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Zweites Kapitel.

Vor mehr denn hundert Jahren hatten die Lüneburger rund um ihre Stadt die Befestigungswerke verstärkt. Außerhalb der roten Mauer, die früher zur Verteidigung genügt hatte, zog sich jetzt ein hoher Wall mit Kanonen entlang, nach innen war derselbe gegen die alte Mauer aufgeschüttet, nach außen dagegen wurde sein Fuß durch neues starkes Mauerwerk gegen den breiten Stadtgraben abgestützt. Zwischen dem roten Thore und dem hochüberwölbten Sülzthore erhoben sich auf dieser neuen, äußeren Mauer zwei spitzdachige Wachtürme. Der alte runde Turm innerhalb des Walles, der nur wenig darüber empor ragte, war durch die Neuerungen überflüssig geworden. Diesen Turm, im Volksmunde »Der graue Mann« geheißen, hatte die Stadt etwa um die Mitte des 16. Jahrhunderts an den Bürger Konrad Soltau verkauft, den Besitzer des benachbarten Grundstücks in der Gasse, die »Hinter der roten Mauer« heißt.

Konrad Soltau gehörte zu den Kagelbrüdern, einer Genossenschaft von Krämern, die nach ihrer eigenartigen Kopfbedeckung so benannt wurden. Sie standen an Rang und Ansehen weit unter den Patriciern und Sülfmeistern, doch der Brauergilde gleich und über den verschiedenen Zünften der Gewerktreibenden, indes wurde die Trennung hier nicht so schroff aufrecht erhalten, wie dies nach oben hin geschah.

Konrad Soltau hatte den »Grauen Mann« als Lagerstätte für seine Heringsfässer und Buttertonnen, seine Käse und Stockfische benutzt, und, als ein Neubau seines Häuschen nötig geworden war, dasselbe dicht an die standfeste, klafterbreite Mauer des alten Turms gesetzt, so daß man aus dem Hause gleich in das kellerartige Nebengelaß desselben gelangen konnte, aus dem dann eine steinerne Wendelstiege zu zwei übereinander liegenden runden Gemächern und oben auf das flache Dach führte. Sein Sohn Wilm war dem Vater in allen Einrichtungen gefolgt, er hatte das Besitztum verbessert und gehofft, sein kleiner Andreas werde dereinst ebenso thun. Zu Wilms großem Leidwesen sollte sich sein Wunsch aber nicht erfüllen.

Andreas Soltau war ein schwächliches Kind gewesen und später verwachsen; seine sehr ausgesprochenen Neigungen gingen ihren eigenen Weg und richteten sich nicht auf Handelsgeschäfte. Außer dem Sohn, dem ältesten der Kinder, hatte Wilm Soltau noch zwei Töchter nachgelassen: Anna, die noch bei Lebzeiten der Eltern an den Buchdrucker Johannes Stern verheiratet worden war und Mine, das jüngste der Kinder, die kaum erwachsen war, als vor drei Jahren Vater und Mutter vom schwarzen Tod rasch dahin gerafft wurden.

Andreas, der beim Verlust seiner Eltern schon einige zwanzig Jahre zählte, war nun mit der jungen Schwester allein geblieben, nur eine alte Magd half im kleinen Hauswesen. Den Handel hatte der Erbe gleich aufgegeben, der Genossenschaft der Kagelbrüder gehörte er jedoch durch seine Geburt an. Sein schwacher, mißbildeter Körper hielt ihn ebenso sehr vom Verkehr mit seinen Altersgenossen zurück wie sein nachdenkliches Wesen ihn keine Freude daran finden ließ. Die oberen Geschosse des »Grauen Mannes« waren schon lange sein Lieblingsaufenthalt geworden. Hier beschäftigte er sich seiner Neigung nach mit übersinnlichen Forschungen, und betrieb manche Handgeschicklichkeiten, die Sorgfalt und Geduld erforderten. Er kannte den Bau der Uhr und wußte Fehlerhaftes zu bessern, machte Brillen in Ordnung und bastelte, wo er konnte. Da er im Besitz eines ausreichenden Vermögens war, brauchte er dem Erwerb nicht ängstlich nachzugehen. Seit Annas Verheiratung schnitt Andreas für seines Schwagers Schriftgießerei Stempel, die er mit großer Feinheit ausführte. Dagegen brachte Johannes Stern, der auch Handel mit Büchern trieb, dem Wissensdurstigen manch seltenes Werk.

Ganz besonders aber war Andreas durch den Umgang mit einem alten Freunde gefördert worden. Bei dem ehemaligen Mönch und jetzigen Bewohner und Prövener des benachbarten Hospitals »Zum heiligen Geist«, dem Bruder Lukas, hatte schon der sinnende Knabe seine besten Stunden erlebt und mit ihm liebte es jetzt der Mann, die höchsten Fragen der Erkenntnis zu erwägen.

Es war am Tage nach dem Gewitterabend, an welchem Franz Töbing vergeblich versucht hatte, des Buchdruckers heimgekehrten Bruder in die Trinkstube der Junker einzuführen. Im Prövenerhause des reichen Hospitals »Zum heiligen Geist« saßen Andreas und sein alter Freund in lebhaftem Gespräch einander gegenüber. Lukas, ein Greis, neben dessen Armstuhl zwei Krücken lehnten, neigte sein ernstes, von weißem Bart umflossenes Gesicht in wohlwollendem Lauschen dem Gefährten zu. Dieser hockte auf der Bank zu den Füßen des Alten.

»Du hast wohlgesprochen, Andreas, unser Denken kommt immer mehr überein,« sagte Bruder Lukas. »Alles, was die Sinne uns nicht darthun, bleibt ungewiß. Aber der Verstand heischet das Recht, immer weiter zu spüren und an verschlossenen Pforten zu rütteln. Es übet der Menschengeist nur seinen tröstlichen Vorzug vor dem Unvermögen niederer Geschöpfe, so er über das wahrnehmbare Irdische hinaus zu schweifen sucht.«

»Mag auch alles, was wir zu erkennen wähnen, immer wieder in Ungewißheit verdämmern,« rief Andreas, dessen kluges Gesicht in schöner Begeisterung aufleuchtete. »Fast ungern würde ich abstehen vom Grübeln und schier eine Seelentröstung ist es mir, wenn ich tiefer zu schauen meine, als nur auf die Außenseite der Dinge.«

»Du wirst bei fleißigem Sinnen und Denken fortschreiten, Andreas, im Gutsein sowohl wie in der Erkenntnis der Wahrheit. Wer aber könnte sagen, daß er innerlich ganz reif und in diesem Leben fertig würde? Ich, der Greis, der ich täglich vor meinem Ende stehe, glaube klarer zu sehen als viele, die vom Jenseits predigen. Und ich bin überzeugt, daß der große Schritt durch die Dunkelheit des Todes nur den Übergang zu einem neuen Werden bedeutet. Wer sich recht prüft, weiß, daß nichts in ihm fertig wurde. Es mögen wohl viele müde sein und wähnen genug gethan zu haben. Die Müdigkeit aber ist nur des Leibes Teil, die unsterbliche Seele hat noch reichliche Arbeit vor sich, und Gottes Wille, der sie weiter erzieht, schafft ihr neues Leben!«

»Die schöne Gewißheit, daß meine Seele ein Geschöpf Gottes für sich ist und des Leibes nur als Schale bedarf, in der sie sich birgt und wirket, wird immer fester in mir und hebt mich über alles Ungemach des Tages hinaus.«

»Sieh jegliches Leid, so über dich kommt, als Übung und Prüfung an, mein Sohn, dann wird nichts dich überwältigen!«

Das kleine Fenster des Zimmers stand offen; unter demselben zog sich das Gehöft des großen Hospitals, belebt von vielen kommenden und gehenden Leuten, entlang. Die lebhaft Redenden hatten auf das Treiben keine Acht gegeben. Jetzt aber wurden sie aufgescheucht, ein freundliches Gesicht erschien am Fenster, und ein paar runde Arme legten sich auf die Fensterbank.

»Gott zum Gruß, Bruder Lukas,« sagte die Außenstehende, »seid nicht böse, daß ich Andreas abhole. Hauptmann Stern ist da; es will sich, wie ich meine, ziemen, daß Andreas den Gast begrüßt.«

»Ich komme, Mine,« sagte der Gerufene zerstreut und erhob sich von seinem Schemel. Andreas Soltau hatte eine kleine, magere Gestalt, aber Brust und Rücken waren stark heraus gewölbt, sein großer Kopf steckte tief zwischen den hohen Schultern. Er hatte lange Arme mit weißen, fein geformten Händen, und wer in seine hellen, klaren Augen, in sein ernstes, wohlgebildetes Gesicht sah, das ohne einen ältlichen, krankhaften Zug schön gewesen wäre, der vergaß den verbildeten Körper.

Der Scheidende reichte dem Greise die Hand mit warmem Druck. Sie sprachen noch ein paar flüchtige Worte und dann gesellte sich Andreas draußen zu seiner Schwester.

Sie war ein rundes, bewegliches Ding, nicht viel größer, als der verwachsene Bruder, aber von gutem Ebenmaß. Das volle Gesicht mit den rosigen Wangen, den kleinen, lachenden Augen, der Stutznase und dem schwellenden Munde trug den Ausdruck reiner Güte und lieblicher Heiterkeit. In ihrem ganzen Wesen lag noch viel kindliche Schüchternheit.

»Warum ließest du mich nicht durch Lotte rufen, Seutemine; du hättest dem Bruder unseres Schwagers Gesellschaft leisten können,« sagte Andreas mit leisem Vorwurf.

Das Mädchen errötete: »Ich mochte mit dem Hauptmann nicht allein sein,« flüsterte es und zog den Schürzensaum durch die Finger.

»Ich halte Herrn David für ehrbar,« des Bruders scharfer Blick ruhte auf den Zügen der Schwester.

»Gewiß, er redet ja immer – so fromm!«

Sie hatten den Hof des Hospitals zum Heiligen Geist verlassen und jene enge Gasse hinter der roten Mauer überschritten. Eine dicke grüne Hecke, durch welche eine Lattenthür führte, grenzte das Besitztum der Geschwister ab.

Das Haus mit dem runden, grauen Turm dahinter lag an drei Seiten frei. Vom Turm aus stützte die breite rote Mauer der früheren Befestigung den Wall. Rechts und links zog sich ein schmales Stück Gartenland hin, welches, beschattet von dem hohen Walle, an dem es entlang lief, etwas verkümmert aussah.

Als die beiden Heimkehrenden durch die Lattenthür schritten, trat ihnen der steife Söldlingsführer entgegen. Andreas begrüßte den Gast. Derselbe war noch nicht lange in der Stadt und seit mehr als zehn Jahren fort gewesen, daher stand er, trotz der Verwandtschaft, den beiden noch fremd gegenüber.

»Verzeihet, daß Ihr warten mußtet, Herr David. Tretet ins Haus,« sagte Andreas und nahm die Kagel, jene runde Mütze, die er als Standesabzeichen trug, grüßend von seinem lockigen braunen Haar.

Der dürre Hauptmann verneigte sich. Heute beim Tageslicht sah man, daß die Züge scharf und verwittert waren, obwohl der Mann nicht viel älter sein mochte, als der Verwachsene. Es lag eine erzwungene Würde in seinem Wesen, die kleinen dunklen Augen konnten jedoch lebhaft blicken, sogar aufglühen und flackern.

»Wollet mir das verwandtschaftliche Recht freundlichen Verkehrs gestatten. Der seiner Heimat Entfremdete sehnet sich, bekannt und warm zu werden.«

»Bei uns seid Ihr allemal willkommen, David Stern.«

»Ihr habt meinetwegen einen Besuch abbrechen müssen. Ich möchte Euch nicht stören.«

»Drüben bei meinem alten Freunde bin ich so oft, daß es schwer zu sagen ist, wann man mich nicht dort findet.«

»Und wer ist jener geschätzte Freund?«

Während dieser kurzen Unterredung waren die beiden in das Haus getreten. Über eine große Diele, auf der sich noch manche Geräte und Vorkehrungen befanden, die von den früher hier betriebenen Handelsgeschäften nachgeblieben waren, gingen sie in das Wohnzimmer, zur Rechten am Flur gelegen. Mine war schon längst in die zur Linken befindliche Küche geschlüpft. Jetzt brachte sie den Männern einen Bierkrug und zwei Schnitte Brot mit Käse, lief aber sogleich wieder hinaus.

»Wer mein alter Freund ist,« erwiderte Andreas, als sie sich am Mitteltische einander gegenüber niedergesetzt hatten, »darauf kann ich Euch kurz, aber auch mit einer langen, traurigen Geschichte antworten.«

»Nehmet an, daß ich voll Freundschaft bin, und daß Ihr kein Wort in den Wind redet. Ich möchte kennen, was Euch angeht und heimisch werden in Stadt und Sippe.«

»Des alten Barfüßermönches, Bruder Lukas, Vergangenheit birgt keine Geheimnisse. So Ihr also Teilnahme hegt, hört mir zu. Es mag in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, als die letzten Bettelmönche, die in dem Kloster eines Fleckens an der Elbe saßen, und – weil das Landvolk ihnen gut war – sich lange gegen landesherrlichen Bescheid, Visitationen und Reformationen gewehrt hatten, ihr Kloster doch endlich verlassen mußten. Sie wollten sich gen Süden einem neuen Obdach zuwenden und zogen, da ihr Weg sie so führte, und sie von der reichen Stadt Almosen für die Reise erhoffen mochten, durch Lüneburg. Die Bürgerschaft war aber dazumal, wie auch noch heute böse gegen die Papisten gesinnt. Das Volk lief um die singenden Kuttenträger zusammen. Man schrie und schimpfte und wurde alsbald thätlich. Die armen alten Gesellen begannen zu laufen, kamen mit den Holzsandalen schwer vorwärts, verloren den Bettelsack, stolperten und reizten ihre Verfolger zum Gespött und Gelächter. Das wurmte den Jüngsten von allen, den Bruder Lukas. Er setzte sich auf seine Art zur Wehr, schalt wieder, schwang den Stock und erzürnte dadurch die Bande noch mehr. Man hob Steine gegen ihn auf, auch er mußte weichen, doch die wutentbrannte Menge warf ihn nieder und mißhandelte ihn, während seine Gefährten entkamen. Mein Vater, ein damals noch junger Mann, ist eben, als dies geschehen, die Straße entlang geschritten. Da ihn die Roheit, deren Zeuge er ward, verdroß, trieb er die argen Buben mit Hilfe etlicher Gutgesinnter, die sich zusammen gefunden, auseinander. Dann sah er sich nach dem Darniederliegenden um, und fand ihn schlimm zugerichtet. Die Kagelbrüder hoben ihn auf und trugen ihn in das nahe Spital zum Heiligen Geist. Zwar kostete es erst Mühe, dem Katholischen Eingang zu schaffen, da er aber so übel mitgenommen war, daß man für sein Leben fürchtete, gab der Gastmeister nach und ließ ihn einziehen. Lukas hatte sein Bein zweimal gebrochen und war am Kopfe so wund geschlagen, daß ihm die Besinnung abging. So hat er lange erbärmlich hingelegen und ist erst nach Jahr und Tag als ein lahmer, bresthafter Mann aufgekommen. Da hat sich's nun anfänglich gefragt, wohin mit ihm? Sie wollten ihn nicht als Prövener – das heißt als lebenslänglichen Insassen – behalten, und es kostete meinem Vater selig viele Mühe, Lukas, den er lieb gewonnen, allda unterzubringen. Er ging allerlei hohe Bekanntschaften im Rat und bei der Sülze, die mitzureden hatten, bittweise an, und endlich ist Lukas, den doch die Leute der Stadt geschädigt hatten, Prövener geworden. Da er so nahe bei uns wohnte, ist er bald von meinen Eltern zur Sippe gerechnet, und bin ich seit Kindesbeinen viel bei ihm gewesen.«

»Gestattet mir eine Dareinrede,« sagte David, der achtsam zugehört hatte. »Wie konnten Eure Eltern, Herr Andreas, ihres Kindes Seele einem Mönch anheim geben? Fürchteten sie nicht den katholischen Sauerteig, der Euch in unserer reinen Lehre hätte beirren können?«

Andreas lächelte. »Lukas ist keiner von den Eifrigen und Gestrengen. Sein Leid hat ihn milde gemacht für jedermanns leibliche und geistige Not. Er gönnt es jedem, auf seine Weise mit unserem Herrgott fertig zu werden.«

»Und solcherlei Lauheit möget Ihr loben? Welchergestalt wollet Ihr jenes gleichgültige Gebühren mit der strengen lutherischen Lehre, der wir begnadigt sind anzugehören, in Einklang bringen?«

»Darauf weiß ich Euch kaum zu dienen. Ich kann Euch von meinem trefflichen Freunde nur so viel berichten, daß er großen Trost für seine mannigfachen Leiden in der Wissenschaft, im Denken über Gottes Ordnung, im Studium aller der Bücher, die wir ihm schaffen konnten, gefunden hat. Und da wir den Baum an seinen Früchten erkennen, meine ich, sein gebrochener Lebensbaum muß guten Boden gefunden haben, da er die Frucht der Zufriedenheit und freundlichen Ergebung zeitigte. Ich aber habe meinen Geist an dem seinen aufgerichtet. Auch mir ist auferlegt, auf viel zu verzichten, darum aber nicht zu verzagen; hilft mir der Verstand, den Lukas bildete, dazu, so kann in seinem Glauben kein Arg sein.«

»Euer Verstand?« sagte der Hörer nichtachtend. »Verlaß dich auf den Herrn von ganzem Herzen und verlaß dich nicht auf deinen Verstand!«

»Ich kann Euch ein anderes Bibelwort dagegen einwenden,« lächelte Andreas. »Wohl dem Menschen, der Weisheit findet, und dem Menschen, der Verstand bekommt!«

In diesem Augenblicke wurde die Thür des Zimmers sacht geöffnet, Mines blonder Kopf sah um die Ecke und sie nannte mit schüchterner Stimme ihres Bruders Namen. »Komm herein!« rief Andreas ihr zu; sie that es, allein mit sichtlicher Verlegenheit. »Nun Kind, was giebt es?«

»Junker Töbing ist da –«

»Warum tritt er nicht näher?«

»Er will ja nicht.«

»Wo ist er?«

»Er läuft draußen auf und ab – er ist wieder ganz wild.«

Über Andreas' heiteres Gesicht legte sich eine Wolke, er erhob sich. »Nicht wahr, Seutemine, er möchte mich allein?«

Das Mädchen nickte mit einem scheuen Blick auf den Gast.

»Ihr wollet mich entschuldigen, geschätzter Herr Hauptmann. Ich komme, so bald ich kann, zu Euch zurück. Mein Schwesterlein wird statt meiner hier verweilen, Euch nach ihren schwachen Kräften zu unterhalten.« Andreas verließ rasch das Gemach.

Mine blieb, gehorsam dem gegebenen Winke im Zimmer, doch stand sie noch an der Thür.

David Stern, dessen Züge sich bei des Scheidenden Anordnung erhellt hatten, trat auf die Kleine zu und bat sie ihres Bruders Platz einzunehmen. Das Mädchen folgte, senkte aber, als es ihm mit ängstlich gefalteten Händen gegenüber saß, die Augen in den Schoß.

»Wollet Eure Lippen am Bier netzen und mir freundlich Bescheid thun, Jungfer Soltau,« sagte der Kriegsmann, die Schüchterne wohlgefällig betrachtend und ihr den Bierkrug zuschiebend.

Mine griff willig danach und nickte ihm mit ihrem süßen Lächeln zu. Sie hatte sich in ihren Gedanken eben vergeblich bemüht, etwas herauszufinden, was sie für ihn thun, oder womit sie ihn unterhalten könne.

Der andere erleichterte ihr die Aufgabe noch mehr. Er stützte den Ellenbogen auf den Tisch, legte das spitze, bärtige Kinn in die Hand, sah sie schmunzelnd noch eine kleine Weile an und begann dann vertraulichen Tons: »Die Freundschaft Eures Bruders mit dem wohlgeborenen Sülzjunker, Herrn Franz Töbing, bedünket mich, der ich der Stadt strenge Bräuche kenne, verwunderlich. Sagt mir, werte Jungfer, wie und wann sind die beiden so nahe zusammen gekommen, daß sie sich schier wie zwei Freunde gleichen Standes geberden.«

»Es ist noch nicht lange her, daß sie so gut miteinander sind.«

»Also hat ein absonderliches Ereignis sie zusammen gebracht.«

»Ja, das war es. Ich habe damals eine große Angst ausgestanden.«

»Wollet mir vertrauen, was sich begeben.«

»Es ist kein Geheimnis. Der starke Junker hat unserm armen Andreas das Leben gerettet.«

»Ei, seht, das Leben! Ja, das ist dankenswert, und wie ist das geschehen?«

Sie wußte jetzt, was sie erzählen konnte, wurde ganz zutraulich, neigte sich ein wenig über den Tisch und sah mit lieblicher Freundlichkeit zu ihm auf. »Wir haben eine schöne weiße Ziege, die gute Milch giebt. Lotte füttert sie, und meist ist im Garten und an der Hecke genug zu finden. Manchmal gehen wir auch ins Krautstücklein vors Thor und bringen dem Hittchen ein Bündel Grünes mit. Vorigen Sommer, als Lotte den schlimmen Fuß hatte, den Korbelins Base Fieke nachher besprach, konnte sie lange nicht mit mir hinausgehen. Im Garten gab es eben auch nicht viel, da fragte Andreas den Wallvoigt, ob er einmal das Gras von unserm Wallstück schneiden dürfe, damit doch die Zicke satt bekäme. Und Rode, der uns gut ist, sagte, er möchte es nur nehmen. Da kletterte Andreas mit der Leiter auf die rote Mauer und hatte Sack und Sichel bei sich; er schnitt das Gras, und ich stand unten und freute mich, als es so viel brachte. Nach ein paar Tagen –, wir sahen recht wie das Hittchen solch gutes Futter mochte –, war diese Wallseite kahl. Da kam Rode wieder heran und sagte, Andreas solle nur noch die andere Wand jenseits dazu nehmen. Und da ist Andreas an den Kanonen vorbei über den Wall gegangen und hat drüben auch geschnitten. Wenn Ihr mal auf unsern »Grauen Mann« steigt, Herr David, könnt Ihr sehen, daß es drüben fast steil zur Mauer abgeht, die nur einen kleinen Rand hat, und dahinter fließt der breite Stadtgraben. Nach rechts aber liegt das hohe Sülzthor mit der Zugbrücke über den Graben, auf der es immer ein- und ausgeht. Nun könnt Ihr wohl denken, daß so ein armer Mensch, wie mein lieber Bruder, sich nicht gut helfen und begreifen kann. Er ist auch bald ins Stolpern und Rutschen gekommen, hat sich überschlagen und ist über die Mauerkante weg ins Wasser geschossen. Schwimmen hat er nie gelernt und so wäre er sonder Beistand gewiß ertrunken. Da ist durch Gottes gnädige Fügung eben Junker Töbing durchs Sülzthor hinaus geritten, der hat Andreas stürzen sehen, ist sogleich vom Pferde und ohne Umsehen von der Brücke in den Graben gesprungen. Leute sind zusammen gelaufen und es hat ein großes Aufsehen und allerlei Mühsal gegeben, ehe sie die beiden herausgeholt haben. Dann aber sind sie aufs Trockne gekommen und von da an gute Freunde geworden.«

»Hm,« sagte der Landsknecht, »es fällt doch öfters vor, daß einer dem andern in der Not beispringt, ohne daß die beiden von da an just zusammengehören. Hier muß doch noch mehr dazu geholfen haben. Irre ich nicht, sind die zwei in keinem Stücke von gleicher Art oder einander ähnlich. Euer Bruder ist ruhig und sinnig, Töbing aber ein flüchtiger, wilder Gesell und obendrein des regierenden Bürgermeisters Sohn.«

»Andreas vergißt das nie!« sagte sie eifrig. »Ihr dürfet nicht annehmen, daß er unbescheiden ist. Aber ich weiß, sie haben sich lieb und können nicht voneinander lassen. Und wer meinem Bruder in die Augen sieht, muß ihn ja auch lieb haben.«

»Was kann er für den wohlangesehenen, reichen Junker thun?«

»Der Junker kommt immer zu uns, Andreas geht nicht zu ihm und sie sitzen oft lange beieinander.«

Der Feldhauptmann sah sie prüfend von der Seite an. »Habt Ihr nie daran gedacht, daß er vielleicht Euretwegen kommt?«

Das Mädchen lachte schelmisch mit schlauem Augenzwinkern: »Nein, nie! Franz Töbing hat ganz anderes im Sinn.« Mehr wollte sie nicht sagen.

Er glaubte ihrer Ausrede nicht und meinte, sein lederfarbenes Gesicht zu seltsamem Schmunzeln verziehend, »Bescheidenheit ziert die Jungfrau und es stehet einer sittsamen Dirne wohl an, junge Gesellen nicht zu beachten, die sich zu ihr drängen.«

Mine lachte mit alter Munterkeit: »O Ihr frommer Kriegsmann, habt Ihr auch Kunde von solchen Dingen? Ich glaubte, Ihr könntet nur das Schwert führen und hieltet daneben beide Augen gen Himmel gerichtet.«

»Werde mich nimmer loser Buhlschaft schuldig machen, allein rechtschaffenes Wohlgefallen am Weibe verbietet die Schrift nicht. Und es dünkt mich eine Gutthat, ehrbaren Sinnes keusche Mägdelein vor übelen Fallstricken eitler Junker zu bewahren.«

Das Mädchen vergaß bei solcher Wechselrede, daß es sich eigentlich vor dem steifen Bruder des Schwagers gefürchtet hatte und hielt ihm jetzt willig Stand.

Andreas Soltau hatte den Freund alsbald im Garten gewahrt, wo derselbe eben in dem Wege an der roten Wallmauer entlang hastete. Als Andreas ihn anrief, flog er herum und eilte mit glühendem Gesicht auf den Dastehenden zu.

»Komm,« rief der Erregte, »laß uns in dein Turmgemach gehen, wo wir ungestört sind, ich muß mich loslassen – erzählen will ich – du sollst alles wissen!«

Andreas sagte, es werde sich schon Rat finden lassen und schritt dem Stürmischen voran ins Haus. Sie gingen über die Diele und traten im Hintergrunde derselben in das untere Gelaß des »Grauen Mannes«. Durch schmale Schießscharten fiel das Tageslicht herein, Kisten und Tonnen lagen nebst anderem Gerümpel zur Seite. Die Wendeltreppe war ziemlich geräumig; man hatte wohl in früheren Zeiten schwere Geschosse oder Wurfmaschinen hinauf geschafft; der erste Stock bildete einen freien Vorraum, die Treppe mündete hier und begann auch wieder. Als die Freunde weiter hinauf stiegen, kamen sie im zweiten Stock in das Gemach des Besitzers. Von hier führte die zur Seite stehende Leiter durch eine Klappe in der Decke auf die Plattform des Turmes. Es war ein ziemlich großer, doch mit mancherlei Dingen angefüllter Raum. Drei Fenster waren in der Rundung der dicken Mauer angebracht, und die hieraus entstehenden Nischen dienten verschiedenen Zwecken. Da, wo man über Wall und Graben weit ins Land hinaus sehen konnte, standen zwei Holzschemel und in diese Ecke setzte sich Andreas, den unruhigen Freund neben sich niederziehend. »Nun sag an, mein Franz, was ist dir geschehen?«

»Ich konnte nicht länger an mich halten. Ich habe mit meiner Mutter gesprochen.«

»Und sie war sehr erschrocken?«

»Sie hat es gewagt, auf mich und Hete zu schelten.«

»Scheint der Tadel deiner Mutter dir Wagnis und Beleidigung?« fragte Andreas mahnend.

»Sie hat mir nie ein hartes Wort gesagt. Sie hat mir nie etwas geweigert. Warum nun jetzt, wo es mir um mein Bestes geht. Ich hatte fest auf sie gerechnet!«

»Ich nicht, Franz. Sie war zuerst des hochmögenden Bürgermeisters Weib, dann ward sie deine Mutter. Sie wird dir in allem dem zuwider sein, wodurch sie ihre und ihres Gatten Würde gekränkt meint.«

»Was thue ich mit aller Würde? Ich will meine süße Hete!« Er sprang vom Schemel auf und tobte wie ein unbändiger Knabe im Gemach umher. Er riß seine Halskrause ab, zerfetzte die Spitzen, warf sich auf die Erde, sprang wieder empor, und stieß und polterte mit den Geräten umher, die ihm in den Weg kamen.

Der Freund saß kopfschüttelnd da und sah halb erstaunt, halb mißvergnügt dem wilden Treiben des reifen Mannes zu.

»Bist du ein närrischer Gesell,« sagte Andreas betrübt. »So viel Kraft, ein solch großer Einsatz und alle die Leidenschaft – umsonst!«

»O nur das nicht! Es soll nicht umsonst sein. Ich erringe sie mir doch. Eine Welt möcht ich vernichten, um sie aus dem Zusammenbruch an mich zu reißen und davon zu tragen! Du mein einziger Freund, du kluger, du reifer Mensch mußt mir nicht Unrecht geben! Was sind nur alle Güter, was ist mir Reichtum, Wohlleben, Ansehen ohne sie, die mir tausendmal mehr ist als die Schätze der ganzen Welt. O begreife, Lieber, daß mein Glück an diesem Mädchen hängt!«

»Und doch wirst du sie lassen müssen, der Schranken halber, welche deiner Vaterstadt uralter Brauch dir auferbauet!«

»Ich hasse diese Schranken!« rief Franz emporspringend. »Sie sind es auch, die mich von dir scheiden. Ich will dem Zwange trotzen. Besuche mich Andreas, sei auch in unserm Hause mein Freund. Mögen Stubenknechte und Folgejungen, Küchenweibsen und Hausjungfern staunen und ihre häßlichen Nasen rümpfen, ich will dich auf offener Diele vor aller Augen umarmen und dich meinen liebsten Freund nennen. Möchten meine Eltern auf dem hohen Gange stehen und zuschauen, es wäre mir eine Lust, ihnen allen dies anzuthun.«

»Und an mein Gefühl denkst du dabei nicht? Glaubst du, daß ich mich eindrängen möchte? Glaubst du, daß Hete Korbelin, wenn du es erzwingen solltest, sie zum Weibe zu nehmen, glücklich unter all den Hochmütigen sein würde? Ich fürchte, du denkst nur an dich, Franz.«

Der Leidenschaftliche sank betroffen auf den Schemel; Andreas fuhr fort: »Du kommst mir vor, wie ein Faß gärenden Mostes, dem der Spund verschlagen ist. Du weißt mit deiner Kraft nicht hin und wirst Unheil anrichten, so man dir nicht Luft schafft. Zieh auf einige Jahre hinaus, tritt in fremde Kriegsdienste, kühle dein Mütchen und dann komme verständiger und mit der Stadt Ordnung versöhnt nach Lüneburg zurück.«

»Nein, schweig mir davon. Ich Heteke verlassen, ich feige von dannen ziehen und denen Recht geben, die mir mein Recht verkürzen wollen, nimmermehr! Hast du mich wirklich lieb, so verlange das nie wieder. Ich bleibe und kämpfe meine Sache durch!«

»So möge Gott dir gnädig sein, daß du dir und den Deinen kein Unheil anrichtest!«


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