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Achtes Kapitel.

Am Morgen nach dem Tage, an welchem Mine der Schwester ihre Bereitwilligkeit erklärt hatte, dem Hauptmanne das Jawort zugeben, ging dieser selbst nach Soltaus Hause, um mit dem Mädchen zu sprechen.

Es war ein sonniger Tag, Ende Septembers. Die verschnittene Lindenlaube hatte schon gelbe Blätter und kahle Zweige, der einzige Apfelbaum in dem schmalen Mauergarten trug schöne rote Früchte, und Andreas saß oben, die Zweige schüttelnd und die Äpfel, welche er erreichen konnte, in einen umgehängten Sack pflückend. Mine stand unter dem Baum und rief dem Bruder Worte der Mahnung hinauf, ihr war immer Angst, wenn er etwas wagte. Er fühlte sich auch bald ermüdet und kam vorsichtig mit dem schweren Sack die Leiter herunter, welche das Mädchen festhielt.

»Sammle die abgefallenen auf, dann ist wieder genug Vorrat im Hause,« sagte er, und wandte sich zum Gehen. Mine, deren Gemüt von Unruhe und Erwartung erfüllt war, gewahrte jetzt die lange Gestalt ihres Bewerbers, noch fern, in der Gasse daher kommen. »Andreas, da ist er, bleibe hier.«

»Er sucht jetzt nur dich, Kind, und es wäre für euch beide schwerer, wenn ich dabliebe,« sagte der Bruder traurig; »es ist ja alles fest und beschlossen, warum noch aufhalten, was rollt und rollen soll?« Damit ging er, ohne sich nach dem Nahenden umzusehen, in das Haus.

Das Mädchen warf sich pochenden Herzens über die Äpfel im Grase, und sammelte so eifrig, daß sie weder das Öffnen der Lattenthür noch die festen Schritte, welche sich ihr naheten, zu hören schien.

»Gott zum Gruß, Jungfer Soltau!« Die ernste Stimme drang ihr durch Mark und Bein. Sie konnte nun nicht umhin, sich aus ihrer gebückten Stellung zu erheben und stand vor ihm, ohne die Augen aufzuschlagen, rot wie die Äpfel, von denen sie eine ganze Schürze voll an sich hielt.

»Ihr wisset, daß ich komme, Wichtiges für uns beide abzuschließen. Gönnet mir dazu Gelegenheit und Achtsamkeit, liebes Mineke.«

Die Kleine ließ ihre Äpfel in den Korb rollen, der zur Seite stand, und wandte sich ihm mit dem Ausdruck freundlicher Ergebung zu. Er nahm ihre Hand, führte sie vom Hause fort den langen Gang hinunter, der an der roten Mauer hinlief, und sagte: »Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei, sprach Gott der Herr; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Solches heilige Wort der Schrift sollen Männlein und Weiblein noch heutigen Tages wohl in Ehren halten und wandeln nach Gottes Willen. Da ich nun in die Jahre und allhier in der Stadt meiner Geburt zur Ruhe komme, verlanget auch mich nach einer Gehilfin, die um mich sei. Und so frage ich Euch, Jungfer Wilhelmine Soltau, wollet Ihr nach Gottes Verordnung mein Eheweib werden?«

Die ernste, ehrliche Art der Anrede hatte ein gutes und zuversichtliches Gefühl in dem Herzen des Mädchens erweckt, fast hätte sie sich Mut gefaßt, ihn anzublicken, während sie ihr Ja kaum hörbar doch mit ihrem süßesten Laut hervorbrachte. Sie waren jetzt zu Ende des Gartenwegs an eine von etwas Gebüsch umgebene Ecke gekommen, die durch den schräg aufgeführten Stützpfeiler der Stadtmauer und diese selbst gebildet wurde; in dem versteckten Winkel stand eine kleine Lattenbank. Das alte Gemäuer war ganz mit Epheu bewachsen und bildete so eine grüne, schattige Grotte. Hier nahm der Bräutigam das scheue Kind an sich und küßte es. Er, der auf seinen Kreuz- und Querflügeln manche Dirne mit kecker Faust erhascht und im Arm gehalten haben mochte, fühlte sich der reinen Maid gegenüber, die so einsam und unberührt unter der Obhut des ernsten Bruders herangewachsen war, erweicht und bewegt. Er spürte nichts von der inneren Unruhe, die ihn immer quälte und Neues erstreben ließ, und meinte, es gebe kein besseres Plätzchen auf der Welt, als das kleine Haus hinter der roten Mauer, in welchem er mit diesem herzigen Kinde wohnen sollte. Ja, er sah sich selbst im Lichte eines würdigen Stammvaters.

David Stern zog seine Braut neben sich auf die kleine Bank, seine gewöhnliche Steifheit wich einem wirklichen Behagen, und er begann, den Arm um Mine gelegt, mit ihr zu plaudern: wie er sich freue sie zu haben, wie viel er schon hin und her geworfen und gehetzt worden sei, daß er nun ganz gewiß in Lüneburg aushalten wolle. Er bat sie, die Hochzeit bald anzusetzen und mit jedem seiner Worte zogen mehr Vertrauen und Zufriedenheit in ihr Gemüt. Anne hatte recht gehabt, es war ganz schön so. Sie gewann auch jetzt den Mut, ihm zu antworten und so saßen sie unter herzlicher Zwiesprache eine ganze Weile. Dann dachten sie beide an Andreas und kehrten zum Hause zurück.

Zwischen dem eisenfesten Landsknecht und dem sinnigen Denker, der sein Liebstes hergeben mußte, war vor der Hand eine herzliche Verständigung schwer. Immerhin wurden gute Worte gewechselt. Anna machte aus, daß übermorgen der feierliche Verspruch des einigen Paars, nach Ortsbrauch im Kreise der nächsten Freundschaft abgehalten werden solle.

Der Tag kam rasch heran. Über der Lattenthür in der Hecke war in hohem Bogen ein grünes Gewinde angebracht. Auf den roten Backsteinen des Hausflurs und der Wohnstube lagen weißer Sand und grüne Zweige ausgestreut. In der Küche wurde gebacken und gebraten. Im Zimmer war über den Mitteltisch ein bunt ausgenähtes Leinentuch gebreitet, der Eheverspruch lag auf demselben, zur Unterschrift bereit.

Die Älterleute der Kagelbrüder waren, zur Gildenschaft der Braut gehörig, mit ihren Frauen als Zeugen eingeladen; es waren auch Verwandte der Soltaus darunter. Johannes Stern, der keiner Zunft angehörte, hatte sich stets zu dieser Gilde gehalten und war, als vermögender Mann, wohl gelitten unter den Kagelbrüdern und mit ihren ersten Familien befreundet. Von Seiten des Bräutigams sollten sein Fähnrich, Peter Holt, und der Feldscher, Gewert Hitzacker, Zeugen sein.

Frau Anne Stern stand in Mines Kammer hinter der Stube und putzte die Braut. Mine, die bis jetzt in der Küche geholfen, sah sehr rot aus, was ihrem weichen, runden Gesichte aber nicht schlecht stand. Augen und Züge hatten ganz den süßen und heiteren Ausdruck wieder, der ihr so natürlich war. Sie fand aber nicht den Mut, der Schwester anzuvertrauen, daß sie schon ganz zufrieden sei und ihren langen David recht gern habe. So glaubte Frau Anne ihr wie neulich gütlich zureden zu müssen.

»Sei nur getrosten Mutes, Mineke, bist du erst seine Frau, sollst du sehen, daß ihr ganz gut zusammen leben könnt. Eigentlich geht es den meisten so. Sie nähmen ebenso gern einen andern, als den sie nun 'mal haben sollen, oder ließen es ganz nach. Verliebt bin ich in Johannes auch nicht gewesen; das würde sich für eine ehrbare Jungfer auch gar nicht schicken. Ich hatte ihn dreimal gesehen, als er um mich warb. Die Eltern meinten, ich sollte es nur thun, und es ist ja auch ganz gut gegangen. Wir haben allewege nicht viel miteinander zu schaffen; er hat seine Arbeiten, ich meine. Und dein Mann wird auch mehr bei seinen Söldnern und auf den Wällen sein, als bei dir.«

»Das wäre ja schlimm,« flüsterte die Braut, und barg ihr liebliches Gesicht an der Schwester Brust. »Ich freue mich, wenn er bei mir ist.«

»Ah, steht es so, na, da brauche ich nicht mehr zu trösten.« Frau Anne lachte vergnügt, sie beeilte sich, die langen flachsblonden Zöpfe der Braut glatt einzuflechten und setzte dann die goldene Plittmütze mit den blauen Flatterbändern wie ein Krönchen darauf. Das weiße Hemde mit feiner Krause ging Mine bis an ihr rundes Kinn. Ein schwarzes Jäckchen mit ein paar goldnen Spangen über der Brust schloß sich an und ein breitgestickter blauer Rock vervollständigte den Feststaat.

Die Braut mußte viel an ihre Hete denken, wie war die immer selig gewesen, wenn sie Franz Töbing gesehen oder von ihm gesprochen! Jetzt verstand sie doch Freud' und Leid der beiden noch viel besser.

Als die Schwestern aus der Kammer traten, waren Andreas und die Brüder Stern in der großen Stube. David hatte sich mit einem neuen blauen Tuchrock und einem großen Spitzenkragen herausgeputzt. Er kam rasch auf Mine zu und reichte ihr mit vergnügt funkelnden Augen die Hand; wie hübsch das kleine Ding aussah. Er wollte sie gern küssen, aber er kam nicht so weit, die andern standen ja auch alle dabei. Nachher beim Verspruch gehörten die Küsse dazu.

Andreas schossen die Thränen ins Auge, eine eifersüchtige Wallung hatte ihn ergriffen, als er sein zartes Schwesterlein neben dem Eisenfresser sah. Aber Davids steife Zurückhaltung gefiel ihm, und er hatte plötzlich die bestimmte Empfindung: der Hauptmann ist trotz vieler Ecken ein redlicher, biederer Mensch. Dies Gefühl erfüllte ihn mit solchem Trost, daß er den eintretenden Gästen heiteren Gesichts entgegen gehen konnte. Man schüttelte sich die Hände und die Frauen küßten die Braut.

Dann begab sich Johannes Stern als Freiwerber an den Mitteltisch und sprach, während sein Bruder hinter ihn trat, zu Andreas, der ihm mit Seutemine gegenüber stand, den alten Werbereim.

In feierlicher Form, wie Brauch und Sitte es forderten, ging nun die Handlung vor sich. Der Freiwerber pries die Vorzüge seines Angehörigen und erhielt umständliche Antwort; zum Schluß kam man überein. Die Mundwalte von Braut und Bräutigam führten das Paar um den Tisch einander zu und der Verspruch war geschlossen. Nun unterzeichneten alle anwesenden Männer den Ehepakt und dann folgte ein reichliches Festmahl.

Das starke Bier wurde nicht gespart und es ging im Kreise der Männer, die am Tisch zusammen rückten, bald laut und munter her. Die Frauen lustwandelten währenddem zu zweien und dreien im Garten. Ein paar junge Mütter waren auch schon nach Hause gelaufen.

»Na, was meint ihr,« fragte Johannes Stern neckend in die Runde, »wird unser langer Schwertmagen jetzt hier aushalten? Mich dünkt, wir haben ihm ein gutes Teil erwählt.«

»Woran denkt Ihr, Gevatter Stern?« hieß es unter den Kagelbrüdern, »wie kommt Ihr darauf? – Was sollte den Hauptmann aus unserer guten Stadt und von seiner Feinsliebsten vertreiben?«

»Johannes denkt es selber nicht, er will mir im Übermut eins anhängen,« erwiderte David, strich sich den borstigen Schnauzbart und lachte zuversichtlich.

»Ich habe guten Grund,« sprach Johannes eigensinnig. »Ihr alle wisset, daß er in jungen Jahren zu keinem Beharren zu bringen war, daß er unserm Vater davon gelaufen, wieder gekommen und noch einmal landfremd worden ist.«

»Eigentlich gehört ein Kriegsmann auch nicht auf die faule Bank,« sagte der Fähnrich Holt. »Wenn's meinem gestrengen Herrn Hauptmann beikäme, wiederum ins Feld zu rücken, wär' ich der Letzte, es ihm zu verargen,«

»Ihr seid auch noch jung,« warf Andreas hin, »aber ein Mann, der Haus und Herd, Weib und Kind gewinnt, muß beständig werden.«

»Hat er aber eine Seele, wie Ihr neulich meintet, Andreas Soltau,« schrie Gewert Hitzacker und warf das schwarze Haar von der heißen Stirn, »so regiert ihn das närrische Ding und er thut nicht so wie er möchte, sondern wie sie will, die in ihm rumort; ha, ha, ha, ich danke für solche Unterthänigkeit!«

Andreas wurde ernst. »Allerdings liegt in jeglicher Seele ein anderer, ureigener Drang. Wer kann wissen, was sie durchmachte, und wie sie also gezogen wurde, daß sie unentrinnbar mit demselben Müssen kämpft.«

»Ist unser Hauptmann ein Kamel der Wüste gewesen, so hält ers nicht im Engen aus!« brüllte der Feldscher, entzückt von seinem Einfall.

»Mein Freund Lucas sagte Euch schon, daß eine von Gott geschaffene Menschenseele nie im Tiere war!« rief Andreas ärgerlich.

»Was ist das? – Was reden die?« fragten die Kagelbrüder durcheinander, »das sind unchristliche Gedanken.«

»Ihr habt ganz recht,« erwiderte David Stern unmutig und erhob sich. »Ich gehe zu meiner Braut hinaus.«

»Kann's Euch nicht verdenken, Herr,« lachte der Fähnrich und warf verliebte Blicke in den Garten.

»Starkes Bier ist mächtig,« sagte Johannes Stern, und stand gleichfalls auf, »es fördert seltsame Gespräche zu Tage, nach denen man nicht verlangt!« Alle erhoben sich jetzt. Neue Fragen und Einfälle tauchten auf, man stand hier und da umher; redete noch von den Zuständen in der Stadt, den Fenstern des alten Elver, dem Verbot gegen Töbing und trennte sich dann befriedigt.

Einige Tage später trat Johannes Stern wieder bei seinem Schwager Andreas ein, welcher, wie immer fleißig beschäftigt, an seinem Arbeitstische saß. Diesmal kam der sonst so Zerstreute seinem Gast freundlich entgegen. Andreas hatte es innerlich seinem Schwager abgebeten, daß er gegen die Verbindung der Schwester mit David Stern eingenommen gewesen war. Seutemine schien jetzt wohl zufrieden und gegen Davids Benehmen konnte der sorgsame Beobachter nichts einwenden. Im Vorderhause regte sich jene fröhliche Geschäftigkeit, welche eingreifenden Neugestaltungen voraus zu gehen pflegt. Frau Anne ließ ihre eignen Pflichten im Stich, um stundenlang mit der Schwester zu beraten, einzurichten und zu nähen. Der Bräutigam kam, doch nicht zu oft und nicht zu lange, er hielt nicht sonderlich gut am selben Flecke aus. Da er viel verdient hatte, befand er sich in der Lage, seine kleine Braut mit manchem Stück Putz oder Hausrat zu erfreuen, wodurch ihr gutes Herz zur Dankbarkeit gerührt und zu einer Freundlichkeit gedrängt wurde, die sie offenbar auch gern bezeigte.

So hatten die Verhältnisse einen befriedigenden Stand gewonnen, und Andreas begann einzusehen, daß Schwager Johannes einmal wieder recht gehabt und besser gewußt habe, was für ihn und die Seinen gut sei, als er selbst. Dies war eine an sich demütigende, aber doch den reinen Sinn des Verwachsenen mit Wärme erfüllende Thatsache. Er meinte, daß er etwas gut zu machen habe und war freundlicher und dienstwilliger denn je gegen den weltklugen Mann, den er in vielen Dingen gern als sich überlegen anerkannte.

Johannes Stern dagegen ging heute mit einer ihm sonst fremden Scheu und Verlegenheit vor. Er fragte, ob Andreas wohl sei; ob er nicht zu viel fremde Arbeit angenommen habe, und ob er etwa gewillt sei, ein großes, schwieriges Werk rasch und heimlich für ihn abzuthun.

Andreas bejahte mit Eifer und fragte, um was es sich handle.

Stern räusperte sich und wußte zu des Aufhorchenden Erstaunen augenscheinlich nicht recht, wie beginnen.

»Ist es etwas so Schwieriges, daß du es mir nicht zutraust?« fragte der Bereitwillige.

»Doch, doch, du kannst es; du schneidest ja die besten Stempel, die man sehen kann. Es handelt sich um ein absonderliches Geschäft, das Vorteil verspricht. Doch fürchte ich, du wirst mein Vorhaben schwer verstehen.«

»Das ist ja auch gar nicht nötig,« lachte Andreas gutmütig. »Ich weiß, daß mir Handel und Wandel und viele Dinge' dieser Welt stets fremd bleiben werden. Da ich das immer mehr einsehe, bescheide ich mich gern. Sag an, was soll ich thun, wie kann ich dir nützen?«

Stern atmete erleichtert auf. »Nun denn, vielen Dank, so wollen wir keine Zeit verlieren. Ich brauche neue und zwar ganz andere Lettern, als die sind, mit denen ich seither druckte und weiter drucken muß. Du sollst mir in kürzester Frist nach einer Schrift, die ich dir vorlege, Stempelplatten ausschneiden und zum Guß der Buchstaben, den ich hier vornehmen möchte, bereit halten. Dies ist aber eine Sache, die niemand hören darf,« fügte der Auftraggeber geheimnisvoll hinzu. Dann nahm er ein in Nürnberg gedrucktes Gebetbuch aus der Tasche, dessen Lettern von den Sternschen vielfach abwichen.

Andreas wurde von den Eigentümlichkeiten der Schriftzeichen als Mann von Fach gefesselt. Er begann zu vergleichen und zog in mancher Hinsicht das neue Alphabet vor. Die Arbeit reizte ihn und er gab ebenso willig das Versprechen der Vorsicht und Verschwiegenheit wie das, die Formen in möglichster Eile fertig zu stellen.

Der Buchdrucker schien erfreut, als diese Sache abgethan war. Er kam rasch auf etwas anderes und begann eine Beratung über den Zeitpunkt der Hochzeit des geschwisterlichen Paares, die nun baldigst stattfinden sollte. »Daß David vor dem Winter seine Ruhe und Ordnung haben möchte, wollen wir einsehen und ihm zugeben. Was meinst du, Andreas, wenn wir auf Mitte November die Feier ansetzten und alle nötigen Vorbereitungen beeilten?«

»Hm,« sagte der Verwachsene unsicher, »wenn es angeht, habe ich nichts dagegen. Ich verstehe von solchen Sachen zu wenig. Du thätest mir einen Dienst, Bruder, wenn du dich der Dinge annehmen wolltest. Ich habe ja ohnehin in nächster Zeit mit den Stempelplatten zu thun. Was weiß ich von dem, was zu einer Hochzeit Brauch und Sitte heischen. Als Ihr freitet, lebten unsere guten Eltern noch, und ich bin nie zu einer hochzeitlichen Gasterei gegangen.«

Lächelnd versprach Johannes Stern die Sache in die Hand zu nehmen, worauf sie sich, beiderseits wohl miteinander zufrieden, trennten.

Der Winter kam nun allmählich ins Land. Die abgefallenen dürren Blätter der verschnittenen Linden vor den Häusern führten ihren Wirbeltanz in den Straßen auf. Schwere Dunst- und Nebelmassen hingen über der Stadt.

Die Frauen hüllten sich fester in ihre Regenlaken und die Männer schlugen ihre pelzgefütterten Schauben enger übereinander. Die großen Kachelöfen wurden wieder geheizt, und in den Küchen rückte man dicht um das flackernde Herdfeuer zusammen. Auch die Zechstuben wurden eifriger besucht, doch lag dies nicht allein an der Jahreszeit, welche die lustigen Gänge vors Thor verbot, noch ein anderer Grund ließ die Bürger mit mehr oder minder Schadenfreude und heimlicher Lust die Köpfe zusammenstecken.

Sie flüsterten sich zu, daß Franz Töbing doch keinen Frieden halte, daß der kecke Sülzjunker, der zum gemeinen Mann stehe, dem Rat noch zu thun machen werde, und daß er, der so genau unter den Geschlechtern Bescheid wisse, der sicherlich von allen Kniffen und Geheimnissen des Stadtregiments wohl unterrichtet sei, am besten dazu passe, die Herrschaft der Sülfmeister anzugreisen.

Wie wohl that es den kleinen Leuten, die sich äußerlich tief ducken mußten und von den Großen und Reichen abhingen, zu wissen, es war einer da, der etwas für sie und ihr Recht wagte. Jeder einzelne kratzte sich hinter den Ohren und fand es für sich selbst höchst mißlich, gegen die althergebrachten Vorrechte des hochmögenden Rats, der wohllöblichen Sülfmeistergilde aufzutreten, allein, daß es geschah, daß man wußte, es werde im stillen gewühlt, schmeckte ihnen wie Festkuchen.

Nur Gerüchte waren es, die von einem heimlichen aufrührerischen Treiben in der Stadt umgingen, aber sie wurden geflissentlich genährt und hielten im stillen die Gemüter in Spannung.

So genau Franz Töbing wußte, daß er mit der früheren Dreistigkeit nichts mehr unternehmen durfte, ebenso bestimmt hielt er an dem Begonnenen fest. Es war ihm gelungen, einen versteckten Schlupfwinkel ausfindig zu machen, wo er mit den einzelnen Auserlesenen der verschiedenen Gewerkschaften, die zu ihm hielten, heimlich zusammen kommen könnte. Ein Salzmagazin der Töbings, dessen Aufseher Franz gut kannte, diente bequem seinen Zwecken. Es war von zwei einsamen Gassen aus zugänglich und augenblicklich wenig gefüllt.

Die Dunkelheit war früh hereingebrochen; über die Kaufhausbrücke eilten allein oder zu zweien und dreien heute gegen Abend viele verhüllte Männergestalten ungehindert zum Ziele.

Der Salzschuppen wurde von wenigen rot und schwer brennenden Laternen, die an den Ständern hingen, schwach beleuchtet. Franz Töbing hatte sich hier eine Anhängerschaft gegründet, die regelmäßig zusammenkam und sich die »Getreue Brüderschaft« nannte. Er stand, umgeben von einigen dreißig Männern, die jetzt ihre Mäntel und Kapuzen zurückgeworfen hatten und nun gespannt seiner Rede lauschten.

»Meine Schrift,« begann der Anführer zuversichtlich, »wird unsern Zweck und unsere Ziele der ganzen Stadt offen kund und zu wissen thun. Viele werden uns beipflichten und uns gern helfen. Ist die Mehrzahl auf unserer Seite, so sind die Gedankenlosen, die mitlaufen und mitschreien, auch gewonnen. Das Übergewicht der Meinung wird zu öffentlichen Kundgebungen führen. Wir treiben mit starken Volksaufläufen den Rat in die Enge und zwingen ihn zur endlichen Rechnungsablage über der Stadt Vermögen und zur Aufnahme von Mitgliedern aus der Bürgerschaft in das Regiment. Seid ihr's so zufrieden, meine »Getreue Brüderschaft?«

Ein Beifallsgemurmel antwortete. Dann sprach der Bäcker Altgesell Bernd Kröger: »Ihr wißt, wohledler Junker, daß wir Euch treu anhangen. Ihr habt recht, wenn Ihr sagt, wir sind keine Herde Schafe, so dem Hirten – dem Rat – und seinen Hunden – den Sülfmeistern – willig folgen und ihnen sonder Einwand Wolle und Fleisch liefern.«

»Thut uns kund, was Ihr wider das Regiment aufgesetzt habt!« rief Klas Rode, der Schmied, und wies auf ein Bündel, das Töbing unter dem Arme trug.

»Hier ist,« hob Franz wieder an, »in vielen Abdrücken eine Erklärung gegen den Rat, die alles ausspricht, was wir wollen. Ihr könnt jeder ein Häuflein dieser Blätter mitnehmen, müßt sie aber bis auf eins, das ihr behaltet, unterwegs abwerfen. Wir wollen einem jeglichen von euch seinen Rundgang anweisen, auf daß man in vielen Straßen und Häusern ein Blatt erhält. Schiebt es durch die Thürritzen, unter den Riegel der Fensterladen, werft es Vorübergehenden zu, schmuggelt es in die Zunftstuben und Werkstätten, wohin ihr wollt, aber bringt es unter die Leute. Ich selbst werde es diese Nacht an die Rathausthüren nageln und vor allem an den Fleck, wo die Verordnung gegen mich und unsere Zusammenkünfte angeschlagen war.« Hierauf las er seine Klage wider Rat und Sülfmeister laut vor.

Ein helles Beifallsgeschrei erhob sich. »So ist's recht, Herr! – Man muß den Hochmögenden die Meinung sagen! – Mit Euch wollen wir schon unsern Willen durchsetzen!« also tönte es durcheinander.

Es geschah, wie Franz Töbing vorgeschlagen. Am andern Morgen befand sich die ganze Stadt in einem maßlosen Staunen und Schrecken über die verteilte Schmähschrift. Dieselbe war überschrieben: »An den unlöblichen, unedlen, weder hohen noch weisen Rat der Stadt Lüneburg und die ihm gleiche Sülfmeister-Gilde.« Dann folgten in starken Worten eine Anzahl von Beschwerdepunkten, die viel Wahres enthielten, aber durchaus nicht in dem üblichen ehrerbietigen Ton, in dem sonst der Bürger zu den Herrschenden sprach, gehalten waren. Die Blätter trugen keine Unterschrift. Jedermann dachte aber an Franz Töbing und sein Name war in aller Munde.

Auch aus dem Druck konnte man keine Handhabe nehmen, jemanden zur Verantwortung zu ziehen. Das waren, wie alle Kenner versicherten, keine Sternschen Lettern. Wohlgebildet und leserlich standen die Buchstaben da, aber nur in Nürnberg hatte man mit solchen Typen gedruckt. Wie sollte man den dortigen Buchdrucker herausfinden und bestrafen?

In allen Häusern, auf Plätzen und Straßen wurden diese Fragen erörtert, zumeist jedoch im Kreise der hart getroffenen Geschmähten. Der Rat beraumte zum andern Mittage eine außerordentliche Sitzung an und die Kunde hiervon lief mit der Losung: Mittags Zusammenkunft auf dem Markte am Rathause, durch die ganze Stadt.

Am Abend herrschte schon eine außergewöhnliche Unruhe in den Straßen. Der erste leichte Frost war eingetreten. Hoch wölbte sich ein blauer von Sternen durchfunkelter Himmel. In den ungepflasterten Gassen knirschten und knisterten die übergefrorenen Geleise und Wasserlachen unter den stampfenden Schritten. Die reine helle Luft stärkte den Sinn und förderte den Thatendurst. Johlende Züge Übermütiger, Stocklaternen tragend, wanderten hin und her. Sie riefen sich Spottreden über den Rat zu, verbanden sich, trennten sich, kehrten in ihren Herbergen ein und beunruhigten bis zur späten Nachtstunde die Stadt.

Auch der nächste Morgen brach sonnenhell klar und frisch herein. Am Mittage vermochten die Glieder des Rats kaum durch die versammelte Menge zu dringen, die heute nicht so ehrerbietig auswich, wie sonst. Ja, es wurden Zurufe laut, die nicht freundlich klangen.

Endlich mochte die Ratssitzung beieinander sein, aber auch der weite Marktplatz stand dicht gedrängt voll Unzufriedener, die zum Altan des Rathauses empor blickten, durcheinander schrieen und nicht viel Gutes im Sinne haben mochten.

Von den leeren Tonnen, die am Ratsweinkeller lagen, wurde die größte durch geschäftige Hände heran gewälzt und inmitten der Menge, dem Söller am Rathause gegenüber in die Höhe gerichtet. Auf dieselbe sprang Franz Töbing. Schlank und stark ragte er über die Volksmasse empor und vereinigte seinen Ruf nach dem Rat mit den übrigen.

Endlich erschienen der Bürgermeister Conrad Elver und die Senatoren Stats Töbing, dessen Vetter Thomas Töbing und einige andere auf dem Geländergange am Rathause. Der alte schwer beleidigte Elver erhob seine Rechte und in unwillkürlichem Gehorsam legte sich plötzliche Stille über die bewegte Menge.

»Ein Höllengeist ist in euch gefahren, ihr ungehorsames Gesindel!« schrie der alte Mann in hellem Zorn mit größter Anstrengung seiner Lunge. »Was fällt euch ein? Mein Lebtage habe ich solche Rottierung nicht gesehen. Schert euch nach Hause. Ihr habt nichts mitzureden im Regiment. Wir wissen besser, was euch frommt, als ihr Unmündigen. Was versteht ihr von Geschäften? Irregeführt seid ihr von einem Verlorenen, einem Ausgestoßenen. Laßt euch nicht ein mit solchem –«

Plötzlich ausbrechendes Geschrei der »Getreuen Brüderschaft« schnitt dem erschöpften Alten das Wort ab. Dann winkte Franz Töbing, daß er sprechen wolle, und wiederum herrschte lautlose Ruhe. Er kam nicht auf den Gedanken, sich selbst zu verteidigen, er dachte nur an die Sache, welcher er jetzt zu dienen bestrebt war.

»Die letzte Bürgerversammlung ist vor mehr denn achtzig Jahren abgehalten,« rief er laut und bis in den letzten Winkel des großen Platzes wohl verständlich. »Schoß und Beisteuern zu Unternehmungen, die nur den Sülfmeistern zu gute kamen, sind vom Rate ausgeschrieben und mit Widerwillen von den bedrückten Gemeinen gezahlt. So darf es nicht bleiben. Wer soll mit thaten, soll auch mit raten! Ich frage euch, wann wollet ihr einem Ausschuß gemeiner Bürgerschaft Abrechnung über der Stadt Säckel geben?«

Mittlerweile hatte sich im Innern des Rathauses etwas zugetragen, das nicht ohne Einfluß auf die Antwort bleiben sollte, welche Franz Töbing gefordert. Man hatte, während eine kleine Anzahl der Ratsmitglieder auf dem Söller war, gesehen, daß das Wogen und Drohen der Volksmasse einen gefährlichen Anschein gewann und beschlossen, die Ratssöldner aufzubieten, um die Aufrührer mit Waffengewalt zu zerstreuen. Eben kam nun der Bote in die Ratsstube gelaufen, wo die zurück gebliebenen Glieder der Körperschaft in großer Unruhe beieinander saßen und meldete, der Hauptmann David Stern sei samt den ersten Anführern seiner Kompanie, mit Urlaub des Herrn Bürgermeisters Töbing, eben zu seiner Hochzeit abwesend. Und da der Zug wohl gerade in der Kirche sein möge, zaudere man, den Bräutigam und die fürnehmsten Gäste vom Altar abzurufen.

»Sieh, sieh,« sprach der Bürgermeister Witzendorff höhnisch mit einem Seitenblick auf den bleich und starr dasitzenden Töbing, »der Urlaub, so unserer Waffenhand zu teil geworden, kann dem Rädelsführer da draußen passen.«

»Holt Stern aus der Kirche! Gleichviel wo er ist, er soll kommen,« stieß Hieronymus Töbing hervor.

»Na, ihr hochlöblichen Kollegen,« sagte Jürgen von Dassel mit der ihm eigenen Gemütsruhe, »mir scheint, es brennt noch nicht. Ich bin nicht dafür, daß man ungeberdige Kinder gleich blutig schlägt. Laßt den Stern freien und fallet dem Gottesmann nicht in die Rede. Ich will zu Elver hinaustreten und ein paar Worte sprechen, die der Plebs zur Abkühlung dienen mögen. Erst wenn sie gar nicht anders wollen, schicken wir nach den Hellebarden.«

In dem Augenblicke, als draußen die Menge in lautloser Stille auf Konrad Elvers Antwort wartete, und Dassel eben auf den Altan trat, ertönte hell und lustig das Hochzeitsglöcklein von St. Marien, ja man unterschied die Weise der Zinkenisten, welche einem reicheren Hochzeitszuge voran zu ziehen pflegten. Die Marienkirche lag gleich hinter dem Rathause und unwillkürlich wandten sich Blicke und Gedanken des schaulustigen Volks nach jener Richtung. Bewegung und Gemurmel erhoben sich und einige Leute, welche den nach der Kirche führenden Straßen zunächst standen, liefen dieselben entlang. Ein anderer Geist, etwas von Ablenkung und Zerstreuung schien in die Menge zu fahren.

»Es ist der neue Hauptmann, der freit,« hieß es in Franz Töbings Nähe. »Na, die Sterns werden sich machen!«

»Und dazu die Sippschaft der Kagelbrüder von wegen der Soltau.«

»Ja, die Weiber der Kagelbrüder putzen sich heraus, als wären's Sülfmeisterfrauen.«

»David Stern seine Landsknechte und er selber, der lange Gesell, werfen sich auch genug in die Brust.«

»Ja, es mag ein rechter Staat sein!«

Sogar Franz Töbings Gedanken irrten in diesem wichtigen Augenblicke ab. Er sah im Geiste seinen kleinen Andreas bewegten Herzens neben der Schwester schreiten. Und Seutemine, wie kam sie zu dieser Heirat? Ob sie heute ihre Freundin Hete nicht schmerzlich entbehrte? Gewaltsam riß Franz sich empor und in die Gegenwart zurück. Die Zinkenisten lockten immer vernehmlicher und viele der Außenstehenden eilten den Ochsenmarkt und die Wagestraße hinunter. Die dichte Masse auf dem Markte hatte sich gelichtet.

Der Bürgermeister Jürgen von Dassel trat jetzt, nach kurzer Zwiesprache mit Elver, nahe an das Eisengitter des Söllers und winkte lächelnd hinunter. Eine zufriedene Bewegung, sehr verschieden von dem früheren drohenden Ernst, ging durch die aufhorchende Versammlung.

»Was macht ihr für Aufhebens, ihr guten Bürger von Lüneburg,« sprach der behagliche Mann. »Haben wir nicht immer für euch gesorgt? Hat es euch an Leibes Nahrung und Notdurft gefehlt? Lasset Euch keine Flausen vormachen, denn so ihr wiederkommen würdet, uns mit Geschrei zuzusetzen, würden wir euch nicht mit guten Worten, sondern mit scharfem Eisen dienen.«

»Bedenkt unsere gerechten Forderungen!« rief Franz Töbing, gegen das Gemurmel, das fast wie Entschuldigungen klang, zum Söller hinauf.

Dassel erhob noch einmal die Hand und Stille trat ein. »Wann haben die Väter der Stadt euch im Stich gelassen? Wir werden alles bedenken und erwägen und es soll euch fernerhin wohl ergehen.« Etwas wie Beifall antwortete auf diese unbestimmte Versicherung, der Söller wurde leer, und unten begann die Menge sich zu verlaufen.

Franz Töbing sprang von der Tonne. Er empfand ganz klar, daß seine Absicht vereitelt, daß alles was er geplant, umsonst gewesen. Von neuem mußte er sinnen und sorgen.

Johannes Sterns Haus am Sande war an diesem Abend fast leer. Sogar die Magd war im Hochzeitshause bei Soltaus, um die vielen Gäste bedienen zu helfen. Oben im Kämmerlein saß der Magd alte Mutter am Bette der Kinder. Die Hausthür war unverschlossen geblieben. Diebesgesindel gab es nicht in der ehrbaren Stadt, und die Gehülfen der Druckerei, die im Hofe wohnten, mußten ihren Weg durch das vordere Haus offen finden.

In seinem Zimmer hinter der Küche schritt Franz Töbing in ruhelosem Sinnen auf und ab. Ein kleines trübes Lämpchen stand auf dem Tische und beleuchtete das finstere Gesicht des Einsamen.

Er hatte erst daran gedacht, auch nach dem Hochzeitshause zu gehen, er wußte, daß er bei seinem Andreas immer willkommen sei. Vielleicht würden dieser und die kleine Seutemine es ihm sogar falsch deuten, wenn er an ihrem Ehrentage fehlte. Aber nein, Andreas konnte nicht an ihm zweifeln, der Freund würde von den Vorfällen auf dem Markte hören. Oder er selbst wollte ihm morgen sein Herz ausschütten. Daß er, der in einem solch' ernsten Kampfe stand, keinen Sinn für Festlichkeiten hatte, würde Andreas begreifen. Alsbald traten wieder die Verwicklungen, in die er sich gestürzt, in den Vordergrund seines Denkens.

Er wollte die »Getreue Brüderschaft« zusammenberufen und mit derselben ein neues Unternehmen gegen den Rat bereden. Während er alles überlegte, was günstig und was ungünstig für ihn gewesen, und indem er fühlte, daß er nun erst recht weiter müsse, und daß er sich auch auf eine bestimmte Partei verlassen könne, wurde er aus seiner Versunkenheit durch wiederholtes leises Anklopfen an die Thür aufgescheucht.

Er ging um zu öffnen. Eine gebeugte Frauengestalt, der das Schleiertuch über das Gesicht hing, stand vor ihm. Er sah wie die Frau bei seinem Anblick zusammenschrack, wie sie schwankte.

Hete? Der Gedanke durchzuckte ihn mit einem Wonneschauer. Er umfing die Bebende, das Tuch fiel zurück, es war – seine Mutter.

Sorglich führte er die tief Ergriffene zu einem Stuhl und schloß die Thür.

»Ich danke Euch, Mutter, daß Ihr noch an mich denkt, daß Ihr zu mir kommt,« sprach er bewegt und ergriff mit warmen Druck ihre schlaff herabhängende Hand.

»Franz, mein Sohn,« flüsterte sie mühsam stammelnd, »o wie lange habe ich dich nicht gesehen. Wie ist es möglich, daß du deinen Eltern so fremd geworden bist?« –

Er stand ernsten Angesichts vor ihr. »Ihr wißt, Mutter, wie das gekommen ist, und daß ich nicht anders konnte.«

»Hast du nie daran gedacht, dich deinem Vater zu unterwerfen?«

»Nein, nie.«

»Die Witzendorffin ist jetzt an Schorse von Dassel verheiratet. Davon würde also nicht mehr die Rede sein. Du könntest deinen Vater unter einer Bedingung versöhnen.«

»Und das wäre?«

»Töbing ginge gern mit dem alten Elver. Der ist ihm immer lieber gewesen, als Witzendorff, den auch ich von altersher nicht recht mag! Kämst du zu uns zurück und fingest ein vernünftiges Leben an, wären deine Thorheiten bald vergessen. Die Sülzjunker machen ja alle ihre dummen Streiche. Elvers Großtochter, die kleine Ide Laffert, war die Hübscheste auf Dassels Hochzeit und ist des alten Bürgermeisters Augapfel. Vater meint, er würde es fertig bringen, sie für dich zu kriegen.«

»Immer und ewig das alte Paktiren und Ränke schmieden!« rief der Sohn unwillig.

Die Mutter ließ sich dadurch nicht stören, sie hatte sich an der Besprechung ihres Lieblingsplanes ordentlich aufgerichtet. »Wie kannst du diese Braut abweisen, da du sie nicht kennst. Sie war noch nie auf einem der Geschlechtertänze und ist eben den Kinderschuhen entwachsen. Du solltest sie nur sehen!«

»Gebt Euch keine Mühe, Mutter,« sagte er düster. »Mein Weg führt zu anderen Zielen, als zur Brautschau. Ich dächte, Ihr solltet begriffen haben, daß ich auf solchen Köder nicht anbeiße. Selbst wenn Ihr mir jetzt meine Hete geben wolltet, wüßte ich nicht, ob ich alles Begonnene hinter mich werfen, mein Glück ergreifen und in das alte Wohlleben zurückkehren dürfte. Es giebt für jegliche Entschließung und That Zeit und Grenzen. Diesseits ist eines möglich, jenseits nicht mehr. Ich sehe hier Dinge, Mißstände, verschobene Zustände so klar, daß es nicht mehr in meinem Willen steht, sie zu übersehen und gehen zu lassen.«

»Es ist schrecklich und unnatürlich,« jammerte die Mutter, »daß du dich wider alle die kehrst, mit denen du zusammen gehörst. Möchtest du doch lieber verschwenden und prassen, wie die anderen Junker.«

»Es ist auch einer von den argen Fehlern im jetzigen Leben der Sülfmeistergilde, daß die Junker nicht zur Arbeit erzogen sind und ihr väterliches Gut in üppigem Wohlleben verthun, statt wie sonst auf den hansischen Comptoiren in Bergen und London den Handel zu erlernen und als tüchtige Geschäftsleute heimzukommen. Ein totes Glied fault. Wo ich jetzt so vieler fleißigen Arbeiter rühriges Treiben sehe, beklage ich unser Nichtsthun als sündlich.«

»Du solltest ja Vermögen und ein Gütlein zu verwalten bekommen.«

»Laßt es gut sein. Ich habe mir jetzt andere Arbeit gesucht,« sprach er kurzweg.

»Hast du wirklich keine bessere Antwort für deinen gebeugten Vater?«

»Ich kann nicht anders, liebe Mutter. Ihr habt mich in diese Bahn gedrängt. Nun ich meiner großen, frei gewählten Aufgabe von ganzer Seele angehöre, lasse ich sie nicht fahren.«

»Und was willst du eigentlich erreichen, Franz?«

»Verwaltung der Stadt durch alle Stände, Rückkehr zur Einfachheit und zum Fleiß von Seiten der Sülzbegüterten. Ausgleich zwischen allen Klassen zu gleichberechtigten Menschen.«

»Ich verstehe das nicht, aber es scheint mir, daß du Ungehöriges forderst, und dir gegen die feste Mauer der ehrwürdigen Ordnung den Kopf einrennen wirst.«

»Ich fordere nichts Ungehöriges, ich fordere nur – wirkliches Christentum.«

Die Mutter schüttelte den Kopf und erhob sich.

»Du willst schon gehen?« fragte er traurig.

»Ich muß,« erwiderte sie mit einiger Verlegenheit.

Da sie sich nicht halten ließ und von Unruhe ergriffen zeigte, nahm er das Lämpchen vom Tische und leuchtete ihr über die lange Diele bis zur Hausthür. Hier setzte er sein Licht auf die Stufen von Sterns Schreibstube und bat, seine Mutter durch die dunkeln Straßen heim begleiten zu dürfen. Sie wehrte ihn ängstlich ab. Als er in sie drang, bekannte sie ihm zögernd daß sein Vater draußen auf- und abgehe und sie erwarte. Töbing aber wollte nicht, daß der Sohn wisse, er selbst sei hergekommen.

Nach dieser Mitteilung trat Franz von der Thür zurück. Er umarmte seine Mutter, die ihn laut weinend verließ. Durch die nicht ganz geschlossene Hausthür gewahrte er, daß alsbald eine dunkle Gestalt sich zu der schwankenden Frau gesellte, sie unterstützte und mit ihr davon schritt.

Seit Franz mit seinen Eltern in Unfrieden lebte, war kein Augenblick so einschneidend und schmerzhaft gewesen wie dieser. Früher waren sie im Zorn geschieden. Er war hinaus getrieben und hatte nicht anders gekonnt. Jetzt kamen sie zu ihm. Er war sich bewußt, daß sie ihm nach ihrer Denkweise und Lebensauffassung schon mit diesem Schritt ein großes Opfer brachten und doch mußte er auch jetzt, wo er kalten Blutes war, sich von ihnen fern halten und ihre Vorschläge verwerfen. Jetzt mußte ers, wenn er Begonnenes nicht schmählich im Stich lassen, sich selbst und seiner besten Überzeugung nicht untreu werden wollte. Allein es war doch hart.

Langsam schritt er über die stille Diele seinem Stübchen hinter der Küche zu. Von oben, aus dem Kämmerlein der kleinen Mädchen, klang der alten Frau eintöniger Gesang, welcher die Kinder einschläferte und ihre Wächterin munter hielt. Er stand hier allein im fremden Hause, während die Eltern draußen, mit demselben Kummer im Herzen, den er erlitt, seinem eigenen früheren schönen Heim zuschritten. Ein Schauder kleinmütigen Wehes überlief ihn.

Als er die Lampe in seinem Zimmer auf den Tisch setzte, sah er dort einen zusammengeschnürten, stramm gefüllten Lederbeutel liegen, er griff danach, das Säckchen war mit Goldgulden gefüllt; eine Gabe seiner guten Mutter. Wie rührte ihn diese bedingungslose Fürsorge, diese freundliche Hülfe, die ihm hochwillkommen war und geradezu eine Last von seinem Gemüte nahm. Neuer Mut durchdrang ihn, jetzt durfte er nicht mehr zagen und schwanken. Er hatte klaren Blickes und gesammelten Sinnes bestätigt, was er erwählt, er wollte sich durch keine Niederlage entmutigen lassen, und das für recht Erkannte durch alle Anfechtungen hindurch vertreten und verteidigen.


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