Georg Ebers
Die Frau Bürgemeisterin
Georg Ebers

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Dreißigstes Kapitel.

Kurz nach Sonnenaufgang sprang Georg vom Lager, holte das Felleisen hervor und füllte es mit seiner kleinen Habe. Nur das Büchlein fand diesmal keinen Platz bei dem Andern.

In aller Frühe trat zugleich mit den ersten Arbeitern, welche sich in die Werkstätten begaben, auch der Musiker Wilhelm in den Hof. Der Junker sah ihn kommen und ging ihm bis zur Thür entgegen.

Das Antlitz des Künstlers zeigte nur geringe Spuren von der überstandenen Noth, aber sein ganzes Wesen bebte vor Erregung und sein Antlitz wechselte von Minute zu Minute die Farbe, als er Georg unvermittelt und mit fliegender Hast über den Zweck seines frühen Besuches Auskunft gab.

Ein spanischer Parlamentär hatte gestern kurz nach dem Eintreffen der städtischen Boten Briefe an den Bürgemeister van der Werff überbracht. Einer derselben war von der Hand des Junkers Nicolas Matenesse und enthielt nichts als die Nachricht, daß Henrika's Schwester mit Belotti in Leyderdorp angekommen sei und in dem Meierhofe des älteren Freiherrn von Matenesse Unterkunft gefunden habe. Sie sei sehr leidend und sehne sich nach ihrer Schwester. Der Bürgemeister hatte diesen Brief dem Fräulein übergeben, und Henrika war ungesäumt zu dem Musiker geeilt, um ihn aufzufordern, ihr aus der Stadt zu helfen und sie bis an die spanischen Linien zu geleiten. Wilhelm kämpfte einen schweren Kampf. Kein Opfer schien ihm zu groß, um Anna wiederzusehen, und was den Boten geglückt war, das konnte auch ihm gelingen. Aber durfte er der vom Rath festgehaltenen Geisel die Flucht erleichtern, die Thorwachen täuschen, seinen Posten verlassen? Georg war seit Henrika's Aufforderung, ihre Schwester aus Lugano nach Holland zu begleiten, von Allem unterrichtet, was diese betraf, und wußte auch, wie es mit dem Herzen des Musikers bestellt war.

»Ich muß, und doch darf ich nicht,« rief Wilhelm. »Hinter mir liegt eine furchtbare Nacht; denkt Euch in meine, denkt Euch in die Lage des Fräuleins!«

»Nehmt Urlaub auf morgen,« sagte Georg bestimmt. »Wenn es dunkel ist, geleite ich Henrika mit Euch hinaus. Sie muß schwören, in die Stadt zurückzukehren, wenn es zur Uebergabe kommt. Was mich betrifft, mich bindet kein Eid mehr an die englischen Fahnen. Schon vor vier Wochen wurde es uns freigestellt, in niederländische Dienste zu treten. Es kostet mich ein Wort beim Kapitän van der Laen, und ich bin mein eigener Herr.«

»Dank, Dank; aber das Fräulein hat mir untersagt, um Euren Beistand zu werben.«

»Narrheit, ich ziehe mit Euch, und wenn unser Ziel erreicht ist, schlag' ich mich durch zu den Geusen. Dem Rath wird unser Scheiden nicht weh thun, denn wenn Henrika und ich draußen sind, gibt es zwei Fresser weniger in Leyden. Der Himmel ist grau; wir bekommen hoffentlich eine finstere Nacht. Rittmeister van Duivenvoorde hat die Wache am Hohenort'schen Thore. Er kennt uns Beide und läßt uns durch. Ich will mit ihm reden. Liegt der Meierhof tief im Dorfe?«

»Nein, ganz vorn auf dem Wege nach Leyden.«

»Gut denn, wir sprechen uns noch um vier Uhr im Wechsel.«

»Aber das Fräulein . . .«

»Es ist früh genug, wenn sie vor dem Thore erfährt, wer sie begleitet.«

Als Georg um die verabredete Stunde in den Wechsel kam, erfuhr er, daß Henrika einen neuen Brief von Nicolas bekommen hatte. Er war den Vorposten von dem Junker selbst übergeben worden und hatte nichts als die Worte enthalten: »Bis Mitternacht ist die spanische Losung ›Lepanto‹. Dein Vater soll heute noch wissen, daß Anna hier ist.«

Nachdem der Aufbruch vom Hohenort'schen Thore auf neun Uhr Abends festgestellt worden war, begab sich Georg zum Kapitän van der Laen und dem Kommandanten van der Does und erhielt von dem Ersteren den erbetenen Abschied, von Janus einen Brief an seinen Freund, den Admiral Boisot. Als er seinen Leuten eröffnete, daß er die Stadt zu verlassen und sich zu den Geusen durchzuschlagen gedenke, erklärten sie, daß sie ihm folgen wollten, um mit ihm zu leben oder zu sterben. Nur mit Mühe gelang es ihm, sie zurückzuhalten. Vor dem Rathhause mäßigte er seine Schritte. Der Bürgemeister war in dieser Stunde stets dort zu finden. Sollte er ohne Abschied von ihm die Stadt verlassen? Nein, nein! Und doch: Seit gestern hatte er das Recht verscherzt, ihm frei in die Augen zu schauen. Er fürchtete sich, ihm zu begegnen, und es war ihm, als war' er ihm völlig entfremdet. So stürmte Georg an dem Rathhause vorbei und sagte sich trotzig: »Wenn ich auch ohne Lebewohl von ihm scheide; ich bleib' ihm nichts schuldig; denn seine Güte hab' ich mit grausamen Qualen, vielleicht mit dem Tod zu bezahlen. Maria hat mich vor ihm geliebt, und was sie mir ist und war und sein wird, das soll sie wissen, bevor ich gehe.«

In der Dämmerstunde kam er in sein Zimmer zurück, bat den Knecht, sein Felleisen zu dem Rittmeister van Duivenvoorde in der Wache am Hohenort'schen Thore zu bringen, und ging dann mit seinem Büchlein im Koller in das Vorderhaus, um von Maria Abschied zu nehmen.

Zagend stieg er die Treppe hinan und blieb im oberen Vorhause stehen.

Der Schlag seines Herzens benahm ihm den Athem. Er wußte nicht, an welche Thür er zu klopfen habe, und peinigende Furcht überkam ihn. Wie gelähmt blieb er minutenlang stehen. Dann raffte er sich auf, schüttelte sich und murmelte vor sich hin: »Zur Memme geworden.« Dabei öffnete er die in das Speisezimmer führende Thür und trat ein. Adrian saß bei einem brennenden Kienspan an der leeren Tafel hinter den Büchern. Georg fragte ihn nach seiner Mutter.

»Sie spinnt wohl in der Kammer,« antwortete der Knabe.

»Ruf' sie, ich habe ihr etwas Wichtiges zu sagen.«

Adrian entfernte sich und kam mit der Antwort zurück, der Junker möchte im Arbeitszimmer des Vaters warten.

»Wo ist Barbara?« fragte Georg.

»Bei Lieschen.«

Der Deutsche nickte, und während er neben dem Speisetisch auf und nieder ging, dachte er: »So kann ich nicht scheiden! Es muß herunter vom Herzen, einmal, ein einziges Mal will ich noch hören, daß sie mich lieb hat, will ich – will ich . . . Mag es ehrlos, mag es fluchwürdig sein, ich werde es sühnen; ich sühn' es mit meinem Leben!«

Adrian packte, während der Junker das Zimmer durchwanderte, die Bücher zusammen und sagte: »Brrr, Junker, wie Ihr heut ausseht! Man könnte sich vor Euch fürchten. Die Mutter ist schon da drin. Das Feuerzeug klappt; sie steckt wohl das Licht an.«

»Hast Du Zeit?« fragte Georg.

»Ich bin fertig.«

»So lauf' zu Wilhelm Corneliussohn und sag' ihm, es bleibe dabei: wir finden uns um Neun, pünktlich um Neun.«

»Im Wechsel?« fragte der Knabe.

»Nein, nein, er weiß schon; eile Dich, Junge.«

Adrian wollte gehen, Georg winkte ihn aber zu sich heran und fragte ihn leise: »Kannst Du schweigen?«

»Wie eine gebratene Scholle.«

»Ich schleiche mich heute aus der Stadt, und vielleicht komm' ich nicht wieder.«

»Ihr, Junker? heut?« fragte der Knabe.

»Ja, lieber Kerl. Komm' her, gib mir noch einen Kuß zum Abschied. Dies Ringlein sollst Du zum Andenken an mich behalten.«

Der Knabe ließ sich den Kuß gefallen, steckte den Ring an den Finger und sagte mit feuchten Augen: »Und das ist Euer Ernst? Ja, der Hunger! Weiß Gott, ich liefe Euch nach, wenn das Lieschen und die Mutter nicht wären. Wann kommt Ihr wieder?«

»Wer das wüßte, mein Junge! Behalte mich lieb, hörst Du? lieb! Und nun lauf!«

Adrian eilte die Treppe hinunter, und wenige Minuten später stand der Junker in Peter's Zimmer Maria gegenüber. Die Laden waren geschlossen und der Armleuchter auf dem Tische trug zwei brennende Kerzen.

»Dank, tausend Dank, daß Ihr gekommen seid,« sagte Georg. »Ihr habt mir gestern das Urtheil gesprochen, und heute –«

»Ich weiß, was Euch zu mir führt,« entgegnete sie mild. »Henrika hat mir Lebewohl gesagt, und ich darf sie nicht halten. Sie wünscht nicht, daß Ihr sie begleitet, aber Meister Wilhelm verrieth mir's. Ihr kommt, um Abschied zu nehmen.«

»Ja, Maria, Abschied auf ewig.«

»Will's Gott, so sehen wir uns wieder. Ich weiß, was Euch jetzt von hier forttreibt. Ihr seid gut und edel, Georg, und wenn Eins das Scheiden erleichtert, so ist es das: wir dürfen nun ohne Gram und Groll aneinander denken. Ihr vergeßt uns nicht, – und, daß Ihr es wißt: Euer Andenken lebt hier fort bei den Großen und Kleinen, – in Aller Herzen . . .«

»Und auch in Eurem, Maria?«

»Auch in dem meinen.«

»Haltet es fest! Und wenn der Sturm den armen Staub, der heute noch lebt und athmet und liebt und verzweifelt, aus Eurem Wege geweht hat, dann gönnt ihm einen Platz in Eurer Erinnerung.«

Maria schauderte, denn tiefe Verzweiflung blickte ihr mit düsterer Glut aus seinen Augen entgegen, und von banger Besorgniß erfaßt rief sie: »Was sinnt Ihr, Georg, um Christi willen, was habt Ihr im Sinne?«

»Nichts Uebles, Maria, nichts Uebles,« entgegnete er dumpf. »Wir Vögel singen nun einmal verschieden. Mit lauwarmem Blute und lauwarmen Freuden in Ehre und Frieden von einem Jahrzehnt in's andere schlendern, wer's kann, der ist glücklich. Mein Blut jagt in schnellerem Lauf, und was die gierige Seele mit ihren Polypenarmen einmal umklammert, das läßt sie nicht los, bis sie selber verröchelt. Ich gehe, ich komme nicht wieder; aber Euch und meine Liebe nehme ich mit mir in die Schlacht, in das Grab . . . Ich gehe, ich gehe . . .«

»So nicht, Georg, so dürft Ihr nicht scheiden.«

»Dann ruft doch: bleibt! Dann sagt doch: hier bin ich und fühle Erbarmen! Aber muthet dem unglückseligen Schelm, den Ihr geblendet, nicht zu, die Augen zu öffnen, zu schauen und sich an der schönen Schöpfung zu freuen. Da steht Ihr und zittert und bebt und habt kein Wort für Den, der Euch liebt, für Den – für Den –«

Die Stimme des Jünglings stockte vor tiefer Erregung und seufzend preßte er die Hand vor die Stirn. Dann schien er sich auf sich selbst zu besinnen und fuhr leis und traurig fort: »Hier steh' ich, um Euch ein letztes Mal zu sagen, wie's mit meinem Herzen bestellt ist. Süße Worte solltet Ihr hören, aber das Weh, der Jammer ergießen sich bitter in Alles, was ich auch sage. Nehmt dieses Büchlein. Ich habe darin, wenn das Herz mich antrieb, in der Sprache der Dichtung gesagt, wofür die dürre Rede keinen Ausdruck besitzt. Lest diese Blätter, Maria, und wenn sie in Eurer Seele einen Widerhall wecken, o so bewahrt sie! Das Geisblatt in Eurem Garten braucht ein Geländer, um aufzuwachsen und Blüten zu treiben; so mögen denn diese armen Lieder das Spalier sein, um das Euer Andenken an den Geschiedenen seine Ranken schlingt und sich freundlich befestigt. Lest, o leset, und dann sagt mir noch einmal: ›Ihr seid mir lieb‹, oder weiset mich von Euch.«

»Gebt,« sagte Maria und öffnete mit klopfendem Herzen das Buch.

Er trat von ihr zurück, aber sein Athem flog schnell und seine Augen folgten den ihren, während sie las.

Mit dem vorletzten Liede begann sie. Es war gestern kurz nach der Heimkehr Georg's entstanden und lautete:

»Fröhlich ziehen sie dahin,
Lichter strahlen durch die Scheiben,
Und die Straßen auf und ab
Wogt ein vielgeschäft'ges Treiben.
O der frohen Festesnacht;
Wenn's doch ewig also bliebe!
Ewig! ewig? Arme Pracht!
Kurzes Leuchten, arme Liebe.«

Das letzte Lied hatte Georg inmitten der vergangenen Nacht mit fliegender Hand niedergeschrieben. Er beklagte darin sein hartes Loos. Einmal, einmal mußte sie ihn doch erhören, und dann wollte er ein Lied ohnegleichen singen. Sie war den ersten Versen stumm mit den Augen gefolgt, aber nun begannen sich die Lippen zu regen und schnell und leis, aber doch hörbar las sie:

»Bald sollt' es tönen wie des Donners Schallen,
Bald sanft und flötend durch die Mainacht wallen,
Bald würd's zum Himmel jubelfroh getragen
Und schluchzen bald wie Philomelens Klagen.
Und dieses Lied, es könnte nie verklingen,
Zum Ohr der ganzen Menschheit müßt' es dringen,
Zur tiefsten Höhle, in die dunklen Grüfte,
Zum Aethermeer hoch überm Reich der Lüfte,
Allüberall würd' dann mein Sang vernommen,
Die Schöpfung lauschte sehnsuchtsvoll beklommen
Und stimmte ein in vollen Jubelchören
Und bäte Dich, den Sänger zu erhören.
Und ob der Epheu längst mein Grab umschlänge,
Sie tönten fort, die süßen Zauberklänge,
In aller Welt, durch alle Erdenzonen,
Gewaltig von Aeonen zu Aeonen!« –

Maria las und immer heftiger schlug ihr Herz, immer schneller ging ihr Athem, und als sie zu den letzten Versen gelangt war, stürzten Thränen aus ihren Augen und sie hob das Buch mit beiden Händen, um es fortzuschleudern und die Arme um den Hals des Sängers zu schlingen.

Er hatte ihr wie gebannt gegenüber gestanden und selig dem hohen Flug der eigenen Worte gelauscht. Bebend vor Leidenschaft hielt er an sich, bis sie verstummt war, bis sie die Augen von seinen Liedern getrennt und das Buch hoch erhoben hatte, aber dann, dann flog seine Widerstandskraft in alle Winde und außer sich rief er: »Maria, süßes, einziges Weib!«

»Weib!?« tönte es wie ein fragender, mahnender Weckruf in ihr wieder, und es war ihr, als ob eine eiskalte Hand ihr Herz berührte. Der Rausch verwehte, und als sie ihn mit weit geöffneten Armen und glühenden Augen vor sich stehen sah, schrak sie zusammen und ein tiefer Abscheu vor ihm und ihrer eigenen Schwäche erfaßte sie, und statt das Buch fortzuschleudern und ihm entgegen zu stürmen, riß sie es in zwei Stücke auseinander und sagte stolz: »Hier sind Eure Verse, Junker von Dornburg; nehmt sie mit Euch.« Dann fuhr sie mit mühsam behaupteter Würde weicher und leiser fort: »Ich werde auch ohne dies Buch an Euch denken. Wir haben Beide geträumt; nun laßt uns wachen! Lebt wohl; ich will beten, daß Gott Euch beschütze. Gebt mir die Hand, Georg, und wenn Ihr wiederkehrt, so heißen wir Euch als Freund in unserem Hause willkommen.«

Dabei wandte Maria sich von dem Junker ab und nickte nur stumm mit dem Haupte, als dieser ihr nachrief: »Vorbei! Alles vorbei!?«


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