Georg Ebers
Die Frau Bürgemeisterin
Georg Ebers

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Einunddreißigstes Kapitel.

Wie betäubt stieg Georg die Treppe hinunter. Beide Hälften des Buches, in dem er seit der Hochzeit in Delft einen ganzen Kranz von Liedern an Maria zusammengereiht hatte, lagen in seiner Hand.

Feuerschein aus der Küche erleuchtete die Hausflur. Er folgte ihm und trat, ehe er Barbara's freundlichen Gruß erwiederte, an den Herd und warf die Blätter, welche den reinen und süßen Duft einer schönen Jugendblüte enthielten, in die Flammen.

»Oho, Junker!« rief die Wittwe. »Schnelles Feuer paßt nicht für jede Speise. Was gibt es da zu verbrennen?«

»Unverständiges Papier,« gab er zurück. »Seid unbesorgt! Höchstens könnte es weinen und die Flamme verlöschen. Gleich ist es Asche. Da ziehen schon durch die schwarzen, verkohlten Blätter die Funken in geordneten Reihen. Wie hübsch das aussieht! Sie kommen und springen fort und verschwinden, – wie ein Leichenzug mit Fackeln in pechschwarzer Nacht. Schlaft wohl, arme Kinder, – schlaft wohl, liebe Lieder! Sehet her, Mutter! Da ballen sie sich zusammen, fest, krampfhaft, als thät' es ihnen weh, zu verbrennen.«

»Was das für Reden sind!« unterbrach ihn Barbara, stieß das verkohlende Buch mit der Zange in's Feuer und fuhr dann, indem sie auf die eigene Stirn wies, ermahnend fort: »Manchmal kann Einem für Euch bangen. Hohe Worte wie in den Psalmen sind nichts für den Alltag und unsere Küche. Wenn Ihr mein Eigener wäret, so bekämt Ihr manchmal etwas zu hören. Im gleichen Schritt kommt man auf der Wanderschaft am frühesten zum Ziel.«

»Ein guter Rath für die Reise,« entgegnete Georg und hielt der Wittwe die Hand hin. »Lebt wohl, liebe Mutter. Ich ertrag's hier nicht länger. In einer halben Stunde seh' ich diese gute Stadt mit dem Rücken.«

»Geht doch . . . wie wollt Ihr . . . Oder nimmt Euch das Fräulein in's Schlepptau? Edelmanns Sohn und Edelmanns Tochter! Gleich und gleich . . . Doch nein; es hat nichts zwischen euch Beiden gegeben. Ihr Herz ist gut, aber ich gönnte Euch eine Andere als den papistischen Alle-Tag'-anders!«

»Henrika hat Euch also erzählt . . .«

»Eben ist sie gegangen. Mein Gott, – sie hat ihre Sippschaft da draußen; und wir . . . eine Pflaume theilt sich schlecht in zwölf Stücke! Ich hab' ihr mein ›Gott befohlen‹ von Herzen gewünscht; aber Ihr, Georg, Ihr . . . .«

»Ich führe sie aus der Stadt, und dann, – Ihr werdet's nicht tadeln: dann schlage ich mich durch zu den Geusen.«

»Zu den Geusen! Das ist etwas Anderes, das ist das Rechte! Da seid Ihr am Platze! Frisch gewagt, Junker, und muthig hinaus! Gebt mir die Hand, und wenn Ihr meinem Jungen begegnet . . . er kommandirt ein eigenes Fahrzeug . . . . Mein Gott, und was mir da einfällt! Einen Augenblick könnt Ihr noch warten. Trautchen, komm her. Droben in der bunten Truhe liegen die wollenen Strümpfe, die ich für ihn gestrickt hab'. Mach' hurtig und hol' sie! Bei dem feuchten Herbstwetter auf dem Wasser kann er sie brauchen. Ihr nehmt sie mir mit.«

»Gern, herzlich gern, und laßt Euch für Eure Güte danken. Ihr seid gegen mich wie eine leibliche Mutter gewesen.« Georg ergriff die Hand der Wittwe und Beide hatten kein Hehl, wie lieb sie einander gewonnen und wie schwer es ihnen fiel, sich zu trennen. Trautchen hatte ihr die Wollarbeit in die Hand gegeben, und während die Wittwe dem Junker das letzte Lebewohl sagte, flossen viele Thränen auf die Strümpfe. Als Barbara merkte, daß sie schon vor dem ersten Regen naß wurden, schwenkte sie sie durch die Luft und gab sie dem Junker.

Die Nacht war finster, aber windstill, ja schwül. Im Hohenort'schen Thore wurden die Wanderer von Herrn van Duivenvoorde empfangen. Ein alter Wachtmeister trug ihm eine Laterne voran und öffnete die Pforte. Der Rittmeister umarmte seinen lieben tapferen Kameraden Dornburg, wenige Abschiedsworte und Segenswünsche hallten leis von den Wänden des Festungsgemäuers wieder und die Drei traten in's Freie.

Eine Zeitlang gingen sie schweigend durch das Dunkel. Wilhelm kannte den Weg und schritt dem Fräulein voran; der Junker hielt sich dicht an Henrika.

Alles war still ringsum, nur von Zeit zu Zeit ließ sich ein Kommandoruf von den Wällen, der Schlag der Thurmuhr oder das Gebell eines Hundes hören.

Henrika hatte Georg im Schein der Laterne erkannt, und als Wilhelm still hielt, um zu prüfen, ob sich Wasser in dem Graben befinde, über den er seine Begleiter zu führen gedachte, sagte sie leise:

»Ich hatte nicht auf Eure Begleitung gerechnet, Junker.«

»Ich weiß es, aber ich wünschte wie Ihr die Stadt zu verlassen.«

»Und Ihr macht Euch unsere Kenntniß des Losungswortes zu nutze. So bleibt denn bei uns.«

»Bis ich Euch in Sicherheit weiß, Fräulein.«

»Zwischen Euch und der Gefahr, die Ihr flieht, liegen schon die Mauern von Leyden.«

»Ich verstehe Euch nicht.«

»Um so besser.«

Wilhelm wandte sich um und bat seine Begleiter mit gedämpfter Stimme, zu schweigen. Lautlos schritten sie nun weiter, bis sie hart vor dem Lager die große Straße, welche sie umgangen hatten, erreichten.

Eine spanische Wache rief sie an.

»Lepanto!« lautete die Antwort.

Unbehelligt schritten sie mitten durch das Lager weiter. Eine vierspännige Kutsche, ein zwischen zwei winzigen Vorderrädern und einem Paar riesiger Hinterräder hängender Kasten fuhr langsam an ihnen vorüber. Sie führte Magdalena Moons, die Tochter einer angesehenen holländischen Beamtenfamilie, nach einem Besuch bei ihrem Verehrer und späteren Gatten, dem Maëstro del Campo Valdez, in den Haag zurück. Henrika fiel Niemand auf, denn es gab Frauen genug im Lager. Einige ärmlich angethane Weiber saßen vor den Zelten und flickten die Kleider der Soldaten. Vor einem Offizierszelte würfelten bunt aufgeputzte Dirnen beim Wein mit ihren Genossen. Hinter dem Feldherrnzelte glänzte hellerer Lichtschein. Hier waren unter einem Schirmdache mehrere Beichtstühle und ein Altar aufgerichtet. Auf diesem standen brennende Kerzen, und über ihm schwebte eine silberne Lampe; zu jenen drängte sich ein dunkler, in sich regungsloser Strom: kastilianische Krieger, von denen sich Einzelne erkennen ließen, wenn der Kerzenschein ihre Helme oder Panzer streifte.

Der laute Gesang von zechenden deutschen Landsknechten, das Wiehern und Stampfen der Pferde und das Gelächter der Offiziere und Dirnen übertönte den leisen Priestergesang und das Gemurmel der Beichtenden und Beter, aber der scharfe Klang des Meßglöckchens durchzuckte von Zeit zu Zeit in raschen Schwingungen den Lärm des Lagers. Hart vor dem Dorf erwies sich das Losungswort wiederum wirksam, und unangefochten gelangten sie bis zum ersten Hause.

»Hier sind wir,« sagte Wilhelm und athmete auf. »Benutzt die Nacht, Junker, und wandert weiter, bis Ihr die Spanier im Rücken habt.«

»Nein, Freund; Ihr seid auch noch da. Mich lüstet, Eure Gefahr zu theilen. Ich kehre mit Euch nach Leyden zurück und suche nach Delft zu kommen; einstweilen halte ich hier unten Wache, um Euch nöthigenfalls zu warnen.«

»Laßt uns hier Abschied nehmen, Georg; es können Stunden vergehen, bevor ich zurück bin.«

»Ich habe Zeit, entsetzlich viel Zeit. Ich warte. Da geht die Thür.«

Der Junker griff nach dem Degen, aber er löste bald die Hand von dem Griff, denn Belotti war es, welcher in's Freie trat und die Signorina begrüßte.

Henrika folgte ihm in das Haus und sprach dort leise mit ihm, bis Georg sie anrief und sagte:

»Fräulein van Hoogstraten, um ein kurzes ›Gott befohlen‹ darf ich doch bitten.«

»Lebt wohl, Herr von Dornburg!« entgegnete sie kühl und trat ihm dabei einen Schritt entgegen.

Auch Georg war ihr näher gekommen und hielt ihr die Hand hin. Sie zauderte einen Augenblick, dann reichte sie ihm die ihre und sagte so leise, daß nur er sie verstand:

»Liebt Ihr Maria?«

»Ich soll also beichten?«

»Schlagt mir die letzte Bitte nicht ab, wie die erste. Wenn Ihr großmüthig sein könnt, so antwortet mir ohne Scheu, ich werde es Niemand verrathen: Liebt Ihr Frau van der Werff?«

»Ja, Fräulein.«

Henrika athmete tief auf und fragte weiter: »Und nun stürmt Ihr in die Welt, um sie zu vergessen?«

»Nein, Fräulein.«

»Dann sagt mir, weßhalb Ihr aus Leyden geflohen seid.«

»Um ein Ende zu finden, das dem Soldaten ansteht.«

Da trat sie ihm ganz nahe und rief so höhnisch, daß es Georg in's Herz schnitt:

»Also auch Ihr! Alle erfaßt es: Ritter, Mädchen, Frauen und Wittwen; Keinen verschont es. Leid und kein Ende! Lebt wohl, Georg. Wir dürfen über einander lachen, wir können einander beklagen, ganz wie es uns paßt. Ein Herz mit sieben Schwertern durchstochen: welch' köstliches Bild! Laßt uns blutrothe Schleifen tragen, statt der grünen und blauen! Gebt mir noch einmal die Hand, und nun Gott befohlen!«

Henrika winkte dem Musiker und Beide folgten Belotti die schmale und steile Treppe hinan. Wilhelm blieb in einem kleinen Gemach zurück. An dieses schloß sich ein zweites, in dem ein schöner dreijähriger Knabe mit einer alten Italienerin weilte. In einer dritten Stube, welche wie alle anderen Räume des Meierhauses so niedrig war, daß ein großer Mann kaum aufrecht zu stehen vermochte, lag die Schwester Henrika's in einer breiten Bettstatt, über die sich wie ein flacher Baldachin ein von vier Säulchen getragener Schirm breitete. Kienspäne erleuchteten spärlich den langen und tiefen Raum. Die gelbrothen Strahlen ihrer breiten Flamme erstarben unter dem Baldachin und ließen das Antlitz der Leidenden kaum erkennen.

Henrika hatte die Italienerin und das Kind im ersten Zimmer flüchtig begrüßt. In das zweite drang sie mit ungestümer Hast, lief dem Lager zu, warf sich auf die Kniee, schlang die Arme leidenschaftlich um ihre Schwester und bedeckte ihr Antlitz mit heißen Küssen.

Sie rief nichts als »Anna«, und die Leidende fand kein anderes Wort als »Henrika«. So vergingen Minuten. Dann sprang das Mädchen auf, ergriff einen der brennenden Späne und leuchtete der Wiedergefundenen in's Antlitz. Wie bleich, wie abgezehrt es aussah! Aber es war immer noch schön, immer noch dasselbe wie früher. Eine wunderbare Mischung von Wonne und Schmerz bemächtigte sich der Seele Henrika's. Was kalt und hart in ihr gewesen, erwärmte sich wieder und schmolz, und der Trost der Thränen, den sie so lange entbehrt hatte, ward ihr in dieser Stunde wieder zu Theil.

Nach und nach begann die hohe Flut der Gefühle zu ebben, und der Wirrwarr der zärtlichen Rufe und abgerissenen Worte gewann Ordnung und sonderte sich in Frage und Antwort. Als Anna erfuhr, daß der Musiker ihre Schwester begleitet habe, wünschte sie ihn zu sehen, und da er zu ihr getreten war, streckte sie ihm beide Hände entgegen und rief:

»Meister, Meister; wie findet Ihr mich wieder! Sieh, Henrika, das ist der beste Mensch; der einzige uneigennützige Freund, den ich auf Erden gefunden.«

Wie waren die folgenden Stunden so schmerzlich bewegt!

Belotti und die alte Italienerin übernahmen es oft, für die Leidende zu sprechen, und nach und nach rundete sich vor Henrika und Wilhelm das Bild eines schmählich zerstörten und eines bessern Looses würdigen Lebens. Angst, Sorge und marternde Zweifel hatten von Anfang an Anna's Leben an der Seite des gewissenlosen Abenteurers und Spielers getrübt, dem es gelungen war, ihr junges, unerfahrenes Herz zu verblenden. Einem kurzen Rausch war eine Ernüchterung ohnegleichen gefolgt. Sie hielt das erste Kind an der Brust, als das Unerhörte geschah und Don Luis die Zumuthung an sie stellte, mit ihm in das Haus einer verkommenen Marchesa zu ziehen, in deren übel berufenen Spielsälen er schon seit Monaten die Abende und Nächte verbrachte. Sie hatte seine Forderung entrüstet zurückgewiesen, er aber war kühl und drohend auf seinem Willen bestanden: Da hatte das Hoogstraten'sche Blut sich geltend gemacht, und schnell und ohne Abschied war sie mit ihrem Kinde nach Lugano entflohen. Dort hatte der Knabe bei der alten Zofe ihrer Mutter Aufnahme gefunden, sie aber war nach Rom gezogen, nicht als Abenteurerin, sondern mit einem festen, würdigen Ziel vor Augen. In der neuen Musikschule Palestrina's und Nanini's wollte sie ihre Gaben zur vollen Ausbildung bringen und die Fähigkeit erwerben, ihr Kind unabhängig von seinem Vater und den Ihren, die nicht nach ihr fragten, mit Hülfe ihrer Kunst zu ernähren. Sie wagte viel, aber ihr schwebten ganz bestimmte Hoffnungen vor Augen, denn ein hoher Prälat und Musikfreund, an den sie aus Brüssel empfohlen worden war und der ihre Stimme kannte, hatte ihr das Versprechen ertheilt, ihr nach ihrer Heimkehr den Gesangsunterricht der jungen adeligen Fräulein zu übertragen, welche in einem Kloster zu Mailand erzogen wurden. Dies war seiner Obhut anvertraut, und der würdige Mann trug Sorge, Anna vor ihrer Abreise mit Briefen an seine Freunde in der ewigen Stadt zu versehen.

Ihr schneller Aufbruch von Rom war durch die Nachricht veranlaßt worden, daß Don Luis seinen Sohn aufgefunden und entführt habe. Sie konnte ihr Kind nicht lassen, und als sie ihn nicht mehr in Mailand antraf, zog sie ihm nach und fand ihn endlich in Neapel. D'Avila gab ihr dort den Knaben zurück, nachdem sie sich bereit erklärt hatte, die Rente, welche sie immer noch von ihrer Base bezog, auf ihn zu übertragen. Die lange, an Erregungen und Beschwerden überreiche Reise erschöpfte ihre Kraft, und krank und gebrochen kehrte sie nach Mailand zurück.

Ihr Gönner war besorgt gewesen, die Gesangsmeisterinstelle für sie offen zu halten, aber sie konnte der Thätigkeit, zu der sie die Leiterin des Klosters freundlich berief, nur kurze Zeit vorstehen, denn ihr Siechthum nahm zu und peinigender Husten verdarb ihre Stimme. Nun wandte sie sich wieder nach Lugano und suchte dort die armen redlichen Freunde durch den Verkauf ihres Schmucks schadlos zu halten, aber bald kam die Zeit, in der die freigebige Künstlerin es sich gefallen lassen mußte, von der Barmherzigkeit einer Dienerin zu leben. Bis vor einem halben Jahre hatte sie nicht eigentlich Noth gelitten, als aber der Mann ihrer Pflegerin starb, erhob sich die bange Sorge um das tägliche Brod, und nun brach die Mutterliebe Anna's Stolz: sie schrieb an ihren Vater als reuige, vom Unglück gebeugte Tochter, aber sie erhielt keine Antwort. Zuletzt hatte die mit ihrem Kinde darbende Kranke das Schwerste auf sich genommen, und den Mann, an welchen sie nur noch mit Abscheu und Verachtung denken konnte, angefleht, seinen Sohn nicht wie das Kind eines Bettlers aufwachsen zu lassen. Der Brief, welcher diesen Nothschrei enthielt, war Don Luis in Holland kurz vor seinem Ende zugekommen. Von ihm sollte ihr keine Hülfe werden. Aber Belotti erschien, und jetzt war sie wieder in der Heimat, an ihrem Lager standen der Freund und die Schwester, und Henrika sprach ihr Muth ein, auf die Vergebung des Vaters zu hoffen.

Mitternacht war vorüber und noch immer wartete Georg auf die Rückkehr seines Freundes. Der Lärm und das Geräusch des Lagers begannen zu schweigen und die Laterne, welche den weiten unteren Raum des Meierhauses von Anfang an spärlich beleuchtet hatte, glimmte nur noch düster. Der Deutsche theilte denselben mit Ackergeräth, Pferdegeschirren und mancherlei an den Wänden aufgehäuften Vorräthen an Korn und Gemüse, aber ihm fehlte die Lust, auch nur einen Blick auf seine bunte Umgebung zu werfen. Es gab für ihn nichts Erfreuliches in der Nähe und Ferne. Er fühlte sich gedemüthigt, schuldig, müde des Lebens. Die Achtung vor sich selbst lag im Staube, Liebe und Glück waren verscherzt, vor ihm lag nichts als eine farb- und reizlose Zukunft voller Bitterniß und Seelenqual. Erwünscht, schien ihm nichts als ein rasches Ende. Dazwischen trat ihm das freundliche Bild der Heimat vor das innere Auge, – aber es zerstob, sobald er sich der würdigen Gestalt des Bürgemeisters, seiner eigenen unseligen Schwäche und der Zurückweisung erinnerte, die er erfahren. Heftiger Ingrimm gegen sich selbst erfüllte ihn, und er sehnte sich mit leidenschaftlicher Ungeduld nach Schwertergeklirr und Kanonengebrüll, nach wildem Ringen Mann gegen Mann.

Die Zeit verrann, und er merkte es nicht, aber den Ausgehungerten begann marternde Sehnsucht nach Speise zu quälen. Rüben genug lagen dort an der Wand, und er verzehrte eine nach der andern, bis er das lang entbehrte Gefühl der Sättigung empfand. Dann setzte er sich auf einen Backtrog und bedachte, wie er sich zu den Geusen durchschlagen könne. Er kannte weder Weg noch Steg, aber wehe Denen, die sich ihm entgegenstellen würden. Arm und Schwert waren gut, und es lagen Spanier genug in der Nähe, die er beide fühlen lassen konnte. Seine Ungeduld begann sich zu regen, und es wollte ihm wie eine willkommene Zerstreuung erscheinen, als er Schritte näher kommen hörte und eine männliche Gestalt in's Haus trat. Er hatte sich mit dem Schwert zwischen den gekreuzten Armen an die Wand gestellt und rief dem späten Ankömmling ein lautes »Halt« entgegen.

Dieser zog sogleich den Degen, und als Georg ihn gebieterisch fragte, was er hier suche, entgegnete er mit knabenhafter Stimme, aber stolz und entschlossen:

»Das frage ich Euch! Ich bin hier im Hause meines Vaters.«

»So!« gab der Deutsche, welcher nun auch im trüben Schein des Lämpchens die Gestalt des Redenden erkannte, lächelnd zurück. »Steckt das Schwert getrost wieder ein. Wenn Ihr der junge Matenesse van Wibisma seid, habt Ihr nichts von mir zu besorgen.«

»Der bin ich. Aber was habt Ihr bei Nacht mit dem Degen im Arm in unserem Eigenthum zu schaffen?«

»Ich wärme die Wand zu meinem Vergnügen, oder wenn Ihr die Wahrheit zu hören begehrt, ich halte Wache.«

»In unserem Hause?«

»Ja, mein Herr Junker. Da oben ist Einer bei Euren Muhmen, der nicht gern von einem Spanier überrascht werden möchte. Geht ruhig hinauf. Ich weiß von dem Rittmeister van Duivenvoorde, ein wie wackerer Bursche Ihr seid.«

»Von dem Herrn von Warmond?« fragte Nicolas erregt. »Sagt mir: was führt Euch hieher, und wer seid Ihr?«

»Ein Kämpfer für Eure Freiheit, ein Deutscher, Georg von Dornburg.«

»O bitte, wartet hier. Ich komme gleich wieder. Wißt Ihr, ob Fräulein van Hoogstraten –«

»Da oben,« entgegnete Georg und wies in die Höhe.

Nicolas sprang mit einigen Sätzen die Treppe hinan, ließ seine Muhme rufen und theilte ihr eilfertig mit, ihr Vater habe auf der Jagd einen schweren Sturz mit dem Pferde gethan und liege krank darnieder. Er sei zuerst grimmig aufgefahren, als er, Nicolas, von Anna geredet, bald darauf habe er ihn jedoch freiwillig aufgefordert, ihm von ihr zu erzählen, und den Versuch gemacht, das Bett zu verlassen, um ihm zu folgen. Dies sei ihm zwar gelungen, aber vor dem Lager sei er zusammengebrochen. Wenn sein Vater morgen früh komme, so möchte sie ihm sagen, daß er ihn um Vergebung bitte; er sei im Begriff, das zu thun, was er für seine Schuldigkeit halte.

Den Fragen Henrika's wich er aus und erkundigte sich auch nur rasch nach Anna's Befinden und dem Leydener, von dem Georg geredet.

Als er den Musiker Wilhelm nennen hörte, bat er sie, ihn zu mahnen, bei Zeiten und womöglich in seiner Gesellschaft aufzubrechen. Dann verabschiedete er sich schnell und sprang die Treppe hinunter.

Wilhelm folgte ihm bald. Henrika begleitete ihn bis an die Stiege, um Georg noch einmal zu sehen, sowie sie aber seine Stimme vernahm, drehte sie sich trotzig um und kehrte zu ihrer Schwester zurück.

Der Musiker fand den Junker von Dornburg mit Nicolas in eifrigem Gespräch.

»Nein, nein, mein Junge,« sagte der Deutsche herzlich, »mein Weg kann nicht der Eure sein.«

»Ich bin siebenzehn Jahre alt geworden.«

»Das ist es nicht, das nicht. Ihr seid mir vorhin brav entgegengetreten und Eure Willenskraft ist die eines Mannes, – aber Euch soll das Leben noch Blüten tragen, will's Gott, recht schöne, – Ihr ziehet hinaus, um für Euch und Euer Land ein würdiges Loos in Freiheit und Wohlsein mit dem Schwert zu erstreiten, – ich aber, ich . . . gebt mir die Hand und versprecht mir . . . .«

»Die Hand? Da ist sie; aber das Versprechen muß ich Euch weigern. Mit oder ohne Euch: Ich geh' zu den Geusen!«

Georg blickte dem kecken Knaben mit Wohlgefallen in's Antlitz und fragte weich:

»Lebt Eure Mutter?«

»Nein, Herr.«

»So kommt. Bei den Geusen finden wir Beide wohl, was wir suchen.«

Nicolas schlug in die Hand, welche Georg ihm darbot, Wilhelm aber trat zu dem Junker und sagte:

»Das hab' ich von Euch erwartet bei der Jacobikirche und in Quatgelat's Schenke.«

»Ihr habt mir zuerst die Augen geöffnet,« rief Nicolas. »Kommt jetzt; wir gehen mitten durch's Lager; sie kennen mich Alle.«

Auf der Straße drängte sich der Knabe dicht an Georg und antwortete auf dessen Bemerkung, daß er einen schweren Stand mit seinem Vater bekommen werde:

»Das weiß ich, und es thut mir so weh – so weh . . . Aber ich kann doch nicht anders. Das Wort ›Verräther‹ lass' ich auf unserem Namen nicht sitzen.«

»Euer Vetter Matenesse, der Herr von Rivière, ist auch der guten Sache ergeben.«

»Aber mein Vater denkt anders. Er hat den Muth, von den Spaniern Gutes zu hoffen. Von den Spaniern! Ich habe sie kennen gelernt in diesen Monden! Einen tapfern Leydener Burschen, Ihr kanntet ihn wohl bei seinem Spitznamen ›Löwing‹, den er wahrhaftig verdient hat, den nahmen sie im redlichen Kampfe gefangen, und dann – mir graust noch jetzt, wenn ich daran denke, dann haben sie ihn aufgehängt mit dem Kopfe nach unten und ihn zu Tode gemartert. Ich war dabei, und kein Wort von ihren Reden ist mir entgangen. So müßt' es dem ganzen Holland gehen, dem Land und den Leuten, das war's, was sie wünschten. Und Aehnliches gibt es täglich zu hören! Kein Schimpf ist ihnen für uns zu schlecht, und wie die Soldaten, so denkt auch der König. Der Knecht eines Herrn sein, der uns quält und verachtet, das trage ein Anderer! – Meine heilige Religion ist ewig und unzerstörbar. Ob sie gleich vielen unter den Geusen verhaßt ist, mich soll es nicht grämen, – wenn sie die spanischen Ketten nur brechen helfen!«

Unter solchen Gesprächen schritten sie durch das Lager der Kastilianer, in dem schon Alles im Schlaf lag. Dann gelangten sie zu dem der deutschen Fähnlein, und hier wurde noch vor manchem Zelte munter gezecht. Am Ende des Lagerplatzes packte ein Marketender mit seinem Weibe den übrig gebliebenen Kram zusammen.

Wilhelm war schweigend hinter den beiden Anderen hergegangen, denn sein Herz war tief erregt und Schmerz und Seligkeit stritten darin um den Vorrang. Er war wie berauscht von lauter hohen Gefühlen, aber vor dem Stand des Marketenders hemmte er plötzlich den Fuß und wies mit der Hand auf das Backwerk, welches nach und nach in einer Kiste verschwand.

Der Hunger war auch eine ernste, nur zu ernste und gewaltige Macht in der Stadt da drüben, und so war es gar nicht erstaunlich, daß Wilhelm an die Verkäufer herantrat und mit leuchtenden Augen ihren letzten Schinken und so viel Brode kaufte, als sie noch übrig hatten.

Nicolas lachte über das Backwerk, welches er unter dem Arm trug, Georg aber sagte:

»Ihr habt der Noth noch nicht in's Auge geschaut, Junker. Diese Brode sind Arznei gegen die schrecklichste Krankheit.«

Beim Hohenort'schen Thore ließ Georg den Rittmeister von Warmond wecken und stellte ihm Nicolas als künftigen Geusen vor. Der Rittmeister beglückwünschte den Knaben und bot ihm Geld an, um sich in Delft mit allem Nöthigen auszustatten und in den ersten Wochen das Leben zu fristen; Nicolas aber wies das Anerbieten seines reichen Standesgenossen zurück, denn an seinem Gürtel hing ein Beutel voller Goldstücke. Ein Juwelenhändler im Haag hatte sie ihm gestern für den Smaragdring des alten Fräulein van Hoogstraten gezahlt.

Nicolas zeigte dem Rittmeister seinen Schatz und rief dann:

»Nun vorwärts, Junker von Dornburg. Ich weiß, wo wir sie finden; und Ihr, Herr Rittmeister van Duivenvoorde, Ihr erzählt dem Bürgemeister und Janus Dousa, was aus mir geworden.«


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