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Erstes Buch.
Die Germanen vor der Völkerwanderung

 

Erstes Kapitel.
Allgemeine Grundlagen

Die Einwanderung der Germanen aus Asien wird, abgesehen von Nebengründen, hauptsächlich auch durch die unzweifelhafte Urverwandtschaft der germanischen Sprache, nicht nur mit denen der Hellenen, Italiker, Kelten und Letto-Slaven, sondern auch mit dem Zend und Sanskrit bestätigt, da Gleichartigkeit der Sprache notwendig Gleichartigkeit der Abstammung bestimmt. Der Ursitz der indo-germanischen Sprachwurzel muß aber in Asien gewesen sein, weil für die umgekehrte Möglichkeit einer nur durch Eroberung erklärlichen Übertragung europäischer Sprache auf Mittel- und Hinterasien jeglicher Anhalt in Sage und Geschichte fehlt.

Die Zeit und die zufälligen äußeren Anlässe der Ureinwanderung sind unerforschlich. Nur die Wege, auf welchen, und die Zeitfolge, in welcher die verschiedenen Hauptstämme aus Asien nach Europa hinüberzogen, können wir wenigstens vermuten.

Die Wege hat die Natur selbst angewiesen:

a) den Landweg durch das große Völkertor zwischen dem Ural und Kaspischen Meere, welcher allein beide, durch Gebirge sonst fast unübersteiglich geschiedene Weltteile verbindet, zu den unermeßlichen Steppen des Pontus,

b) den Seeweg durch die einander zugewandten Halbinseln und Inseln beider Erdteile über schmale Meerengen hin.

Dieser Verbindung beider entspricht der innere Bau Europas, das durch zwei parallele Bergketten, die der Alpen und der Karpaten, in drei, mehr oder minder entschieden getrennte Teile gesondert wird.

Der erste derselben, die südlichen Außenglieder, Griechenland und Italien, sind unstreitig, wo nicht ausschließlich, doch größtenteils, über die See her bevölkert worden.

Der Landweg dagegen spaltet sich an der Nordwestecke des schwarzen Meeres, indem die Ströme – die Naturstraßen der Urzeit – teils nach Norden und Nordwesten (Dnjepr, Bug und Dnjestr), teils nach Westen (Donau) führen. Letztere schloß den Einwanderern das mehr bergige Mittelland zwischen Alpen und Karpaten auf, erstere das nördliche Flachland zwischen Karpaten und Ostsee.

Die Zeit des Auftauchens der verschiedenen Hauptstämme Europas in der Geschichte, deren relativer Kulturgrad und die Lage ihrer ersten Wohnsitze setzen außer Zweifel, daß

  1. zuerst Hellenen und Italiker in die südlichen Außenglieder,
  2. Kelten in das Mittel- und dessen Hinterland,
  3. Germanen in das nördliche Flachland, zuletzt
  4. Slaven in den Ostteil dieses Flachlandes eingewandert sind.

Im Herzen und in den nordischen Außengliedern Europas, von den Lappmarken bis zur Donau herab, vom Bothnischen Busen bis zur Nordsee, im innern Lande zwischen Weichsel und Rhein – ein Raum von etwa 23000 Quadratmeilen – saßen zu Beginn unserer Zeitrechnung zahlreiche Völker, welche von Strabo, Plinius und Tacitus, ihrer Gesamteigentümlichkeit nach, für Stammgenossen erkannt wurden.

Kein Zweifel auch, daß ein Gefühl solcher Gemeinschaft mehr oder minder dunkel im Volke selbst lebte.

Begründet im Gefühle näherer Übereinstimmung in Sprache, Götterglauben, Rechtsgewohnheit und Sitte untereinander als mit den Nachbarstämmen der Kelten, Finnen, Slaven, hatte sich sogar der gemeinsamen Abstammung Erinnerung in der Sage noch erhalten.

Von weiterer Einheit derselben aber begegnet keinerlei Spur. Nicht die leiseste politische Verbindung, kein praktisch tätiges nationales Gemeingefühl, nicht einmal eines heimischen Gesamtnamens schwaches Band. Das Bedürfnis des Auslandes, besonders für wissenschaftliche Bezeichnung, hat den einer einzelnen Völkerschaft von den Kelten beigelegten Namen: »Germanen« in Ermangelung eines andern willkürlich auf den ganzen Stamm übergetragen; ein Volk, das sich selbst das germanische nannte, hat es niemals gegeben. (Daß dieser Name keltischen Ursprungs, das heißt, durch die Kelten zuerst in Gebrauch gekommen sei, ist unbezweifelt. Der erst im neunten Jahrhundert für einen Teil des germanischen Stammes aufgekommene Name: Theotisci, Theutisci (Deutsche) ist von der Sprache entnommen: Die Volks (thiod)-Sprache redeten die Rechtsrheinischen im Gegensatz zu dem (Vulgär-) Latein der Kirche und Gelehrten, aus welchem das Französische der Linksrheinischen erwuchs. D.)

Das charakteristisch Entscheidende in dem nationalen Gesamtwesen der Germanen, auf dessen Entwickelung die Geschichte der Folgezeit beruht, dürfte, kurz zusammengedrängt, folgendes sein.

Von seltener Kraft und wunderbarer Abhärtung gegen Kälte und Hunger waren die blondhaarigen, blauäugigen Söhne der Wildnis, mehr jedoch infolge klimatischer Notwendigkeit, als freier bewußter Übung, oder Versagung, daher gegen Hitze und Durst überaus unvermögend. Ähnlich der physische Mut der Germanen: wilder Naturtrieb, geweiht jedoch durch die Götterlehre und den Glauben an Walhall – die ihrerseits im Nationalcharakter wurzeln; passiver Ausdauer, bewußter Fassung im Mißgeschicke nicht fähig, vor allem gegen Disziplin sich empörend. Den schlagendsten Beweis liefert die Geschichte von des Germanicus zweitem Feldzuge im Jahre 16 n. Chr., wo die Germanen die Vernichtung des Cäcina mit vier Legionen in der Hand gehabt hätten, wenn sie sich nicht gegen den meisterhaften Kriegsplan des schon römisch geschulten Armin empört hätten, wozu der Jenem gehässige Inguiomer und Beutedurst sie verleiteten. Auch sonst wird die Geschichte zahlreiche Belege bieten.

In geistiger Hinsicht teilten sie die Vorzüge aller Völker höherer Rasse in der Vorkultur: Scharfblick, namentlich tiefe Naturkenntnis, und Verschlagenheit. Zwei Keime weltgeschichtlicher Größe lagen vor allem in diesem Stamm: inniger, wenn auch unbewußter Sinn für das Edle und Hohe, und wunderbare Bildungsfähigkeit: um so wirksamer und mächtiger, je stufenweiser und langsamer beide zur Entwickelung reiften.

Für nichts aber betätigte sich jene Kulturfähigkeit schneller und einflußreicher als für die Waffen. Ariovists Heer in Gallien, die germanischen Söldner und Offiziere in Roms Heeren und die ganze Geschichte bekunden dies glänzend.

Auch den Hang zur Untätigkeit hatten die Germanen mit anderen Völkern der Vorkultur gemein. In langdauernden Trinkgelagen erweiterte und erwärmte sich das Gefühl für öffentliche Angelegenheiten, steigerte sich aber auch mit dem Rausche zu Rauferei und Todschlag. Dem Spiel frönten sie nüchtern, aber mit solcher Leidenschaft, daß sie, wenn alles verloren, auf den letzten, verzweifelten Wurf das Höchste – ihre persönliche Freiheit – setzten. Willig ließ sich dann der Unterliegende, wenn auch der Stärkere, binden. »So groß, fügt Tacitus c. 24 hinzu, ist ihre Beharrlichkeit in schlechter Sache: sie selbst nennen es Treue.« (»Wort halten.«)

Kriegstänze nackter Jünglinge zwischen scharfen Schwertern, spitzen Speeren, bei denen Übung Kunst, Kunst Anmut hervorrief, war ihr einziges öffentliches Schauspiel.

Anziehend und erhebend inmitten solcher Wildheit glänzt die tiefe Verehrung der Frauen, die Reinheit des geschlechtlichen Verkehrs, die Würde und Treue der Ehe. »Niemand, sagt Tacitus (Germ, c. 19), belächelt dort das Laster noch wird Verführen und Verführtwerden Zeitgeist genannt.« Die Zahl der Kinder zu beschränken, oder gar ein geborenes zu töten, hielten sie für Verbrechen. »Überhaupt (so faßt Tacitus den Gegensatz zwischen dem staatlich-hochgebildeten, aber verderbten Rom und der einfachen Biederkeit des Naturvolks in schlagenden Worten zusammen):

vermögen gute Sitten dort mehr, als anderwärts gute Gesetze.«

Kräftig an Körper, kräftiger an Gemüt, durch und durch für Freiheit glühend, lebten und starben die germanischen Frauen. Was ist größer als der Tod jener kimbrischen Weiber und Jungfrauen nach der Vernichtungsschlacht durch Manus im Jahre 101 v. Chr.? Freiheit und Priesterschaft (– Pfand gesicherter Keuschheit –) wird ihrem Verlangen versagt. Da beginnen sie von der Wagenburg herab mit Speer und Axt den Todeskampf gegen das siegende Römerheer, schleudern die erwürgten Kinder unter die Hufen der Rosse, töten sich durch gegenseitige Streiche, erdrosseln sich mit dem eignen Haar.

Gleichen Geist bekunden die Strafen der Germanen. Verräter und Überläufer knüpften sie zur Abschreckung an Bäumen auf, Feiglinge und Geschändete erstickten sie in Moor und Sumpf und warfen noch Reisigbündel darauf, um selbst die Erinnerung solcher Schmach zu begraben. Andere Verbrechen erschienen ihnen leichter, wurden daher, selbst Todschlag und Diebstahl, nur mit Bußen an Geldeswert geahndet.

Der Blutrache gedenkt Tacitus Germ. c. 21. Die Buße aber, durch welche die Familie des Erschlagenen gesühnt werden konnte, ward in weisem Instinkte für den Gemeinfrieden gewiß schon in frühester Zeit eingeführt. Selbsthilfe war im weitesten Umfange erlaubt: ebenso der Raub (wiewohl nur außerhalb des Kreises der betreffenden Gemeinschaft und der befreundeten Nachbarstaaten, Cäsar de bello gall. VI, 23), der ihnen Schule, aber auch Beute des Krieges war. Krieg aber war die Seele, der Mittelpunkt des gesamten öffentlichen germanischen Lebens, alles durchdringend und gestaltend, Sitte und Familienbrauch, wie Gesetz, Verfassung und Götterglauben. Wie schön ist die Mythe von den Walküren, die, über den Schlachtfeldern schwebend, die Seelen der vor dem Feinde Gefallenen sogleich nach Walhall tragen. Wie mußte solcher Glaube zur Tapferkeit und Todesverachtung begeistern! (Freilich war er selbst aus dem tapferen Nationalcharakter erwachsen. D.) Krieg war ihre Lust, ihr Stolz, ihr Hauptgewerbe; träge und mattherzig erschien ihnen, mit Schweiß zu erwerben, was durch Blut errungen werden konnte.

Die Kriege der Germanen waren nur Volkskriege: ganz anders zu fassen sind Raubzüge einzelner Führer außerhalb der Landesgrenze. Nachdem aber Roms Übermacht dem Schweifen auf fremdes Gebiet wenigstens im Westen und Süden Schranken gesetzt, fand die Kriegslust oft und gern im römischen Solddienste Befriedigung, bis Wachstum in Kriegskunst und Politik auf germanischer, zunehmender Verfall auf römischer Seite den eingeborenen Trieb zu neuer, Rom endlich vernichtender Lohe anfachte.

Über den relativen Kulturgrad der Germanen zu Tacitus' Zeiten, den einige sehr tief, andere wieder ungemein hoch stellen, herrscht lebhafter Meinungsstreit unter den Forschern.

Die Wahrheit liegt sicherlich in der Mitte. Größte Einfachheit finden wir, aber nirgends Stumpfsinn der Roheit. Alles ist für das Notwendige, nichts für Wohlleben und bloße Behaglichkeit gestaltet. Schon die Erziehung war hierauf berechnet: unter demselben Vieh, auf demselben Boden, wuchsen die Kinder der Herren, wie der Knechte auf, bis die Jahre sie sonderten, innerer Adel den Stempel der Geburt aufdrückte.

Der Schiffahrt und des Geldes, der Butter-, Käse-, Salz- und Bierbereitung waren sie kundig, unstreitig auch des Schmiedens der Metalle; Eisen, nach dessen Seltenheit zu urteilen, bezogen sie wohl meist aus dem Auslande: namentlich von den Etruskern und Kelten, die sich in Erzeugung und Verarbeitung der Metalle früh auszeichneten.

Für Handel, der ursprünglich nur Tauschhandel war, hatten sie Sinn und Neigung nur soweit er ihnen die fremden Luxuswaren zuführte, wie die Einbürgerung zahlreicher römischer Händler in Marobods Reiche und der rege Verkehr der Hermunduren mit Augsburg (Germ. c. 41) beweisen.

Häuser bauten sie des Landes Natur und dem Bedürfnisse entsprechend nur aus Holz, verzierten sie aber durch Farben. Städte, Herde der Kultur und Verfeinerung scheute der Germane. »Mauern, läßt Tacit. (Hist. IV, 64) die Tenchterer reden, sind Merkmale der Knechtschaft; auch die Tiere des Waldes, wenn du sie einsperrst, entwöhnen sich der Kraft.« Befestigte Plätze aber, oppida, castella, durch Gräben, Wälle, Verhack und Palisaden gesichert, als Schutz- und Zufluchtsstätten gegen Überfall, hatten sie allerdings; die Befestigungskunst der Germanen lag indes, der hochausgebildeten gallischen (s. Cäsar, d. b. G. VII, 22 und 23) gegenüber, noch in roher Kindheit.

Über den Landbau der Germanen und dessen Betrieb, namentlich auch über die selbst für geschichtliche Entwicklung so wichtige Frage, ob und wann bei ihnen schon ein Sonder-Privateigentum an Liegenschaften oder nur Gemeindegut bestand, – herrscht großer Zwiespalt der Forscher.

Diese Frage ist zwar von minderem geschichtlichen Interesse, im engeren Sinne des Worts, wohl aber von desto größerem kulturhistorischen, indem sie für vielfache, an sich auffällige, landwirtschaftliche Verhältnisse der Folgezeit den Schlüssel bietet.

Ursitte der Germanen war, wie dies die Natur eines Nomadenvolkes, als welches sie von Asien her nach Europa einwanderten, mit sich brachte, vorgängiger Gemeindebesitz mit häufigem Wechsel der Wohnplätze, wobei jedem Genossen ein angemessener Teil zur Benutzung, auch wohl früh in Eigentum, aber nur in frei widerrufbares, überwiesen ward. Das Sondereigen umfaßte Haus, Hof, Garten, auch Saatfeld: der verhältnismäßige Anteil am Gemeindeeigentum galt als rechtliches Zubehör jedes Sondergutes, wie das bis zu den Gemeinheitsteilungen unserer Zeit 1½ bis 2 Jahrtausende hindurch bestanden hat, hier und da selbst noch besteht.

Der Landbau der Germanen war zu des Tacitus Zeiten in Vergleich mit der ersten Einwanderung und auch noch mit der Zeit Cäsars durch römischen Einfluß vorgeschritten. Sie bauten Winter- und Sommerfrucht: Roggen, Gerste, Hafer und Lein, auch Gemüse, namentlich Bohnen, und kannten die Düngung. Ebenso die Viehzucht, die sich außer auf Pferde und Rindvieh mindestens noch auf Schweine, Schafe, Ziegen und Gänse erstreckte. Ihr ursprüngliches Wirtschaftssystem war, infolge des Überflusses an Land, eine Schlag- oder Koppelwirtschaft, ging aber später mit dem Wachstum der Bevölkerung in die Dreifelderwirtschaft mit reiner Brache über.


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