thore öffnen heißt . . .«

»Wer denkt an das Oeffnen der Thore? Wer redet von Uebergabe?« unterbrach er sie heftig. »Noch halten wir fest, noch, noch . . . Da ist die Mappe, bring' sie dem Boten.«


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