Felix Dahn
Bissula
Felix Dahn

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Neuntes Kapitel.

Inzwischen hatte sich Bissula längst wieder von ihrer Betäubung erholt. Schon der schmetternde Tubaruf der im Ausfall vorbrechenden Römer hatte sie geweckt. Sie richtete sich auf hinter ihrem Versteck, hinter den Balken und Schanzkörben, die, mannshoch übereinander geschichtet, sie völlig verdeckten. Sie lugte durch die klaffenden Zwischenräume der Balken: mit freudig klopfendem Herzen sah sie es nun weit geöffnet stehen, jenes »Seethor«, das sich bisher so unerbittlich und undurchdringbar vor ihr verschlossen gehalten hatte. Vorsichtig, geduckt, wie ein Kätzchen, das der greifenden Hand enthuschen will, schlüpfte sie nun bis an die Westecke ihres Balkenversteckes und spähte zu dem Thor hinaus.

Aber wie heiß sie die Freiheit ersehnte und wie vertraut die furchtlose Tochter des Seewalds mit allerlei Gefahren und Schrecknissen des Urwalds oder der Wogen war: – sie blieb denn doch ein Mädchen: und sie hatte sie noch nie geschaut, die Schrecken der »männermordenden Feldschlacht!«

Sie sah jetzt diese blutigen Bilder, von welchen ihr nur etwa der Oheim oder ein Sänger bei einem Siegesfest erzählt hatte: sie sah und sie – erbebte.

Von dem Schein der beiden jetzt lichterloh brennenden Thorflügel, von den Fackeln der Römer, von den entflammten Reisigbündeln der Alamannen beleuchtet sah sie, ganz nah, jenseit des Grabens, das blutige, das mörderische Ringen, das bei dem Zusammenprallen der ausbrechenden Römer mit den Sturmhaufen der Ihrigen anhob. Sie sah Dinge, die sie mit markdurchrieselndem Entsetzen erfüllten!

Wie gelähmt, zitternd an allen Gliedern, ließ sie sich auf einen hinter ihr liegenden Schanzkorb niedergleiten und starrte mit großen, weit geöffneten Augen durch das Thor in das furchtbare Schauspiel, von dem sie, bei allem Grauen, den Blick nicht losmachen, vor dem sie die Lider nicht senken konnte. Sie erblickte einmal Saturninus, – dann verschwand er wieder, von seinen Illyriern verdeckt: – da tauchte er wieder auf – weiter vorn. Sie erkannte den König des Ebergaus: – er hatte auf dem letzten Sonnwendfest ihr eine Spange geschenkt: – da sah sie ihn rücklings niederstürzen – er stand nicht mehr auf! Neben ihm – eine kleine Gestalt – das helmlose Haupt von lichtem Gelock umflattert, – ja das war Sippilo! Der Sturz vom Wall hatte ihm also nicht geschadet! – Aber da nahte ihm von der Seite ein baumlanger Illyrier, der eine mächtig brennende Fackel als fürchterliche Waffe schwang: – laut schrie sie, alle Gefahr vergessend, auf: – der Knabe gewahrte gar nicht den über ihm geschwungenen Brand: – da stürzte der Soldat: – einen Augenblick sah sie im Schein jener Fackel Adalo, der den Bruder gerettet hatte, – sie jubelte auf bei dem Anblick –: aber die Fackel war nun erloschen, wie ihr Träger fiel: beide Brüder waren ihr entschwunden. Gleich darauf hörte sie laut klagend den Ruf vieler Stimmen: »Adalo! Weh Adalo! Weh um den Edeling!«

Schreck und Angst um den Freund drückten ihr das Herz zusammen: ach! sie konnte nichts mehr von ihm erspähen! Und schon erscholl von ihrem Rücken, vom Lager her, neuer, brausender, rasch näher dringender Lärm. Es war Hariowald, der nun mit den Seinen die letzten aus der Wagenburg vertriebenen Bataver – sie erkannte Rignomer – und die aus allen Zeltgassen flüchtenden, versprengten Römer vor sich her und zu dem decumanischen Thore hinaustrieb.

Sie wollte nun zu den nachsetzenden Alamannen durchzudringen versuchen. Aber Pfeile und Wurfspeere der Verfolger flogen dicht um sie, – ein verirrter Schleuderstein schlug krachend neben ihrem Kopf an einen Balken: erschrocken warf sie sich ganz auf das Antlitz nieder und ließ den gefährlichen Strom von Feind und Freund in der Ferne an sich vorüberbrausen. Doch bald ward es nun still, ganz still im Lager. Auch draußen, vor dem Thore, zog sich der Lärm des Kampfes sehr rasch hügelabwärts gegen den See hin. – Sie richtete sich wieder auf und sah durch das Thor. Ferne schon sah sie – wenig deutlich – das Gewoge sich die Hänge hinabwälzen: sie konnte kaum die Gestalten unterscheiden: aber laut drang das Siegjauchzen ihres Volkes an ihr Ohr. Helle Freude flammte dabei durch ihr Herz: sie sprang auf: »Sieg!« jubelte sie mit. »Freiheit! Heia!« Aber gleich darauf sagte sie sich selber, vorwurfsvoll: »Und Ausonius? – Und auch Saturninus, der Wackere? – Ach! und: – Adalo!« Dieser Schmerz, diese fürchtende Sorge um ihn, trieb sie kaum minder als der Drang nach der eigenen Befreiung hinweg aus ihrem sichern Versteck: sie beschloß jetzt, die Flucht aus dem Thor auf das gefürchtete, noch kürzlich so laute, nun aber grauenhaft schweigende Schlachtfeld zu wagen. Das Lager war ja leer.

Wenigstens schien es so: sie blickte, an die Ecke des Balkenhaufens schleichend, vorsichtig nach allen Seiten umher. Wohl dachte sie auch der treuen Bärin: »Bruna! Hierher Bruna!« rief sie, so laut sie konnte, in die Lagergassen hinauf: aber keine Bruna kam! –

Sie sah, – die brennenden Zelte leuchteten jetzt, auch schon hier von den Flammen ergriffen, ausreichend dazu, – in der Nähe keinen aufrechtstehenden, weder Feind noch Freund. Nur am Boden, – da regte sich's hier und da.

Stumm lag ein erschlagener Kelte quer vor der Zeltgasse, den Helm auf dem Haupte, den Speerschaft noch in der erstarrten Faust. Mit Grausen – sie hatte noch keinen Toten gesehen: beim Tod ihrer Eltern hatte sie wenige Jahre gezählt, – stieg sie behutsam, um die Leiche gewiß auch mit dem Gewande nicht zu streifen, das Kleid hoch aufhebend – über die breite Brust des Gepanzerten. »Noch drei Sprünge,« – dachte sie, »und ich bin vor dem Thor,« Schon hatte sie den Fuß erhoben, hurtig zu laufen, – da drang hinter ihr dumpfes Stöhnen an ihr Ohr. Unwillkürlich – obwohl von neuem Grauen geschüttelt – blickte sie um: das Furchtbare übt einen seltsamen Zwang, der zugleich anzieht und abstößt –: es war ein Verwundeter – ein Römer, der ein paar Schritte hinter ihr, tiefer im Lager, das Haupt an eine Zeltstange gestützt, lag, den rechten Arm auf die Erde gestemmt, die Linke auf die Brustwunde gepreßt: er mußte das Mädchen erblickt haben: denn statt zu stöhnen rief er jetzt – auf lateinisch – »Wasser – oh, ich bitte, Wasser!«

Wohl graute ihr: wohl bangte ihr, nochmal in das Lager zurück, von der draußen vor dem Thore winkenden Freiheit hinweg, sich zu wenden. Aber das Herz des Weibes siegte über die Furcht. Sie sah sich um, ob sie das Flehen des Durstenden erfüllen könne. Da fiel ihr Auge auf eine der großen Tonnen, die, stets mit Wasser gefüllt, nach römischer Lagerordnung neben jedem Thor stehen mußten. Sie waren so hoch, daß sie kaum hinein sehen konnte: aber sie hob sich mit beiden Händen an den Rand empor und sah, daß noch genug Wasser darin war.

Aber woher ein Gefäß nehmen? Allerlei Gerät lag um sie her verstreut: doch kein Becher, keine Schale. Da kam ihr ein Gedanke, bei dem sie zuerst schauderte. Jedoch mutig bezwang sie das mädchenhafte Grauen, trat zu dem toten Kelten, löste ihm – mit zitternden Fingern – das eherne Schuppenband, das ihm den Helm unter dem Kinne festhielt, zog ihm schonend, sacht – als ob der Tote es spüren könne – den Helm vom Haupt, eilte damit zu dem Faß, schöpfte die Höhlung halb voll und trug nun den Helm – mit dem lang wallenden, auf der Erde nachschleifenden Roßschweif des Kammes, mit beiden Händen, langsam schreitend, um nicht zu viel zu verschütten, dem Ächzenden zu, der mit stieren Augen jeder ihrer Bewegungen folgte und lechzend den Mund öffnete. Sie kniete neben ihm nieder, hielt die Halbkugel des Helmes seitwärts an seine bärtigen Lippen und gab ihm zu trinken: – er schlürfte das Ganze leer. Tief aufatmend legte er das Haupt zurück an die Zeltstange und sprach mit Anstrengung. »Bist du Christin?« Trotzig schüttelte die Alamannin die roten Locken: »Mich befreunden Freia und Frigga!« – »Gleichviel,« – sprach der Sterbende – »diesen Trunk, Mädchen, lohnt dir Christus, der Heiland!«

Sie erhob sich nun langsam: ihr Blick fiel in die nächste Zeltgasse zur Linken: – und mit gellendem Angstschrei ließ sie den Helm fallen und rannte, so rasch sie konnte, davon, auf das Thor zu.

Denn in dieser Gasse sah sie, von den brennenden Zelten grell beleuchtet, geduckt wie ein Raubtier, gegen sie heranschleichen, einen Dolch in der Hand, – Herculanus.

 


 


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