Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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Lonny wurde inzwischen von dem Dampfer weiter und weiter über das Meer getragen. Es riß an ihrem Herzen, daß sie sich von Lutz hatte trennen müssen, und sie hatte Augenblicke, in denen sie am liebsten über Bord gesprungen wäre, weil ihr das Leben ohne Lutz unerträglich schien. Aber dann sank sie immer wieder matt und willenlos in sich zusammen.

Erst als der Dampfer sich New York näherte, riß sie sich aus ihrer Gleichgültigkeit.

Es war eine sehr frühe Vormittagsstunde, als sie den Dampfer verließ. Da sie der englischen Sprache vollständig mächtig war, hatte sich alles ganz glatt abgewickelt. Durch den Kapitän erfuhr sie von einem guten, nicht zu teuren Hotel. Dort fand sie beste Aufnahme, als sie sich auf den Kapitän des Dampfers berief. Man wies ihr ein Zimmer an, das so hoch lag, wie sie noch nie in ihrem Leben gewohnt hatte. Sie erfrischte sich, kleidete sich zweckmäßig um und beschloß, nun sofort das Geschäft Mister Stanhopes aufzusuchen.

Da sie nicht Bescheid wußte, nahm sie ein Auto. Dieser Luxus erschien ihr als eine Zeitersparnis, und der Wahlspruch »Time is money« schien hier in der Luft zu liegen.

Es war ein ziemlich weiter Weg und das Auto dementsprechend teuer. Aber nun lag das riesengroße, 192 vielstöckige Gebäude vor ihr, und sie betrat die Eingangshalle mit einem etwas beklommenen Gefühl. Unschlüssig sah sie sich um. Hier schien kein Mensch für den anderen Zeit zu haben, alles hastete aneinander vorbei, und sie kam sich vor wie ein überflüssiges Hindernis in der Erscheinungen Flucht.

Aber endlich faßte sie sich ein Herz und ging, ihre Befangenheit bezwingend, auf eine Art Pförtnerloge zu. Sie fragte den Beamten, der dort an einem Pult stand, wo sie Mister John Stanhope finden würde. Mit einem kalten, abwägenden Blick sah der Beamte sie an. Aber in Lonnys Augen lag etwas, was ihn ein wenig dienstbeflissen machte. Er sagte, sich aufrichtend:

»Mister Stanhope ist verreist und überhaupt nur nach schriftlicher Anmeldung zu sprechen.«

Lonny erschrak. Mister Stanhope verreist – das war eine sehr unerfreuliche Botschaft für sie.

»Auf wie lange ist Mister Stanhope verreist?«

»Unbestimmt!«

»Können Sie mir sagen, wer ihn in seiner Abwesenheit vertritt?«

»In welcher Angelegenheit?«

»Es handelt sich um eine Stelle, die mir Mister Stanhope zugesagt hat.«

»Wegen Stellung wollen Sie sich nach Zimmer einhundertzehn bemühen; da drüben sind die Fahrstühle.«

Nach kurzer Zeit stand sie vor dem Personalchef. Dieser sah Lonny erst einmal scharf und kritisch durch seine Hornbrille an.

»Was wünschen Sie?« fragte er. Lonny legte ihre Karte vor ihn hin.

»Ich suche eine Stellung, mein Herr«, sagte Lonny so ruhig, wie es ihr möglich war. 193

»Als was?«

»Mister John Stanhope stellte mir in Aussicht, daß ich den Posten seiner Privatsekretärin einnehmen könne.«

»Ooh!«

Der Personalchef rückte seinen Sessel herum und starrte Lonny an, als habe sie verlangt, den Posten als Prokurist einzunehmen. Lonny wurde sehr unbehaglich zumute. Sie nahm alle Kraft zusammen, um ihre Ruhe zu bewahren, und fuhr fort:

»Meine Worte scheinen Sie in Erstaunen zu setzen, deshalb will ich Ihnen erklären, daß Mister Stanhope vor einigen Monaten in Deutschland den Wunsch äußerte, mich zu seiner Privatsekretärin zu machen. Ich hatte in meiner Eigenschaft als Sekretärin des Rechtsanwaltes Doktor Friesen die Ehre, Mister Stanhope kennenzulernen, während ich die Verträge für die Vertrustung mehrerer amerikanischer und deutscher Firmen ausarbeitete. Dabei machte mir Mister John Stanhope das Anerbieten, seine Privatsekretärin zu werden, falls ich jemals meine Stellung bei Doktor Friesen aufgeben würde und nach New York kommen wolle. Doktor Friesen ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ich bin frei und kam hierher, um mich Mister Stanhope zur Verfügung zu stellen.«

Sie sagte das alles so ruhig und bestimmt, daß sich der bebrillte Mister Yacht langsam von seinem Staunen erholte. Aber er zuckte die Achseln.

»Mister Stanhope ist auf vier Wochen in Florida, um Seebäder zu nehmen. Er hat keinerlei Anordnungen in bezug auf Sie hinterlassen.«

»Das ist verständlich, da er nicht annehmen konnte, daß ich so bald für ihn verfügbar sein würde. Es ist mir natürlich sehr unangenehm, daß Mister Stanhope 194 abwesend ist. Aber er hat mir gesagt, daß für Leute meiner Art immer eine Stelle bei Mister Stanhope sicher sei. Er gab mir seine Karte; hier ist sie. Und ich denke, das Wort eines Amerikaners ist so gut wie das eines Deutschen.«

Es zuckte ein wenig um den Mund des Mister Yacht. Er überlegte eine Weile. Lonny machte ihm nicht den Eindruck einer Schwindlerin. Möglich, daß Mister Stanhope wirklich etwas an dieser vornehm und sicher auftretenden Deutschen lag. Er hatte auch tatsächlich noch keine Privatsekretärin angestellt, weil er eben die passende Persönlichkeit noch nicht gefunden hatte. Mister Yacht wußte um die Vertrustungsangelegenheit und daß Mister Stanhope vor einigen Monaten in Deutschland gewesen war. Dieser pflegte solche Versprechungen, wie er sie dieser jungen Dame gegeben haben sollte, zu halten. Immerhin wußte aber Mister Yacht nicht, was er mit dieser jungen Deutschen anfangen sollte. Und so sagte er achselzuckend:

»Mister Stanhope wünscht in diesen vier Wochen mit keinerlei geschäftlichen Nachrichten behelligt zu werden. Ich muß Sie daher bitten, in vier Wochen wiederzukommen.«

Betroffen sah Lonny ihn an, aber ehe sie noch etwas erwidern konnte, sagte Mister Yacht:

»Leben Sie wohl, Miß Straßmann.«

Willenlos schritt Lonny hinaus. Niedergeschlagen kehrte sie in das Hotel zurück, diesmal sich bis zur Untergrundbahn durchfragend, denn den Luxus eines Autos wollte sie sich nicht noch einmal gönnen. Ganz verzagt saß sie in ihrem Hotelzimmer, dessen Einrichtung übrigens auch von einer fast bedrückenden Sachlichkeit zeugte. Und sie grübelte, was sie tun sollte. War es ratsam, auf Mister Stanhopes Rückkehr zu warten, 195 oder sollte sie versuchen, eine andere Anstellung zu bekommen?

Und würde Mister Stanhope, wenn er zurückkam, auch Wort halten? Er hatte ihr jenes Versprechen allerdings vor Zeugen gegeben. Doktor Friesen war freilich tot, aber – da war doch noch der amerikanische Rechtsanwalt dabei gewesen, der auch aus New York war. Wie hieß er doch gleich? Richtig, Mister Dumby! Ja, wenn sie sich an diesen Mister Dumby wenden würde – ob er ihr nicht vielleicht einen Rat geben konnte?

Sie fuhr hinunter in den Teeraum des Hotels, nahm ihren Tee ein und einen Imbiß und sah dann im Adreßbuch nach, wo Rechtsanwalt Dumby sein Büro hatte.

Am nächsten Vormittag fuhr sie mit der Untergrundbahn in die Nähe der Straße, wo Mister Dumbys Praxis lag. Und heute hatte sie mehr Glück als gestern. Mister Dumby war anwesend und ließ sie auch gleich vor, als sie ihm eine Karte hineinschickte, auf die sie geschrieben hatte: »Ehemalige Sekretärin von Doktor Friesen, Berlin. Ich erinnere Sie an den Abschluß des Trustvertrags.«

Mister Dumby kam ihr in seinem Sprechzimmer entgegen. »Ah, Miß Straßmann! Wie geht es Ihnen?«

Sie lächelte.

»Augenblicklich geht es mir gerade nicht gut, Mister Dumby. Ich habe gestern hier eine große Enttäuschung erlebt.«

Und sie erzählte ihm von ihrem vergeblichen Besuch im Betrieb von Stanhope. Dann fuhr sie fort:

»Sie waren Zeuge, Mister Dumby, als Mister Stanhope mir die Anstellung versprach, und ich bin deshalb zu Ihnen gekommen, um Sie zu bitten, mir zu raten, was ich in dieser Angelegenheit tun soll. Ich möchte nicht gern vier Wochen lang das kostspielige Leben einer 196 Arbeitslosen in New York führen. In meiner Not dachte ich an Sie. Vielleicht können Sie mir einen Rat geben.«

Mister Dumby dachte nach und sah dabei Lonny mit wohlgefälligen Augen an, während er sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand rieb. Das Kinn wurde ganz rot, bis er anscheinend einen Rat gefunden hatte und Lonny mit einem humoristischen Ausdruck ansah.

»Hm! Mister Stanhope legte viel Wert darauf, Sie als Privatsekretärin zu verpflichten, das weiß ich. Er hat mir auf unserer gemeinsamen Heimreise auf dem Dampfer noch verschiedentlich von Miß Straßmann vorgeschwärmt. Es hat ihm sehr leid getan, daß er Sie Doktor Friesen nicht abspenstig machen konnte, und doch hat ihm gerade das Eindruck gemacht. Er würde sehr ärgerlich sein, würden Sie, nun Sie ihn nicht angetroffen haben, eine andere Stellung annehmen. Hätte er nur eine Ahnung gehabt, daß Sie jetzt frei werden würden, dann hätte er sicher Anordnungen hinterlassen für den Fall, daß Sie sich melden würden. Aber warten Sie, Miß Straßmann, ich werde mich mal telefonisch mit Mister Yacht verbinden lassen.«

Dieser meldete sich denn auch gleich, und es entspann sich nun folgendes Gespräch:

»Hallo, Mister Yacht?«

»Yes, wer dort?«

»Mister Dumby, Rechtsanwalt!«

»Ja, Mister Dumby. – Womit kann ich dienen?«

»Gestern war eine junge Dame bei Ihnen, Miß Straßmann.«

»Jawohl!«

»Sie haben die junge Dame fortgehen lassen, Mister Yacht. Ich will Ihnen folgendes zu bedenken geben: Als Mister Stanhope Miß Straßmann das Angebot machte, 197 als seine Privatsekretärin zu ihm zu kommen, war ich Zeuge. Ich weiß, es liegt ihm unendlich viel daran, diese tüchtige Kraft zu gewinnen. Mister Stanhope wird sehr erzürnt sein, wenn Sie die Dame nicht festhalten, bis er zurückkommt.«

»Was soll ich aber tun, Mister Dumby? Ich habe doch keine Anhaltspunkte.«

»Miß Straßmann auf jeden Fall anstellen und sich so Mister Stanhope zu Dank verpflichten. Sie werden ihr doch als Chef der Personalabteilung irgendeinen entsprechenden Posten anweisen können, den sie einnehmen kann, bis Mister Stanhope zurückkehrt. Ich übernehme die Verantwortung, Mister Yacht.«

»Wirklich?«

»Unbedingt!«

»Gut, dann ist ja alles in Ordnung! Ist Miß Straßmann für Sie erreichbar?«

»Sie ist bei mir, sitzt mir gegenüber.«

»Gut! Bitte, schicken Sie sie zu mir.«

Lachend hängte Mister Dumby an.

»Die Sache ist in Ordnung, Miß Straßmann. Mister Yacht wird Sie irgendwie beschäftigen, bis Mister Stanhope zurückkommt und weiter über Sie bestimmen wird.«

Lonny reichte ihm aufatmend die Hand.

»Ich danke Ihnen herzlich, Mister Dumby!«

Zehn Minuten später war sie, vorläufig für die juristische Abteilung, als Sekretärin angestellt mit einem Gehalt, das in Dollar so hoch war, wie sie es bei Doktor Friesen in Mark bezogen hatte. Vorsichtshalber sagte Doktor Yacht:

»Ich mache Sie darauf aufmerksam, Miß Straßmann, daß Ihre Einstellung provisorisch ist. Mister Stanhope wird nach seiner Rückkehr selber weiterentscheiden müssen.« 198

»Ich danke Ihnen, Mister Yacht, und hoffe bestimmt, daß Sie meinetwegen keine Unannehmlichkeiten haben werden.«

Mit einiger Erleichterung kehrte Lonny ins Hotel zurück. Sie hatte noch Zeit, sich in der Nähe ihres künftigen Wirkungskreises ein Unterkommen in einem freundlichen, kleinen Boardinghouse zu suchen, ehe sie ihre Stellung antrat. Und als sie ihre Übersiedlung bewerkstelligt hatte und den ersten Abend allein in ihrem sehr niedlichen Zimmerchen saß, atmete sie auf. Ihr war, als habe sie nun das Schwerste hinter sich. Freilich, an zu Hause durfte sie nicht denken, dann überfielen sie die Schmerzen wieder mit aller Macht. Und die Sehnsucht nach Lutz quälte sie namenlos. 199

 


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