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Sechstes Kapitel.

Die fürstlichen Gäste waren abgereist und die alte Ordnung und Ruhe herrschten wieder in der Stadt. Die vielfach umhergetriebenen Menschen besannen sich auf sich selbst, Hinausgeschobenes wurde wieder in Angriff genommen, und allerorten zog eine mehr oder minder behagliche Werkeltagsstimmung ein.

Andreas Soltau hatte mit Hilfe eines Knechtes aus dem Stifte seinen alten Freund, den Bruder Lukas, in seinem binsenbeflochtenen Armstuhl aus dem Prövenerstübchen des Heiligengeistes zu sich in den sonnigen Garten herüber getragen. Der Alte saß nun zufrieden in der verschnittenen Lindenlaube am Hause und bildete den Mittelpunkt für einen Kreis von Männern, der sich allmählich um ihn gesammelt hatte. Außer Andreas waren die beiden Brüder Stern da und Meister Gewert Hitzacker, der Feldscher des Hauptmannes, ein rotgesichtiger, starker Gesell, mit so großen derben Händen, daß man denselben eher zutrauen konnte, Wunden zu schlagen als zu heilen.

Mine, die seit Hete Korbelins eiliger Flucht mit Fieke am vorgestrigen Abend nichts wieder von der Freundin gehört hatte, war gegangen, nach ihr zu sehen.

Man hatte über die Festtage gesprochen; ein jeglicher war von seinem Standpunkte aus mit einer Meinung über die Begebnisse und seinen Anteil daran heraus gekommen.

»Die Herzöge scheinen insgesamt zahm geartet,« sagte Johannes Stern mit einem Blick auf die Umsitzenden, der bei dem vorsichtigen Manne fast etwas Lauerndes hatte.

»Wie meint Ihr das Schwager?« fragte Andreas. »Ich sah die edlen Herren kaum und würde gern näheres über ihr Wesen hören.«

»Es scheint ein Erbteil im Hause Ernst des Bekenners, daß die Herzöge alle verständig, gemessen abwägend und selbstlosen Sinnes sind. Wären sie es hier nicht, würden sie sich vom Sülfmeisterregiment in der Stadt nicht so viel bieten und abtrotzen lassen.«

»Es ist Althergebrachtes, fest Bestehendes, Johannes,« warf Andreas Soltau achselzuckend ein.

»Glaubt Ihr,« begann Bruder Lukas und richtete sich etwas in seinem Stuhle auf, »daß Sinnesart und Gemütsbeschaffenheit, jenes Einige und Ewige im Menschen, was wir Seele nennen, in der körperlichen Verwandtschaft forterbt?«

»Nun gewiß, natürlich!« riefen die Brüder Stern.

»Ich möchte wissen, wo das Ding steckt, so Ihr Seele nennt,« lachte der Feldscher.

»Ich bin in einem langen Leben der Meinung worden,« fuhr der Greis fort, »daß eben jenes etwas, was Ihr anzweifelt, das Beste in uns, und dasjenige ist, dessentwegen Gott Himmel und Erde und alle Lebenssorgen, die uns hienieden umtreiben, geschaffen hat. Ich bin aber auch ebenso zuversichtlich, daß dies Gottesfünklein: Seele, viel zu hohes ist, um von einem irdischen Menschen gezeuget zu sein. Nur der Leib stammt von den Eltern, der jenem gottgesandten ewigen Licht zur Hülle dienet. Und da Mann und Weib nur die Schale gaben, nicht den Kern, so kann auch der Kern, oder die Seele des Kindes, den Seelen der Eltern nicht gleichen.«

»Ihr behauptet da ein Sonderbares, Bruder Lukas,« sagte Johannes Stern kopfschüttelnd. »Meine beiden kleinen Mägdelein haben doch in ihrer Art vielerlei Ähnlichkeit mit meiner lieben Frau Anne und mit mir; wie wollet Ihr in dieser Sache das Gegenteil beweisen?«

»Habt Ihr solcherlei Lehre in der göttlichen Offenbarung des heiligen Bibelbuches gefunden?« fragte David Stern, »so saget an, wo es steht, auf daß ich's nachschlage, anderenfalls ist es Irrlehre und Satans Eingebung.«

»Den Beweis soll Euch der Mönch wohl schuldig bleiben,« warf Gewert Hitzacker ein. »Alles, was Ihr nicht sehen, schmecken, greifen könnt, ist eitel Hirngespinst.«

»Was der sinnende Geist in langen Stunden stiller Einkehr als Lichtstrahl im Dunkel des Übersinnlichen erfaßt, scheint mir eine Offenbarung Gottes,« hob Lukas wiederum an. »Ist doch bei jedwedem höheren Erkennen das Gottesfünklein in uns lebendig. So bin ich denn gewiß worden, daß die Seele nicht vom Menschen gemacht ist. Mögt Ihr, in heißer Elternliebe, Euch mit der körperlichen Ähnlichkeit im Kinde nicht begnügen, und mag es Euch schmeicheln, auch Seelen geschaffen zu haben, es gilt nicht, Euch das zu sagen, was Euch wohl thut, sondern das, was der Wahrheit am nächsten kommt. Seid Ihr der verschiedenen Geister unter einem Dach, aus einem Blute noch nicht gewahr worden? Ihr nennt es: aus der Art schlagen, so einer seinen eignen Weg nimmt, ich aber sage Euch, er folget erst recht seiner Art, denn in jedem steckt die Eigenart eines Kindes Gottes.«

»Und ist es nicht ein Trost,« sprach Andreas innig, uns so nahe an Gott lehnen zu können?«

»Hat der Weise, oder der zu einem absonderlichen Dinge Geschickte, ihm gleiche Söhne?« fuhr Lukas warm fort. »Staunt nicht mancher Vater, wie das Huhn, so Entküklein ausgebracht hat? Aber der stolze Vater denkt doch: es ist von meiner Weise darin und was nicht von mir kommt, stammt von einem Ahn. Daran, daß die Seele aus Gottes Hand und Aufzucht stammt, sich aber nur in allgemeiner Menschenweise kund geben kann, denkt er nicht in seiner Eitelkeit. Wo im Kinde die Eigenart nicht groß ist, schickt es sich in die Schule des Elternhauses und wird wie die andern. Dann freut sich des Vaters Gemüt, daß ihm die Seinen hübsch nacharten und es thut ihm wohl, daß er solch biedere Seelen geschaffen hat.«

»Ich fürchte, es stecket noch vom Sauerteig Eures katholischen Glaubens in Euch!« sagte der Hauptmann Stern mißtrauischen Blickes, »dies alles scheint mir Irrlehre.«

»Und so man Euch folgen wollte auf Eurer seltsamen Bahn,« begann der ältere Bruder, »wohin führet sie nach rück- und vorwärts? Woher kommen die Seelen, so Ihr Gottesfünklein heißet und wohin gehen sie? Glaubet Ihr an die ewige Seligkeit, den Lohn der Gerechten und die Strafe der Sünder?«

»Ich glaube daran,« fuhr der Alte fort, »wenn auch nicht auf Eure Weise.«

»Wie kann man an den Worten der Schrift deuteln!« rief David Stern entrüstet. »Viele derer, welche in der Erde schlafen, werden auferstehen, diese zum ewigen Leben, jene zur Hölle und ewigen Verdammnis, sagt der Prophet Daniel.«

»Nehmt's nicht für ungut, Hauptmann,« meinte der Feldscher, »aber Ihr wisset doch, daß nach fünfzig oder hundert Jahren von unserem ganzen Leibe kein Atom mehr da ist; bitte Euch, was soll da auferstehen und selig werden?«

»Geht doch!« fuhr der Kriegsmann zornig auf und rückte ein Stück von seinem Kumpan ab, »daß Ihr ein ungläubiger Heide seid, ist mir längst ein Ärgernis.«

»Laßt doch den Mönch ausreden und zankt Euch nicht,« beschwichtigte der Buchdrucker. Von diesem noch einmal aufgefordert, fuhr Lukas fort:

»Meine Meinung ist so: Die Menschenseele ist vor undenklichen Zeiten vom Glutkern des Ewigen abgesprüht und als einzelnes Ich ins All geworfen. Nun wird dies schwache Gotteskindlein in eines Menschen Leib zur Erde geboren, um im Guten zu gedeihen und also Gottes Reich in der Welt zu mehren. Es stirbt, denn die Hülle ist von zerbrechlich irdischem Stoff. Aber das Seelchen hat erst wenig gewonnen und gethan, darum betritt es, nach Gottes unerforschlicher Ordnung, in neuer Hülle die Erdenbahn und fügt Gewinn auf Gewinn, je nachdem es sich mühete. Sollte ein armes, kurzes Menschenleben lang genug sein, ewiges Ruhen in der Seligkeit oder ewige Strafen der Verdammnis einzutragen? Sicherlich nein! Man muß mehr gethan haben, als uns hier vergönnt wurde. Nur ein Glied in langer Kette ist das, was wir ein Menschenleben nennen. Vielfach in früherer Erdgeborenen Leibern ist das Ich dagewesen und vielfach wird es wieder da sein.«

»Irre ich nicht,« sagte der Feldscher geringschätzig, »so glaubten schon frühere rohe Volker, daß ihre Seelen in Ochsen und Vögeln gesteckt hätten.«

»Mein Glaube hat nichts zu thun mit der alten Ägypter Meinung von der Seelenwanderung durch das Tier,« erwiderte der Greis ernst. »Jenes hat nur Leben und Instinkte, das Höchste, das wovon wir reden, fehlt ihm.«

»Wie könnet Ihr behaupten, daß wir schon einmal dagewesen sind, da wir doch gar nichts mehr von einem vorigen Zustande wissen?« fragte Johannes Stern befremdet.

»Heil uns, daß Gottes milde Vaterhand uns durch die Nacht leiblichen Todes und der Kindheit Dämmerleben führte und so die Erinnerung von der Tafel des Gedächtnisses auslöschte! Wie könnten wir mit dem Bewußtsein früheren Liebens und Hassens, früheren Denkens und Irrens, frei und frisch neuem Guten nachstreben? Das Wissen des Vorigen würde ein schwerer Hemmschuh des Jetzigen sein.«

»Was nützet mir's aber, schon hier gewesen zu sein, wenn ich nichts davon weiß?«

»Das, weshalb du warst und bist – der Gewinn an deiner Seele – bleibt dein. Es ist das Eine, das ewig Wahre. Alles übrige ist vergängliches Treiben des Schülers. Was du als Nahrung deines Fünkleins zur Flamme davon trägst, ist allein deiner Mühen Gewinn.«

Meister Hitzacker lachte plump und laut auf, er strich sich den struppigen schwarzen Schnurrbart, setzte die dicken roten Hände mit den ausgespreizten Fingern auf seine kraftvollen Lenden, zog die Schultern in die Höhe und blinzelte den Greis an. »Mit Verlaub, aber es reizet mich zur Lustigkeit, so einer, der in seiner Zelle vom Leben und Sterben nichts sieht, klug darüber schwatzt. War da kürzlich ein Gesell, dem hatten sie mit 'nem Palasch über'n Hirnkasten gehauen, der plapperte den puren Blödsinn, und ob er je wieder zu sich kommt, weiß ich nicht. Wo blieb da seine Seele, von der Ihr Wunderdinge fabelt? Ist die Seele aus dem Schädel hinaus gehauen? Und kommt sie wieder hinein, wenn dem Kerl die Wunde heilt? Ich meine, Eure sogenannte Seele ist weiter nichts als das, was der gesunde Leib denkt und will?«

»Ihr habt gesehen, Meister Feldscher,« antwortete Lukas, »daß in Wintertagen die Erde steif friert, daß Schnee darauf fällt, und daß kein Gräslein hervorguckt. Ist die Erde todt? Nein, sie ist nur durch die Kälte gehemmt und in Banden geschlagen. Also lastete der gewaltige Hieb auf dem Hirn Eures Kranken. Wenn das Werkzeug der Seele, das sie braucht, um sich kund zu thun – wie die Erde unter Eis und Schnee – gebunden liegt, so scheint die wirkende Kraft tot zu sein. Ihr wisset aber, sie kann wieder zum Leben erwachen wie die Flur. Glaubt Ihr, wenn die Laute in des Spielers Hand zerbrochen ist, daß niemand da sei, der auf dem unbrauchbaren Instrumente je gespielt hat, oder wähnt Ihr, die gesprungenen Saiten hätten jemals aus eigener Kraft getönt? Ihr wisset doch, sie vermögen das nimmer.«

Eben wollte der Feldscher neues einwerfen, als die Lattenpforte in der Hecke hart aufgestoßen wurde und Franz Töbing, rot im Gesicht, mit heiß sprühenden Augen und verwildertem Haar hereinstürmte. Er hielt sein Barett in der Hand und focht zwecklos damit um sich her. »Andreas!« rief er mit heiseren Lauten, »ich will Andreas allein sprechen!«

Die Männer fuhren empor und sahen den unbändigen Eindringling erstaunt an.

Der Freund trat auf ihn zu und ergriff seine Hand. »Verzeiht, daß ich Euch verlasse,« sagte er zu seinen Gästen und führte unter leisem Zureden den Verstörten ins Haus.

Bruder Lukas meinte, es werde kühl, man schaffte ihn hinüber in sein Stift, und die andern drei Männer gingen ihren Geschäften nach.

Andreas Soltau stieg, voll Bangen um den Teuren, der ihm tief erschüttert schien, mit Töbing auf sein Turmgemach.

Oben in dem stillen Raum schleuderte Franz sein Barett weit von sich, schlang die Arme leidenschaftlich um den Verwachsenen, neigte das stolze Haupt auf dessen Stirn und stöhnte laut.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, mein armer Franz was ist dir geschehen?« fragte Andreas vor Mitleid erbebend.

»Das Ärgste – sie ist fort – mir entrissen!«

»Sie, deine Hete? – Wohin?«

»Er läßt sie nach Celle schleppen – und sie –« Franz fuhr auf und ballte die Fäuste.

»Woher weißt du's?«

»Ich habe es selbst gesehen,« er lachte laut und bitter, »Zweifel und Irrtum giebt es nicht.«

»Um sie dir zu entrücken?«

»Vermutlich!« – Düstere Verschlossenheit war über den wild Erregten gekommen, es schien in ihm wie in einem Vulkan zu arbeiten. Er hatte die Arme untergeschlagen und rannte auf und ab. Der Zuschauer wußte nicht, ob er ihn stören oder gewähren lassen sollte, endlich siegte die teilnehmende Neugier und er bat, Franz solle sein Gemüt entlasten.

»Ja, du bist gut, bist mir treu, bist mein Einziger!« Er warf sich über den Schwachen, daß dieser zurücktaumelnd auf die Bank fiel, vor der nun Franz in die Kniee brach. Er barg den Kopf an des anderen Brust. Ein wildes Erbeben schüttelte die starken Glieder.

»Sprich dich aus, Herzlieber, entlaste dein Herz, sag, was du erlebt hast!«

»Wohlan,« rief Franz, sich emporreißend. »Ich bin ja gekommen, um zu sprechen. Ich ertrag's ja nicht ohne deine Hilfe.«

»Setze dich zu mir und berichte, was geschehen ist, vielleicht können wir, nach reiflicher Überlegung, etwas zum Guten wenden.«

Der andere schüttelte heftig den Kopf, aber er ließ sich so weit beschwichtigen, daß er sich einen Schemel zum Freunde heranzog und darauf Platz nahm, dann begann er:

»Die Herzöge waren diesen Morgen endlich abgereist. Ich hatte des tollen Spektakulums satt. An meinen Vater war noch immer nicht heranzukommen; seine Schreibstube saß voll von fetten, hochmögenden Sülfmeistern, die sich ins Fäustchen lachten über ihre Herrlichkeit; mich ekelten sie an. Zu Korbelins durfte ich mich nicht wagen. Eine Kunde davon, was mit Hete geschehen sei, war nicht zu erlangen gewesen, da packte mich die Ungeduld und schüttelte mich, wie der Sturm die Giebelfahne. Ich griff zu meinem alten Heilmittel und ließ satteln. Wie's kam, daß ich aus selbigem Thor hinausritt, durch welches die Fürsten vor ein paar Stunden davon gezogen, vermag ich dir nicht zu sagen. Genug, ich that's und ließ in meinem inneren Brand den Rappen tüchtig ausgreifen. Als ich die letzten Wagen des herzoglichen Trosses eingeholt hatte, ärgerte mich's, sie zu sehen, und ich wandte mich wieder zur Stadt zurück.« Der Erzähler atmete tief und begann dann hastiger: »Bald kam mir ein blaues Bretterwägelein entgegen. Ich sah's genau an und erkannte vorn den Fahrknecht in herzoglichen Kleidern. Einer, der sich verspätet hat, dachte ich, und nun die andern einholen möchte. Aber der Knecht fuhr in sachtem Schritt. Hinter ihm saßen ein Mann und ein Weib. Ihn erkannte ich bald; es war der alberne Gesell mit der Schreibfeder vor der Mütze, den ich bei Korbelins auf dem Walle gesehen. Sie hatte das Kopftuch herunter gezogen und saß tief gebückt. Als ich nahe dabei war, meinte ich, den braunen Zopf, der ihr über die Schulter unter dem Tuch hervor fiel, und die schmalen im Schoß gefalteten Hände zu erkennen. ›Hete, um Gottes willen, wohin gehst du?‹ Sie sah mich mit großen, traurigen Augen an: ›zur Muhme nach Celle, Junker‹, sagte sie, und eine jähe Röte fuhr über das blasse Gesicht. ›Nach Celle?‹ – Da lüpftete der Tintenlappen seine Mütze und krähte: ›Gegenwärtiger Jungfer Vater, meiner willigen und unverdrossenen Dienste allezeit gewiß, beehrten mich‹ – ›Schweigt, Faselant‹, schrie ich wütend und schwenkte die Gerte, daß der Rappe stieg, ›ich will nichts von Euch wissen, Ihr Mondkalb! – Aber du, herzliebe Hete, sag' an ist's möglich, daß du gehst? Wann kommst du wieder? Ich will mit dir ziehen und nicht von dir lassen!‹ – ›O thut das nicht, Junker Töbing‹; sie hob flehend die Hände und sah mich todestraurig an. ›Folget mir nicht. Willigt ein, daß wir scheiden. Es ist mein Unglück, wenn Ihr nicht von mir laßt.‹ – So sprach sie zu mir – sie, Andreas – ich, ihr Unglück – ich, der ich nichts heißer begehre, als sie froh zu sehen. Es fuhr wie eine Lähmung durch meine Glieder, ich zog die Zügel an, der Flederwisch hatte den Knecht in den Rücken gestoßen, die Gäule griffen aus, der Wagen rumpelte davon. Da hielt ich, starr wie im Traum, sah sie mir entrückt – sah sie immer kleiner werden. Dann wandte ich mich der Stadt zu, es wallte und brauste in mir, ich gab dem Rappen die Sporen; der, den Stall vor der Nase, wieherte laut und stob wie das wilde Heer davon. Als ich durchs Thor hinein war, saß ich ab, warf einem Buben die Zügel zu, schickte das Roß nach Hause und eilte hierher zu dir. Und nun sag' an, mein einziger Freund, was soll aus mir werden?«

»Du mußt es tragen wie ein Mann, mein armer Franz,« sprach Andreas nach kurzer Pause.

»Tragen! Ich still halten? Hinnehmen, was die Väter verhängen?« Der Unbändige fuhr empor. »Das nimmer, das ist nicht für mich, ich zahm zu Kreuz kriechen, wie kannst du mir das zumuthen?«

»Aber was sonst, Franz? Wie kannst du dagegen?« fragte Andreas erschrocken.

»Wie ich's kann, weiß ich noch nicht, aber daß ich's will, weiß ich um so gewisser.«

Ein Zug bösen Trotzes erschien auf dem offenen Männergesicht, es war plötzlich etwas Bewußtes, Zusammengefaßtes in dem wilden Stürmer. Besonnen blickte er sich um, holte das Sammetbarett aus ferner Ecke, drückte es fest in die Stirn und bot dem erstaunt Zuschauenden seine kraftvolle Rechte: »Du wirst von mir hören!«

Andreas erhob sich und legte die Arme fest um den Hochgewachsenen: »Keine Unbesonnenheit, Franz! Ich möchte dich halten und hüten; mir ahnt, daß du in dein Verderben rennst. Kannst du sie denn nicht verschmerzen? Liebst du sie denn gar so sehr? Wie ist das über dich gekommen? Wie ist es möglich, daß du ihretwegen dich ganz hingiebst?«

Eine Veränderung ging auf dem starren Antlitze des also Befragten vor. Er zog, wie in der Kirche, mit ehrfurchtsvoll mildem Wesen die Mütze vom Kopf, trat einen Schritt zurück und richtete die funkelnden Augen, in denen das wilde Feuer erlosch, weit, wie ins unbestimmte Leere hinaus. »Wie es über mich gekommen ist, kann ich nicht sagen. Mir war, als ich sie zum ersten Male sah, als habe ich einen Schatz gefunden, als sei ein ungewisses Sehnen, das mir bisher oft Schmerz bereitet, nun gestillt. Sie trat mir im Rahmen Eurer Lindenlaube entgegen, stand ganz ruhig, sah mich aber mit ihren ernsten Augen groß und erstaunt an. Wir senkten den Blick ein paar Atemzüge lang ineinander. Es war ein seliges Vergessen. Mich drängte es, sie zu umfassen. Ich wußte, sie gehöre seit Ewigkeiten mir. Ihr ist's ähnlich zu Mut gewesen. Ich fühlte, in ihr lag die Kraft, meine Ungeduld zu bändigen, mich fromm und gut zu machen. Daß ich sie nicht still an mich nahm, zu süßem Versinken, war die Scheu angelernter Art, die mich ein paar übliche Worte murmeln und zurücktreten ließ. Dann kamst du und deine Seutemine dazu.«

Andreas blickte ernst zum Freunde auf. »Wer möchte es wagen, über solche gewaltige, unwillkürliche Regung abzuurteilen? Wer kann ermessen, ob ihr nicht wirklich in früheren Formen und Zeiten zu einander gehörtet?«

»Deiner seltsamen Lehre nach, von der du mir oft gesprochen, wäre es möglich. Auch wir beiden, Andreas, haben, vom ersten Finden an, uns nicht wieder losgelassen. Und da nun meine ganze Seele unaufhörlich nach ihr schreit, so sollst du mich nicht schelten, wenn ich keinen Weg verschmähe, um endlich zur Vereinigung mit ihr zu gelangen.«

»Dein Gefühl schelte ich nicht, es liegt außerhalb der Grenzen des Willens. Aber die That ist dein! Großes Erbarmen und schwere Sorge erfüllten mein Herz der Versuchung halber, die dich bedroht. Selbstverleugnung, Verzichten, und Gehorchen kann deiner Seele hohe Schule werden. Folgst du deiner Leidenschaft, widerstrebst du, reißest du andere in dein Geschick – o Franz, ich mag die Folgen nicht ausdenken!«

»Und doch, Andreas – und doch! Wo soll ich geduldiges Stillhalten in mir finden? Wo könnte ich das gelernt haben? Ich zerreibe mich, ich vergehe daran! Dir scheint es leicht, in dich hat's die Natur hinein gelegt, aber ich – ich!« Es war als fahre das alte sprudelnde Leben, das für kurze Zeit still zurück schauender Betrachtung gewichen war, wieder in den kraftvollen Mann, er stülpte das Barett auf den Kopf und stürmte davon. Andreas seufzte tief und faltete die Hände. Der schwächliche Mann hatte von frühauf gewußt, daß es für ihn kein Liebesglück gebe, und sich still in sein Geschick gefunden. Er wagte jetzt ein Gebet, daß solche Ergebung auch die ringende Seele des Freundes befreien, und daß ihm ein anderes Glück beschieden sein möge.

Als Franz Töbing mit hochgeschwellter Brust und dem gefestigten Entschluß nach Hause kam, er werde – koste es was es wolle – seinen Vater zum Nachgeben zwingen und dann mit Korbelin den Kampf aufnehmen, fand er die Eltern nicht daheim.

Des Vaters Stubenknecht berichtete: Der gestrenge Herr Bürgermeister sei mit der Eheliebsten zum Herrn Bürgermeister Heinrich Witzendorff gegangen, um allda unter wohledeln Ratspersonen die Nachfeier der letzten Feierlichkeiten abzuhalten.

Franz knirschte: »Wieder warten,« und ging unwirsch auf sein Zimmer. Der Tag verrann ihm langsam. Nur der feste Entschluß, sich morgen, am Sonntage, nachdem alle Forderungen der Festwoche abgethan lagen, eine Entscheidung zu verschaffen, brachte ihm endlich Ruhe.

Am andern Tage ließ Franz den Vater noch vor der Kirche um eine Unterredung bitten und erhielt zustimmende Antwort. »Endlich!« murmelte er für sich. Nun lagen That und Sieg vor ihm, und sein Vater sollte ihm nicht mehr entrinnen. Er konnte in diesem sichtlichen Ausweichen nur Schwäche sehen, und fühlte die Kraft in sich, alles Schwanken und Bedenken von feindlicher Seite zu besiegen.

Das schöne Wohngemach der Töbings lag im friedlichen Glanz der Morgensonne; der Bürgermeister saß mit seinem Weibe bei der Frühsuppe am Mitteltische. Aus der Marienkirche drüben tönte der Orgel Vorspiel in feierlichen Klängen herein, der Gottesdienst hatte noch nicht begonnen.

Als Franz eintrat, schien der Vater sein Mahl beendet zu haben, er schob den Teller von sich, rückte den Sessel etwas zurück und blickte den Sohn scharf an. »Komm heran,« sagte er streng, »und setze dich, ich habe ein ernstes Wort mit dir zu reden.«

Franz gehorchte stumm, während auf seinen gespannten Zügen sich Trotz und Widerspruch spiegelten.

»Mein werter Herr College, Conrad Elver, ist klagbar gegen dich worden. Du hast seinen Sohn Lude auf offener Straße vor des Bürgermeisters Hause angefallen und trotz Protest des Schuldlosen mißhandelt und blutig geschlagen, so daß besagter Lude annoch auf dem Lotterbette liegen und sich ausheilen muß.«

Auf dem Antlitze des Verklagten breitete sich ein heiterer Schimmer der Befriedigung aus. »Es geschah nach Absicht, mit gutem Grund und Recht, mein Herr Vater. Lude ist ein Flegel, ein Erzlump, und ich bedaure, daß ich meine Fäuste nicht stärker gebrauchte. Übrigens weiß ich nicht, wie wir zu der Ehre kommen, daß die wohledlen Herren sich um eine kleine Rauferei ihrer Junker kümmern. Wir haben solches immer allein untereinander ausgetragen. Und ich stehe Lude Elver, wenn er sich wieder herausgepflegt hat und es heimzahlen will, jederzeit zu Diensten.«

»So ich dir schärfer auf die Finger sehe, als früher, geschieht es, weil ich endlich die Zeit gekommen erachte, den Jugendthorheiten ein Ende zu machen.« Nach kleiner Pause fuhr er nachdrücklich fort: »Deine Mutter dachte dir ihre halbe Evering zu geben, ich wollte dir mein Gütchen Düvelsbrok zuwenden, und um Fastnacht wollten wir dich Kope fahren lassen, um endlich einen Sülfmeister und gesetzten Mann aus dir zu machen.«

»Schönen Dank, herzliebe Eltern,« erwiderte der Sohn, und drückte der Mutter, neben der er saß, warm die Hand: »Aber Ihr wisset, für mich hat alles Gute nur unter einer Bedingung Wert.«

»Deine Bedingung ist die unsere,« fiel ihm der Vater rasch ins Wort, »auch wir wollen, daß du dich beweiben sollst. Deinem Begehren zufolge ließ ich dir Zeit bis nach der Huldigung, diese ist jetzo hinter uns. Um es kurz zu machen, wisse, daß auf heute Nachmittag die Sippe der Witzendorff's sowohl wie wir mit den unserigen im Brauthause zusammentreffen, um den Verspruch bündig abzuschließen. Die Verschreibungen liegen schon bereit.

»Das habt Ihr alles fertig – ohne mich fertig gemacht!« rief Franz in maßlosem Staunen. »Ich lehne Eure Vorschläge ab, Herr Vater.«

»Du willst doch nicht sagen, daß wir einen ungehorsamen Sohn großgezogen? daß mein Wort mit Schimpf und Schande gebrochen – null und nichtig werden soll?« Der Alte blickte streng auf den Sohn.

»Ihr wisset, daß ich mein Herz und meine Zusage einer anderen gegeben habe und daß ich nicht von ihr lasse.«

»Ich weiß, daß mancher junge Fant, ehe er zum gesetzten Mann wurde, seine Liebelei und Buhlschaft hatte,« warf der Bürgermeister mit häßlichem Lachen ein.

Franz fuhr empor und heiße Röte der Scham wallte über sein Gesicht. »Liebelei – Buhlschaft – das ist's nicht! Ich sage es Euch deutlich, Hete Korbelin ist meine Braut und darum kann ich einer andern kein Eheversprechen geben.«

»Und ich sagte dir, die virginitas patriciae dignitatis soll ungeschwächt erhalten bleiben, und mein verpfändetes Wort bindet auch dich!«

»Ich stehe selber als Mann.«

»So setze ich dir noch einmal die Bedingung: Sie oder wir.«

»Nun denn – sie!«

»Franz, mein Knabe, kannst du deiner Eltern Wohlmeinen also von dir stoßen?« jammerte die Mutter.

»Wolle bedenken, was du sagst und was du thust, Franz Töbing,« sprach der Vater mit gerunzelter Stirn, sich gleichfalls erhebend.

»Ich hab's bedacht. Christus spricht: ›Darum wird ein Mensch Vater und Mutter lassen und an seinem Weibe hangen‹. Soll ich nicht danach thun?«

»Der Mann, welcher solche Tollheit begeht, wie du im Sinne hast, wird zum – Hungerleider.«

»Mag's sein. Glaubt Ihr, mich mit guten Bissen zu fangen?«

»Franz, es ist mir bitterer Ernst.« Der Bürgermeister ließ die Rechte schwer auf den Tisch fallen. »Du darfst nicht mit mir spielen. Wie du dich jetzt entscheidest, ist's für immer.«

Die Frau hob' ihre Hände zum Sohne auf. »Dein Vater kann ja nicht mehr zurück. Es ist alles gestern fest zugesagt und verbrieft. Die ganze Freundschaft weiß es. O Franz, thue uns das nicht an!«

»Ich muß, Mutter, ich muß, auch in mir ist alles fest und klar. Gebt mir das Mädchen, welches ich liebe, zum Weibe, und ich bleibe Euer treuer Sohn.«

»Nimmermehr soll dein Eigenwille obsiegen,« rief aufbrausend der Bürgermeister. »Die Dirne, welche du deine Braut nennst, ist auch von ihrem Vater schon einem andern zugesagt; was willst du noch? – «

»Hete – dem Schreiber!« ein Schrei war's, mit dem Franz die Hände vors Gesicht schlug. Ein wütender Schmerz brach in ihm los.

»Das habt Ihr mir gethan, Vater! Ihr, in Eurem Hochmut, Eurer Herrschbegier – Eurer Grausamkeit. Euch und Euresgleichen sind Herz – Liebe – des andern Glück – nichts. O, wie ich diese kalte Berechnung verabscheue! Wie ich Eure Überhebung hasse! Und ich sollte mich all' dem Zwange, der gegen meine Natur geht, fügen? Ich sollte zu Eurer Gilde gehören, in Eure Formen mich einpressen – nie – nimmermehr! Entscheidet – wollt Ihr einen Sohn behalten, der ein Geschöpf Gottes für sich ist, oder wollt Ihr ihn verwerfen? Jetzt gilts. Wollt Ihr mir mein Recht geben oder nicht?«

»Nein!« sprach Hieronymus Töbing und trat mit untergeschlagenen Armen, mit glühendem, starrem Blick und zuckender Lippe dem Frager entgegen. »Hundertmal nein! Der ist nicht mein Sohn, wer sich gegen mich, meinen Wandel und Willen aufbäumt. Ich habe dir, Bube, während ich Größerem vorstand, zu lange die Zügel schießen lassen. Du bist entartet. Einer nur kann in meinem Hause Herr sein, und das bin ich. So sage ich denn – als letztes väterliches Zuchtmittel: versuch's auf deine Weise! Du kannst jederzeit kommen und dich mir wieder unterwerfen, dann soll alles ausgelöscht sein. Bis dahin, Franz Töbing, siehe zu, wie weit du allein kommst. Mein Haus ist von heute an für dich verschlossen!«

»Ihr drängt mich in die Bahn verzweifelter Gegenwehr. So ich Euer Feind werde, merket es wohl, ich erhebe meine Hand nicht gegen den Vater, nur gegen sein Regiment.«

»Ich und mein Regiment sind eins«, zischte der Bürgermeister.

Franz wollte fortstürzen. Die Mutter war ihm nachgeeilt und klammerte sich an ihn. »O mein Kind, mein Einziges – gieb nach – gehorche deinem Vater!«

»Ich kann nicht, Mutter, laßt mich.«

Die Frau sank schluchzend in einen Stuhl. Der Bürgermeister stand abgewandt. Der Sohn verließ das Gemach.

Franz Töbing begab sich nach seinem Zimmer. Es tobte und gürte in ihm. »Ausgestoßen!« Das ihm! – Aber war's denn nicht so geworden, wie er längst geahnt hatte, daß es kommen müsse? Und war's nicht eine Erleichterung, nun nach dem Drange der eigenen Seele thun zu können? Er lachte hart auf und versuchte sich zu sammeln.

Ja, innerlich hatte er diesen Leuten, diesen Formen und Strebungen lange schon fremd und feindselig gegenüber gestanden. Er hatte seine Eltern nicht beleidigen wollen, aber er war doch ein Mensch für sich und konnte nicht sein wie sie. Lug und Trug war's, wenn er eine andere freite, als seine Hete. Solcherlei Unnatur war eine noch größere Sünde, als die Auflehnung gegen den Elternwillen. Wie durfte man zwei voneinander reißen, die sich bewußt geworden, daß ihre Seelen eins waren. Auch Hete fühlte so und würde dem Aufgedrungenen nicht angehören können. Aber Gnade Gott, wenn sie ihm das Mädchen doch entrissen! Die ganze Stadt sollte es büßen, das Oberste wollte er zu unterst kehren und dem Hochmut ein für alle Mal ein Ende machen.

Während in ihm das Blut tobte, die Gedanken kamen und gingen, steckte er zu sich, was er an Geld und Wertsachen besaß. Seine Kleider warf er in eine Truhe und rief, als er aus seinem Zimmer trat, dem Stubenknecht zu, diese bereit zu halten, er werde sie abholen lassen. Dann ging er, ohne zurück zu blicken, über Treppe und Flur.

In dem weiten, prächtigen Hause war es leer und sonntäglich still. Die bunten gemalten Gestalten auf den Wänden der Diele, die farbigen Wappen der Töbings mit dem Fruchtbaum, welche den bleigefaßten Fenstern eingefügt waren, die holzgeschnitzten braunen Löwen, die als Schildhalter zu beiden Seiten der Treppe standen, alles schien dem sich Abwendenden, der seine ersten Kinderschritte unter ihren Blicken gewagt, traurig nachzusehen.

Er selbst hielt den Sinn nur vorwärts gerichtet. Jetzt galt's, jetzt stand er für sich. Jetzt konnte er auf seine Art leben und wirken! Er überschritt die Schwelle. Ein plötzlicher Ernst faßte ihn an, sein Fuß strauchelte und zauderte

Drüben in der Marienkirche hatte der Gottesdienst begonnen. Die Gemeinde sang in brausendem Chor einen Psalm zur Orgel:

»Richte mich Gott und führe meine Sache,
Warum lassest du mich traurig gehen?
Sende dein Licht und deine Wahrheit,
Daß sie mich leite zu deinem Reich!«

Der Scheidende hörte Worte und Töne, allein seine Seele war verschlossen für das Verständnis derselben. Des Lebens Not und Strudel hatten ihn ergriffen, er mußte seinen Entschluß fassen. Sein erster Drang trieb ihn zu Andreas. Dann aber besann er sich eines andern. Er wollte den Frieden in des Denkers stillem Hause nicht stören. Mit ihm zogen Streit und Unruhe ein, er wußte, wo er mit dem, was er vorhatte, willkommen sein werde, und lenkte seine Schritte in anderer Richtung.


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