Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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3

Am nächsten Morgen trat Lonny mit hellen, klaren Augen, wie sonst, ins Wohnzimmer, um mit dem Vater und der Stiefmutter zusammen das Frühstück einzunehmen.

Man hatte nicht viel Zeit, sich zu unterhalten. Lonny mußte zuerst fort, weil sie heute besonders pünktlich sein wollte, um mit ihrer Aufgabe zur rechten Zeit fertig zu werden. Der Vater ging erst eine Weile später seinem Beruf nach. Herzlich verabschiedete sich Lonny vom Vater, von der Stiefmutter etwas kühler. Trotz aller Mühe, die sie sich gab, konnte sie ihrer Stiefmutter keine Liebe entgegenbringen. Sie waren beide zu sehr verschieden in ihrer Wesensart.

Mit elastischen, schnellen Schritten ging Lonny zur Haltestelle der Elektrischen, um ins Büro zu fahren. Um diese Zeit waren meist nur Menschen unterwegs, die zu ihrer Arbeitsstelle wollten. Alle sahen ernst und geschäftig aus. Auch Lonny blickte heute wieder ruhig und zielbewußt aus den Augen. Sie war mit sich im klaren, daß es für sie keine Träume von Liebe und Glück geben konnte, daß ihr Dasein auch weiterhin mit strenger Pflichterfüllung ausgelastet sein mußte. Das, was gestern abend in ihr zur Klarheit gekommen war, daß sie Lutz Hennersberg liebte, das sollte stillverschwiegen in ihrem Herzen ruhen. Im Alltag durfte das 25 keinen Platz einnehmen – nur in Feierstunden wollte sie sich heimlich daran freuen.

Im Büro angelangt, ging sie ohne Säumen an die Arbeit, nachdem sie den Bürovorsteher an die Sache mit Klemm erinnerte, wie es ihr Doktor Friesen aufgetragen hatte. Sie wurde auch pünktlich fertig mit ihrer Aufgabe, und als ihr Chef vom Termin ins Büro kam, händigte sie ihm die tadellosen Ausführungen aus. Er sah die Papiere durch und blickte dann mit einem Lächeln hoch.

»Auf Sie kann man sich doch immer verlassen, Fräulein Straßmann. Das haben Sie wieder großartig gemacht. Ich danke Ihnen!«

»Keine Ursache, Herr Doktor, ich tat nichts als meine Pflicht.«

Mit einem sinnenden Blick sah er sie etwas länger an als sonst.

»Nichts als ihre Pflicht? Und dabei sehen Sie durchaus nicht aus wie ein trockener, starrer Pflichtenmensch. Eigentlich sind Sie viel zu jung und schön, als daß man Sie im Aktenstaub verkümmern lassen dürfte. Aber ich bin viel zu egoistisch, um mich nicht zu freuen, daß ich in Ihnen eine so außerordentlich tüchtige Sekretärin gefunden habe. Ich kann mir gar nicht denken, daß ich einmal ohne Sie auskommen müßte. Hoffentlich verlassen Sie mich nicht so bald.«

»Nicht, solange Sie mit mir zufrieden sind, Herr Doktor«, erwiderte Lonny ruhig.

Er lachte ein wenig.

»Na, versprechen Sie nicht zu viel! Ein so schönes Mädchen, wie Sie sind, wird nicht lange unbeachtet bleiben. Wenn es nicht ein Verbrechen an Ihrer Jugend wäre, würde ich Sie mit einem langjährigen Vertrag binden. Aber dann kommt eines Tages ein Mann und will 26 Sie heimführen – dann könnte ich doch nicht auf meinem Vertrag bestehen, so ein Unmensch bin ich nicht.«

Sie sah ihn mit einem seltsam traurigen Blick an.

»Daraufhin können Sie ruhig einen Vertrag mit mir machen, Herr Doktor, ich heirate nicht.«

Das klang schwer und bestimmt.

Kopfschüttelnd sah er sie an.

»Das sagen alle jungen Damen so lange, bis der Rechte kommt. Wie gesagt, ich würde es für ein Unrecht halten, Sie zu binden. Ich könnte ja dabei nur gewinnen, wenn Sie nicht heiraten würden und immer bei mir blieben. Aber – um Sie wäre es schade, Sie sind so ganz dazu geschaffen, einen rechtschaffenen Mann glücklich zu machen.«

Während er das sagte, war es, als würde seine Stimme wärmer, als erwache plötzlich in seinem Innern ein Interesse für sie, das nichts mit seinen Geschäften zu tun hatte.

Lonny mochte das fühlen, sie wußte, das war so ein Fall, wo sie den Ermahnungen ihrer Stiefmutter hätte nachkommen sollen. Ganz sicher war das eine Gelegenheit, einen vertraulicheren Ton zwischen sich und Doktor Friesen anzubahnen. Wie gut, daß die Stiefmutter das nicht wußte.

Lonny richtete sich plötzlich wie in starrer Abwehr auf. Ihr Kopf hob sich stolz und ruhig.

»Was haben Sie sonst noch für Befehle, Herr Doktor?« fragte sie kurz und sachlich.

Er fühlte ihre Abwehr – und Doktor Friesen war nicht eitel, er konnte verstehen, daß dieses schöne Mädchen auf sich hielt und keine Vertraulichkeiten mit ihm aufkommen lassen wollte. Seine Hochachtung vor ihr war so groß, daß er ihrer Abwehr sogleich Folge leistete. 27

Ruhig und korrekt gab er ihr weitere Aufträge und kämpfte die leise Regung, die ihn bestimmt hatte, einen etwas vertraulicheren Ton anzuschlagen, in sich nieder.

Als alles Nötige besprochen war, entließ er Lonny. Aber ehe sie das Zimmer verließ, sagte er rasch: »Da fällt mir ein, ich habe meine Zeitung unten im Auto liegen lassen. Bitte, schicken Sie doch Zörner hinunter, mein Chauffeur soll ihm die Zeitung geben. Es ist ein ausführlicher Bericht des Naumann-Prozesses darin. Bitte, legen Sie diesen Bericht mit zu den Akten.«

»Es wird geschehen, Herr Doktor.«

Damit ging Lonny hinaus, froh, daß Doktor Friesen wieder zu seinem korrekten, sachlichen Ton zurückgefunden hatte. Sie rief draußen den Bürodiener Zörner herbei und richtete den Auftrag aus. Als sie in ihrem kleinen Büro angelangt war, trat sie unwillkürlich ans Fenster, um einen kurzen Blick hinunterzuwerfen – auf den Chauffeur. Aber sie fuhr sofort erschrocken zurück, denn Lutz Hennersberg stand unten neben dem Auto und blickte gerade empor in ihre Augen hinein und machte eine Verbeugung. Er hatte schon die ganze Zeit zu dem Fenster emporgeblickt, hinter dem er Lonny Straßmanns Büro wußte. Als er sah, daß Lonny erschrocken zurückfuhr, zuckte er ein wenig zusammen und wurde blaß vor Erregung. Warum war sie so erschrocken zurückgewichen bei seinem Anblick?

Ganz vertieft war er in seine unruhigen Gedanken. Aber plötzlich wurde er angesprochen.

»Sie sollen mich die Zeitung jeben, Chauffeur, die der Herr Doktor in seiner Benzindroschke hat liegen lassen«, sagte der Bürodiener zu ihm, ihn mit seinen kleinen, vergnügten Augen anblinzelnd.

Lutz Hennersberg öffnete den Wagen, legte die auf 28 dem Sitz ausgebreitete Zeitung zusammen und überreichte sie Zörner.

»Nich 'ne Zigarette, Chauffeur? Mir rochert so sehr, und ick habe keene mehr.«

Lutz zog sein Zigarettenetui und reichte es Zörner offen hin.

»Nehmen Sie, Zörner!«

Dieser starrte auf das elegante Etui.

»Mensch, wo haben Sie denn det jefunden? Det is doch mit 'ne Krone.«

Lutz wurde ein wenig verlegen, klappte das Etui schnell zu und sagte hastig:

»Ich habe es geschenkt bekommen.«

»O du dicke Luft? So'n Präsent möcht ick ooch mal haben.«

»Hat der Herr Doktor sonst noch Befehle für mich gehabt?« fragte Lutz ablenkend.

»Nee, nich det ick wüßt. Ick habe man jar nich mit ihm gesprochen, det Fräulein Sekretär hat mir runtergeschickt im allerhöchsten Auftrag.«

»So, so, Fräulein Straßmann?« sagte Lutz scheinbar gleichgültig.

»Jawoll, so is et.«

Zörner wollte die Unterhaltung noch weiterführen, er hätte den Chauffeur, der immer so nobel tat, gern noch ein bißchen ausgefragt, woher er das feine Zigarettenetui hatte. Aber dieser setzte seine undurchdringliche Miene auf und sagte ruhig:

»Der Herr Doktor wird auf seine Zeitung warten.«

Da trollte sich Zörner. Aber er dachte, während er die Treppe hinaufstieg: »Ob er det Ding geklaut hat?«

Und als er Lonny die Zeitung ablieferte, sagte er mit der unangebrachten Vertraulichkeit, die er ohne Ausnahme der Person für jeden Menschen hatte, selbst 29 seinem Brotgeber gegenüber, der sich darüber amüsierte:

»Fräulein Sekretär, was der Chauffeur vom Herrn Doktor is, der is mir een schönet Rätsel.«

Lonny sah ihn scheinbar gleichmütig an.

»So?«

»Jawoll, ick habe so meine Betrachtungen über ihn. Er führt sich immer uff wie'n Jraf, und denn hat er noch een Zigarettenetui mit 'ne Krone drin. Ob er det woll geklaut hat?«

Lonny hatte alle Kraft nötig, um sich nicht zu verraten. Sie brachte es aber fertig, ruhig zu Zörner zu sagen:

»Sie haben doch immer einen losen Mund, Zörner, und werden noch mal in ernste Unannehmlichkeiten kommen. Wie können Sie so eine Anschuldigung aussprechen? Wenn das der Chauffeur wüßte, würde es Ihnen schlecht ergehen.«

»Na, Sie werden es schon nich petzen, und zu 'nem andern sag ick nischt darüber. Ich wollte man bloß sagen, det et mir wundert, wo er det feine Ding her hat. Er sagt, er hat det geschenkt gekriegt.«

»Dann wird es wohl auch stimmen. Schwatzen Sie also nicht solchen Unsinn. Und nun lassen Sie mich in Ruhe, ich habe keine Zeit.«

So trollte sich Zörner auch hier mit der ungelösten Frage auf dem Herzen. Lonny aber sah eine Weile, wie in tiefe Gedanken versunken, hinter Zörner her. Der Chauffeur hatte ein Zigarettenetui mit einer Krone drin? Das gab ihr ein neues Rätsel auf. Aber sie wehrte die Gedanken, die sie bestürmten, von sich. Vor ihr lag eine Arbeit, die all ihre Aufmerksamkeit forderte, da durften die Gedanken nicht abirren.

Unten aber neben dem Auto stand Lutz 30 Hennersberg und schaute immer noch zu dem Fenster hoch, hinter dem er Lonny Straßmann wußte. Er hatte wohl eine Stunde zu warten, bis sein Herr herunterkam und sich von ihm hinaus zu einem großen Fabrikanwesen fahren ließ, wo er geschäftlich zu tun hatte. Vor der Fabrik mußte er längere Zeit warten. Hier aber sah er nicht nach den Fenstern, er saß auf seinem Führersitz und las in einem Buch – einem Buch in englischer Sprache.

 

Lonny hatte wieder einige Stunden mit Doktor Friesen gearbeitet, nachdem er aus der Fabrik zurückgekehrt war. Er hatte ihr einige Briefe diktiert, die sie in die englische Sprache übersetzen sollte. Lonny beherrschte diese Sprache ganz und gar.

Sie hatte dann bis zum Büroschluß damit zu tun, und als sie die Briefe Doktor Friesen hinüberbrachte, fragte sie, ob er noch etwas für sie zu tun habe.

»Nein, Fräulein Straßmann, heute sollen Sie nicht wieder Überstunden machen. Sie können nach Hause gehen. Ich erwarte nur noch einen telefonischen Anruf, dann mache ich für heute Feierabend.«

»Sie haben es auch sehr nötig, einmal auszuspannen, Herr Doktor.«

Er fuhr sich über die etwas gelichtete Stirn.

»Ich schlafe mich heute mal gründlich aus. Also bis morgen, Fräulein Straßmann.«

Lonny verabschiedete sich und machte sich langsam fertig zum Gehen. Sie wußte, unten vor dem Haus stand Hennersberg und wartete auf seinen Herrn, sie hatte das Auto anfahren hören. Und sie mußte an ihm vorübergehen. Das Blut schoß ihr schon bei diesem Gedanken in die Stirn. Und es rötete das ganze Gesicht, als sie endlich aus der Haustür des Bürohauses hinaus auf die Straße trat. 31

Hennersberg gab sich einen Ruck, als er sie erblickte, und machte dann seine kurze Verbeugung. Sie neigte leicht das Haupt, aber er sah, wie tief sie errötet war. Seine Augen strahlten auf, und er sah ihr unverwandt nach, bis sie um die Straßenecke verschwunden war. Dann nahm er seinen Führersitz ein und zog sein Buch hervor, in dessen Inhalt er sich vertiefte. Das Fenster da oben hatte seine Anziehungskraft verloren.

Eine halbe Stunde später fuhr Doktor Friesen nach Hause. Als er seine schöne Villa in Wannsee erreicht hatte, sagte er beim Aussteigen lächelnd zu Hennersberg:

»Heute brauche ich Sie nicht mehr, Hennersberg, Sie können über diesen Abend frei verfügen. Guten Abend!«

»Guten Abend, Herr Doktor!«

Lutz Hennersberg fuhr das Auto in die Garage und übergab es dem Wagenwäscher, der das Amt hatte, die beiden Autos und die Garage sauberzuhalten und sich sonst in Haus und Garten nützlich zu machen.

Hennersberg hatte strengen Dienst von früh bis spät, und deshalb fand er keine Zeit, die Wagen in Ordnung zu halten. Daher kam es, daß, wie Lonny bemerkt hatte, seine Hände so gut gepflegt aussahen. Beim Fahren trug er immer Handschuhe.

Er begab sich dann in seine Wohnung, die über der Garage lag. Sie bestand aus einem Wohn- und Schlafzimmer. Er suchte sein Schlafzimmer auf, zog eine Gummibadewanne aus der Ecke hervor und nahm ein kaltes, erfrischendes Bad. Hierauf rasierte er sich – frühmorgens blieb ihm meist keine Zeit dazu – und kleidete sich um. Dann ging er in das geräumige Wohnzimmer hinüber. Hier stand auf einem runden Tisch vor 32 dem Sofa schon sein Abendessen. Er wurde aus der Küche Doktor Friesens beköstigt, und die Köchin, die trotz ihrer fünfzig Jahre für den schmucken Chauffeur eine kleine Schwärmerei empfand, dabei aber etwas Mütterliches hatte, sorgte immer gut für ihn. Alles war sehr appetitlich hergerichtet, und der kleine elektrische Teekessel wartete nur darauf, eingeschaltet zu werden. In wenigen Minuten kochte das Wasser, und er konnte sich mit dem bereitstehenden Extrakt seinen Tee bereiten.

Daß er nicht mit den anderen Bedienten zusammen drüben in der Villa im Dienerzimmer speisen mußte, hatte er auch der Köchin zu verdanken. Er hatte ihr diesen Wunsch ausgesprochen, und sie hatte denselben erfüllt. Die anderen Dienstboten wollten erst darüber maulen, daß der Chauffeur allein speiste. Er sei doch kein Graf und brauche keine ›Extrawurst‹. Die Köchin aber, die eine Machtstellung im Haus hatte, war für ihn eingetreten.

»Macht bloß keinen Lärm, mir ist das gerade recht, daß er drüben in seiner Wohnung ißt, denn da er nicht regelmäßig, wie ihr, zu Tisch kann, wäre es mir nur eine Plage mehr, wenn ich ihn jedesmal extra abfüttern müßte. So stelle ich ihm sein Essen hinüber und bin fertig damit.«

So hatte sie gesagt, und da hatten sich die Leute zufriedengegeben. In Wahrheit machte es jedoch der Köchin immerhin etwas mehr Umstände, für den Chauffeur extra anzurichten, aber das tat sie gern. Und Lutz wußte, daß er ihr mancherlei Vergünstigungen zu danken hatte, und hatte sich zuweilen mit kleinen Geschenken ihr gegenüber abgefunden, worüber sich das alte Mädchen um so mehr freute, da Lutz sich um die andern nicht kümmerte. Er war freundlich und höflich 33 zu den Dienstboten, hielt sich aber immer etwas reserviert.

»Er ist sicher mal was Besseres gewesen«, hatte die Köchin einmal gesagt, als über den Chauffeur gesprochen wurde. Die andern glaubten das ohne weiteres und gewöhnten sich daran, daß er sich von ihnen fernhielt.

Lutz lag viel daran, allein zu speisen, nicht etwa, weil er sich über sie erhaben dünkte oder sich an ihren Manieren stieß, er fürchtete nur, daß er sich durch sein Auftreten irgendwie verraten könne, und das wollte er nicht. Wer ihn jetzt bei seiner einsamen Mahlzeit hätte beobachten können, würde sofort gemerkt haben, daß er aus einem anderen Kreis stammte.

Nachdem er gegessen hatte, stellte er das Geschirr samt dem Teekessel auf das große Tablett und trug es hinaus auf den kleinen Vorplatz, wo ein Tischchen stand. Darauf setzte er das Tablett nieder, und hier wurde das Geschirr bei Gelegenheit abgeholt.

Er zog sich wieder in sein Wohnzimmer zurück und ließ sich aufatmend auf das Sofa nieder. Das Tischtuch hatte er zusammengelegt, und nun prangte eine rote Plüschdecke auf dem Tisch. Einen Aschenbecher hatte er bereitgestellt, und er rauchte nun mit Behagen eine Zigarette. Er hielt sehr auf Ordnung in seiner Wohnung, alles mußte gleich auf den rechten Platz kommen, wenn es benutzt worden war.

Obwohl er selten einen freien Abend hatte, mochte er nicht ausgehen. Das kostete nur Geld und machte ihm kein Vergnügen. So vertiefte er sich wieder in sein englisches Buch. Aber nach einer Weile ließ er es sinken, lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Er dachte an Lonny, und von ihr schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit zurück – in eine 34 Vergangenheit, die so ganz anders gewesen war als die Gegenwart. Ein harter, düsterer Zug grub sich um seinen Mund, und tief und schwer kam der Atem aus seiner Brust. So verharrte er lange Zeit, bis er sich aufraffte und wieder zu seinem Buch griff.

Was nützte alles Grübeln, was nützte es, wenn er sich in die Vergangenheit zurückversetzte? Man mußte mit der Gegenwart rechnen. Und er mußte sich den Gedanken an das liebe, süße Mädel aus dem Kopf schlagen. Wozu sollte es führen, wenn er sich mehr und mehr in diese aussichtslose Liebe verstrickte. Aussichtslos? Ja, sie war ganz aussichtslos. Die Tochter eines Majors – wenn er auch längst nicht mehr Major war – würde niemals die Frau eines schlichten Chauffeurs werden. Was hätte er ihr denn auch zu bieten gehabt? Sollte er ihr vielleicht zumuten, mit ihm in dieser Zweizimmerwohnung über der Garage zu hausen? Oder in einer vielleicht noch ärmlicheren Mietwohnung?

Wenn er doch etwas hätte vollbringen können, was ihn aus diesen engen Verhältnissen wieder heraushob. Aber hatte er nicht schon alles versucht, ehe er die Stellung als Chauffeur annahm? War es nicht das einzige gewesen, womit er sein Brot verdienen konnte? Alles andere war aussichtslos gewesen. Selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, sein Studium als Ingenieur fortzusetzen, was stand ihm dann nach beendetem Studium bevor bei diesem erschreckenden Überangebot an Ingenieuren? Er hätte höchstens ins Ausland gehen können. Aber was nützten solche Erwägungen, er hatte eben das Geld nicht, um sein Studium zu vollenden. Was er ersparen konnte, war wenig, es würde sehr lange dauern, bis er genügend zusammen hatte. Und wenn er so eine Summe gespart hätte, dann wäre es sicher besser, er fing etwas anderes damit an, was ihn 35 schneller vorwärtsbrachte. Doch wie sich sein Schicksal auch in Zukunft gestaltete – der Chauffeur Hennersberg war nicht imstande, sich Lonny Straßmann zu erringen.

Immer wieder irrten seine Gedanken über das Buch hinaus, immer wieder stand lockend vor seinen geistigen Augen ein liebes, holdes Mädchengesicht, mit leuchtenden grauen Augen, mit einem blütenfrischen Teint, dem die Büroarbeit nichts hatte anhaben können, und mit dem kastanienbraunen Haar, das immer aussah, als seien metallische Funken darübergestreut.

»Lonny, süße, kleine Lonny, ahnst du, wie sehnsuchtsvoll ich an dich denke, ich – der Chauffeur Hennersberg?«

Was sie wohl sagen würde, wenn er vermessen genug wäre, ihr seine Liebe zu gestehen? Würde sie ihn auslachen – oder kalt und stolz zurückweisen wie einen unverschämten Zudringlichen? O nein, nein – sie würde keins von beiden tun, würde nur erschrecken und ihn mit so fassungslos verwirrten Augen ansehen wie gestern abend, als er ihr die Hand geküßt hatte. Fliehen würde sie vor ihm und ihn vielleicht ein wenig bemitleiden, zumal wenn sie wüßte, wie er aus seiner Bahn geschleudert worden war.

»Lonny – süße Lonny, wär' ich doch reich, könnte ich dir eine gesicherte Zukunft bieten –, ich weiß, du würdest mein, ganz gewiß würdest du mein. Dein Erröten, deine Verwirrung zeugen nicht von Gleichgültigkeit. Du siehst mir nicht ruhig und kalt in die Augen wie anderen Männern. Nein, ich weiß, ein wenig bist du mir gut – obwohl ich nur ein armer Chauffeur bin.«

Wie er es auch immer anstellte, schließlich waren seine Gedanken auf irgendeinem Weg wieder zu Lonny geeilt. 36

 


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