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IV. Stufenfolge der Völkerausbreitung

Betrachten wir nun endlich, in welche Abschnitte, in welche Hebungen, Pausen, Wiederanschwellungen die große Völkerbewegung sich gliedert, so ergeben sich ungesucht folgende Unterscheidungen.

Die Einwanderung aus Asien hatte die später sogenannten Nordgermanen von den deutschen Küsten der Ost- und Nord-See nach Skandinavien hinübergeführt: die späteren Westgermanen bis an den Rhein und die Donau: hier staute sich die Bewegung eine Weile an der dichten, kulturüberlegenen keltischen Bevölkerung: aber nicht sehr lang: die westlichsten Germanen überschritten geraume Zeit vor Cäsar und Ariovist den Rhein und behaupteten sich im Elsaß.

Die Ostgermanen erfüllten Nordosteuropa: ihre Vorposten standen zwischen Oder und Elbe: ihre Nachhut, von den Slaven bereits dicht berührt, stand noch östlich von Weichsel und Pregel.

Der Übergang zu seßhaftem Ackerbau hatte beginnen müssen: denn man konnte nun nicht mehr so beliebig wie im weiten Asien die Weide- und Jagdgründe wechseln.

Die Wirkungen dieses Übergangs wurden allmählich fühlbar: die Bevölkerungen stiegen rasch: wenig in Skandinavien, daher fast gar keine Beteiligung der Nordgermanen an jener Wanderung: erst viel später, vor allem in Folge von politischen, von Verfassungsänderungen erfolgen Wanderungen der Norweger nach Island, Wikingerfahrten, Auswanderungen nach England, Nordfrankreich.

Die ersten Bewegungen sind uns jedenfalls unbekannt geblieben: wir müssen aber voraussetzen, daß das Andrängen der Sueben gegen die Ubier, das Eindringen der Sueben in Gallien eben nur die letzten westlichsten Wellenschläge einer Bewegung sind, welche viel früher und viel weiter nordöstlich anhob.

Nicht die erste Bewegung überhaupt, nur die erste uns bekannt gewordene Bewegung dieser Art ist die Wanderung der Kimbrer und Teutonen: sie wurde uns bekannt, weil sie bis zu den Römern drang.

Es besteht kein Grund, die Überlieferung zu bezweifeln, daß eine der häufigen Meerüberflutungen der kimbrischen Halbinsel das Ackerland so stark bedroht oder so weit verschlungen habe, daß ein Teil des Volkes – es fand wohl schon vorher nicht mehr genügenden Raum – sich zur Auswanderung entschließen mußte.

Schon diese erste bezeugte Wanderung trägt alle charakteristischen Züge der späteren: nicht nur Krieger, ein Volksteil mit Weibern, Priesterinnen, auf Wagen wandert: nicht das ganze Volk, nur der vielleicht durch Los bestimmte Überschuß oder der sein Land an das Meer verloren hatte: ein großer Teil des Volkes bleibt in den alten Sitzen: kein bestimmtes Ziel: Abwehr, verweigerter Durchzug, Erfolg, reiche Beute, fruchtbare Länder bestimmen die oft wechselnde Richtung des Marsches: endlich, nach glänzenden Siegen, Untergang der planlosen, heimatlosen Wanderer durch die überlegene Strategie und Taktik Roms: es ist wie ein Vorbild zahlreicher späterer ganz gleich verlaufender Bewegungen.

Aus der Zeit der darauffolgenden beiden Menschenalter von Marius bis Cäsar sind Überlieferungen germanischer Dinge nicht erhalten: wir dürfen diesen Zeitrahmen nicht leer denken: damals drängten die Westgermanen über den Rhein nach Gallien, selbst geschoben von den Sueben des Binnenlandes: Damals drohte die Gefahr, daß Gallien germanisch ward, bevor es die römische Kultur in sich aufgenommen hatte, durch welche es ein Lehrer der Germanen, ein Erhalter klassischer Überlieferungen nach deren Erstarrung in Rom selbst werden sollte.

Unter Ariovist war diese Gefahr gleichsam akut geworden: aber schon vor ihm schritt sie langsam gegen die Kelten vor.

Die Zurückweisung der germanischen Invasion, die Eroberung Galliens für Rom durch Julius Cäsar ward eine Tat von weltgeschichtlicher Bedeutung, von großartiger Nachwirkung für Jahrhunderte.

Schon Cäsar sah sich genötigt die neue Reichsgrenze, den Rhein, durch den Angriff zu verteidigen: zweimal trug er die römischen Adler über den Strom, nicht um dauernde Eroberungen zu machen – um den Barbaren zu zeigen, was ihnen drohe, wenn sie die Rheingrenze nicht scheuten.

Seine Nachfolger nahmen den wirklich oder angeblich von ihm ererbten echt cäsarischen Gedanken auf, Gallien und die Alpen durch die Unterwerfung Germaniens und der Alpenvölker endgültig zu sichern.

Sehr, sehr wenig fehlte an der wenigstens vorübergehenden Durchführung dieses Planes: die halb friedliche Romanisierung der Germanen wie der Gallier schien gelingen zu sollen: die großartige, obzwar dämonisch arglistige Tat Armins hat diese friedliche Unterwerfung vereitelt.

Aber die Rachekriege des Germanicus führten die römischen Heere bis an und über die Elbe: vom Rhein, von der Donau, von der Nordsee her drohte mit dreifachem Angriff die erdrückende Übermacht der Waffen und der Kultur Roms: der deutsche Urwald hat damals seine Söhne gerettet: bei höherer Kultur, bei Städtesiedlung, bei Verteidigung großen Nationalwohlstandes wären die Germanen so unvermeidlich erlegen wie Gallien und Spanien: sie wichen in Urwald und Ursumpf, sie gaben die wenig gepflegten Äcker, die leicht wieder herstellbaren Gehöfte preis: der Südländer trat vor dem Herbst fröstelnd den Rückzug an und die aus dem Waldinnern Zurückgekehrten bauten die verbrannten Holzhäuser wieder auf.

Tiberius und Claudius geben den cäsarischen Gedanken der Einverleibung Germaniens auf: wir urteilen jetzt nach dem Erfolg und erkennen, daß damit demjenigen Volke die Existenz gesichert ward, welches nach fast fünf Jahrhunderten das Westreich zerstörte: aber wer darf behaupten, die Einverleibung Germaniens wäre unter Tiberius durch Germanicus durchführbar gewesen?

In beschränkterer Fassung aber ward jener Gedanke der offensiven Verteidigung der Rhein- und Donaugrenze beibehalten: man erkannte, daß man Stromgrenzen nicht auf dem dem Schutzland zugekehrten, nur auf dem gegenüberliegenden Ufer wirksam verteidigt: zu diesem Behuf ward auf dem rechten Rhein- und linken Donauufer ein genial erdachtes System von Grenzwehren ausgeführt und drei jahrhundertelang standhaft und erfolgreich verteidigt: der Rheinlimes und Donaulimes: wie Rom in Britannien, in Afrika und Asien ganz ähnliche Grenzverteidigungen einrichtete. Lange Zeit brandeten die germanischen Wogen ohne Erfolg gegen diese Dämme.

Aber die treibende Elementarkraft ruhte nicht. Übervölkerung bewog die ungezählten Massen der Ostgermanen geräumigere, bessere Sitze zu suchen: der Druck der Slaven hatte wenigstens die Wirkung, die Ausbreitung nach dem ohnehin nicht lockenden Osten auszuschließen: noch weiter nach Norden zu wandern wehrten das Meer, der enge Raum und das harte Klima Skandinaviens, endlich die grimmige Tapferkeit der Nordgermanen: der Weg nach Westen war durch zahlreiche starke Germanenvölker gesperrt: so zogen die Goten nach Süden, Südosten in der Richtung auf die Donau.

Diese gotische Südwanderung (Mitte des zweiten Jahrhunderts, kaum 50 Jahre nach Tacitus) brachte die Donaugermanen (Markomannen und Quaden) in gewaltige Erregung: von Norden her gedrängt, drängten sie nach Süden: über die Donau, über die römische Grenze: das ist der markomannische Krieg, den Rom zu seinen furchtbarsten zählte.

Seit dieser Zeit – kurz darauf – treten die neuen großen Gruppennamen der Alemannen und Franken am Rhein auf: die fortwährende Zunahme der Bevölkerung hat nun die oben geschilderten Wirkungen auf die Verfassung, auf die Gestaltung größerer Staatsverbände, auf die Zusammenschließung zu Staatenbündnissen, auf die Erstarkung und immer wachsende Häufigkeit des Königtums geübt: die Völkerausbreitung durch ganz Germanien, der Andrang gegen Rhein und Donau wird immer stärker: schon scheint gegen Ende des dritten Jahrhunderts die Auflösung des Westreiches in eine Mehrzahl von halb römischen, halb germanischen Staaten unter Usurpatoren, manchmal schon germanischer Abstammung, getragen von barbarischen Söldnern, bevorzustehen: als drei große Feldherren (Claudius, Aurelian, Probus) und zwei große Staatsmänner auf dem Throne (Diokletian, Konstantin) das Reich erkräftigen, die Barbaren zum Teil abwehren – zum Teil aber freilich in immer steigender Zahl in das Reich selbst aufnehmen, einzelne und Tausende, als Beamte, Offiziere, Söldner, Grenzer, Kolonisten.

Seit Konstantin schlägt die längst begonnene Barbarisierung des Reiches im Innern einen stark beschleunigten Schritt an: dieser Germanisierung wäre das Westreich langsam, aber sicher – trotz wiederholter glücklicher Abwehr von Alemannen, Franken und Sachsen am Rhein und Goten aller Zweige an der Donau – zuletzt erlegen in schleichendem Verfall, wenn nicht abermals eine elementare Ursache den gewaltsamen Untergang rascher heraufgeführt hätte. Abermals eine Not: diesmal keine langsam anschwellende Hungersnot, diesmal die plötzlich wie ein Sturmwind die Völker vor sich treibende Hunnennot. Die Westgoten und andere durch diesen Stoß aus den Donauländern in römische Provinzen getriebene Völker durchziehen nacheinander zuerst Osteuropa, dann Italien, Gallien, Spanien, ja setzen nach Afrika über. Nur einzelne Städte von Italien und Gallien verbleiben noch den kaiserlichen Truppen: ein Aufstand germanischer Söldner beseitigt den letzten Kaiser des Abendlandes in Ravenna, Italien fällt diesen Söldnern, bald den Ostgoten, nach deren Untergange den Langobarden zu: in das gleichzeitig von Rom aufgegebene Rätien und Noricum rücken die Markomannen unter dem Namen der Bayern ein: schon vorher ging Spanien an Westgoten, Gallien an diese, Burgunder, Franken, Alemannen verloren: die Völkerwanderung ist zu Ende: d. h. die Ausbreitung der durch Übervölkerung, zuletzt auch durch Hunnen und Slaven, jahrhundertelang nach Süden und Westen gedrängten Germanen.

Nur wenige (Nordgermanen, Friesen, Sachsen) haben an der Bewegung fast gar nicht, die Hermunduren nur wenig Teil genommen. An Stelle der zahlreichen Völkerschaften begegnen jetzt in Deutschland nur die Namen der Stämme: der Franken, Friesen, Sachsen, Thüringer, Alemannen und Bayern, von welchen die erstgenannten alle anderen, dazu Burgunder und Westgoten in Gallien, Langobarden in Italien unterwerfen und in der Übertragung des weströmischen Kaisertums auf das Königshaus der Franken den neun Jahrhunderte ausfüllenden Kampf des Römertums und der Germanen abschließen mit der Eroberung der römischen Kaiserkrone für ein germanisches Königshaupt.

(Felix Dahn.)


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