Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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6

Lonny freute sich auch, freute sich noch viel mehr als der Vater, weil sie Lutz Hennersberg eine Einladung vom Vater bringen durfte. Das würde alle Bitterkeit darüber auslöschen, daß sie ihn damals am Wannsee hatte fortschicken müssen, ohne ihn vorzustellen. Sie hatte Lutz noch nicht wieder gesprochen, nur ab und zu einen Gruß mit ihm getauscht. Aber schon am nächsten Tag, als er mit dem Auto wieder unten vor dem Büro hielt, trat sie zu ihm. Seine Augen leuchteten auf, und seine Stirn rötete sich ein wenig, als er in ihr strahlendes Gesicht sah.

»Herr Hennersberg, war Ihre Mutter eine geborene Baronesse Brambach?« fragte sie mit leise bebender Stimme.

Überrascht sah er sie an.

»Ja, mein gnädiges Fräulein.«

Ein frohes Lächeln flog über ihr Gesicht.

»Dann war mein Vater ein alter Freund und Regimentskamerad des Ihren. Mein Vater hat auch Sie gekannt in jener Zeit, als er in derselben Garnison mit Ihrem Vater diente. Aber Sie waren damals nur ein kleiner Junge. Und mein Vater und der Ihre sind nach langen Jahren erst an der Front wieder zusammengetroffen; mein Vater war dabei, als der Ihre durch einen Fliegerangriff verwundet wurde. Er hat auch noch 58 einige Worte vor seinem Tod mit ihm wechseln können.«

Lutz Hennersbergs Gesicht war blaß und fahl geworden.

»Ich weiß so wenig über meines Vaters Tod – wie er starb. Sie werden verstehen, daß mich Ihre Nachricht sehr erregt.«

»Oh, wie gut kann ich das verstehen! Mein Vater läßt Ihnen sagen, daß er sich sehr freuen würde, wenn Sie ihn besuchten.«

Seine Augen wurden groß und weit.

»Wirklich – darf ich wirklich kommen?«

»Ja doch, und Papa bittet, daß Sie recht bald kommen mögen. Er freut sich so sehr auf Ihren Besuch.«

»Aber – Ihre Frau Mutter?«

Sie lachte ein wenig, obwohl sie nicht weniger erregt war als er.

»Ach, über Mama müssen Sie sich gar keine Gedanken machen. Papa und ich sind übereingekommen, ihr vorher gar nichts von Ihrem Besuch zu sagen. Man muß sie in solchen Dingen nicht ernst nehmen. Sie brauchen nur bei der Anmeldung von Ihrem Freiherrntitel Gebrauch zu machen, dann werden Sie sicher auch von Mama empfangen werden.«

»Und – wenn sie dann in mir den Chauffeur Hennersberg erkennt?«

Eine reizende Schelmerei prägte sich in ihren Zügen aus.

»Nun, dann müssen Sie sich schon darauf gefaßt machen, daß sie ein wenig steif und zurückhaltend ist, aber darum dürfen Sie sich nicht kümmern, das ist wirklich sehr unwichtig. Papa freut sich so sehr.«

Ihre Schelmerei machte auch ihm das Herz leicht.

»Und Sie?« fragte er leise. 59

Sie errötete.

»Ich? Oh, ich freue mich auch sehr, daran dürfen Sie nicht zweifeln. Der Sohn eines Freundes meines Vaters wird mir immer willkommen sein.«

»Auch, wenn er nur Chauffeur ist?«

Mit großen, ernsten Augen sah sie ihn an.

»Dieser Chauffeur ist zugleich ein ganzer Mann, der sich nicht durch Schicksalsschläge niederdrücken läßt. Und er ist zugleich ein Ehrenmann. Weiter antworte ich Ihnen nichts auf diese Frage«, erwiderte sie warm und herzlich.

Er sah sie mit einem Blick an, der sie bis ins Herz traf.

»Ich danke Ihnen – oh, ich danke Ihnen.«

»Keine Ursache! Für wann darf ich Papa Ihren Besuch ankündigen?«

Er überlegte.

»Am Tag habe ich leider so selten Zeit.«

»So kommen Sie abends.«

»Darf ich das?«

»Es ist sogar günstiger, da Papa am Tag auch selten zu Hause ist.«

»Ich habe übermorgen einen freien Abend – wenn ich da schon kommen dürfte?«

»Gewiß! Ich werde Papa sagen, daß er Sie übermorgen abend erwarten darf. Er wird sich sehr, sehr freuen. Auf Wiedersehen also, Herr Hennersberg!«

»Auf Wiedersehen, mein gnädiges Fräulein, und nochmals heißen Dank; ich weiß, daß ich Ihrer Güte diese Einladung verdanke.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich habe gar nichts dazu getan«, wehrte sie verlegen ab. »Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie um sieben Uhr anmelde?«

»Sehr recht, ich bitte darum.« 60

Sie nickte ihm noch einmal zu und ging schnell davon.

Lutz Hennersberg sah ihr mit heißen Augen nach.

»Süßes, holdes Geschöpf – daß ich ein so armer Schlucker bin!« dachte er. Aber er freute sich sehr, daß er ihrem Vater einen Besuch machen durfte. Was er davon erhoffte, wußte er nicht, es erging ihm nur wie allen Liebenden: In jeder noch so unbedeutenden Begebenheit wartete er auf das Wunder, das kommen sollte, um seiner Liebe Erfüllung zu bringen. Vor allen Dingen aber konnte er doch hoffen, wieder einmal längere Zeit in Lonnys Gesellschaft zu sein, mit ihr sprechen zu dürfen. Daß ihr Vater der Freund des seinen gewesen war, betrachtete er als ein großes Glück, öffnete ihm dieser Umstand doch das Haus des Majors Straßmann.

Die Abneigung, die anscheinend Lonnys Stiefmutter gegen ihn hegte, wollte er mit gutem Humor in den Kauf nehmen. Sie war Lonny nicht wichtig, und wahrscheinlich auch ihrem Vater nicht, also sollte sie auch ihm nicht wichtig sein. Wenn er nur von Lonny und ihrem Vater willkommen geheißen wurde, das war die Hauptsache.

Er machte sich keine Gedanken darüber, was nach diesem Besuch werden würde. Es erschien ihm ja schon wie ein kleines Wunder, daß ihm ein glücklicher Zufall diese Einladung gebracht hatte. Er wollte ganz unverzagt sein.

Unablässig dachte er an diesen Besuch. Er freute sich auch sehr darauf, mit dem Major über seinen verstorbenen Vater sprechen und von ihm über die letzten Stunden seines Vaters hören zu können. Hatte er doch nie Näheres über dessen Tod erfahren. Nichts wußte er, als daß er einem Fliegerangriff erlegen war.

Voll sehnsüchtiger Ungeduld wartete er auf die 61 Stunde, da er sich bei Major Straßmann melden lassen durfte.

 

Lonny hatten ihrem Vater gesagt, wann Hennersberg kommen würde, und er freute sich sehr darauf. Lonny war aber doch etwas ängstlich, wie die Stiefmutter diesen Besuch aufnehmen würde. Ihr Vater machte sich weniger Kopfschmerzen darüber, ahnte er doch nicht, daß seine Frau einen Verdacht hegte, daß etwas zwischen Lonny und Hennersberg spiele. Lonny hatte ihm kein Wort darüber verraten, aus Furcht, daß er dann Bedenken hegen würde, den Besuch zu empfangen.

So sah denn Lonny dem Tag einigermaßen aufgeregt entgegen und hatte alle Mühe, ihre Verfassung zu verbergen.

Als sie aus dem Büro nach Hause kam und den Vater schon vorfand, machte sie schnell noch einige kleine Verschönerungsversuche an ihrem Anzug, war jedoch darauf bedacht, daß sie nicht auffielen, damit die Mutter nicht etwa Bemerkungen darüber machte.

Sie ging dann zu den Eltern hinüber ins Wohnzimmer und begann eine Unterhaltung. Aber sie lauschte dabei immer wieder hinaus. Und pünktlich um sieben Uhr wurde die Flurklingel gezogen. Lonny zuckte leise zusammen, der Major warf, ahnungslos, wie aufgeregt Lonny war, dieser einen verstohlen-lächelnden Seitenblick zu, als die Mutter sagte:

»Wer will denn da noch etwas von uns?«

Meta, das junge Dienstmädchen, öffnete draußen die Tür und kam gleich darauf mit einer Visitenkarte herein, die sie dem Major überreichte.

Dieser sah darauf nieder und gebot Meta dann:

»Führen Sie den Herrn in das Besuchszimmer.« 62

Erstaunt blickte seine Gattin zu ihm auf, während Lonny die Hände krampfhaft zusammenpreßte.

»Jetzt noch Besuch?« fragte die Majorin.

Der Major reichte seiner Frau die Visitenkarte.

»Ach, richtig, Hermine, ich habe ja ganz vergessen, dir zu sagen, daß ich den Freiherrn von Hennersberg heute abend erwarte. Er ist der Sohn meines alten Regimentskameraden, und da er am Tag so wenig Zeit hat wie ich, habe ich ihn bitten lassen, heute abend um sieben Uhr hier zu sein.«

Keine Ahnung kam der erstaunten Frau, daß dieser Freiherr von Hennersberg identisch war mit dem Chauffeur Doktor Friesens. Wenn sie dessen Namen je gehört hatte, so hatte sie sich denselben sicher nicht gemerkt. Und ganz gewiß kam sie nicht auf den Gedanken, daß er der Besucher sei. Sie sah nur erstaunt zu ihrem Mann hin und fragte: «Aber Botho, davon habe ich doch keine Ahnung. Wo bist du denn mit dem Freiherr zusammengetroffen?«

Der Major hatte sich erhoben, und nun war ihm unter dem forschenden Blick seiner Gattin doch etwas unbehaglich.

»Das erzähle ich dir später, Hermine, jetzt will ich den jungen Mann nicht länger warten lassen. Sag mal – können wir ihn wohl an unserer Abendtafel bewirten?«

Frau Hermine hatte jetzt zu ihrem Leidwesen sehr selten Gäste, weil es die Verhältnisse eben nicht gestatteten. Sie dachte nicht daran, einen Gast, zumal einen Freiherrn, abweisen zu lassen, wenn er an ihrem Tische speisen wollte.

»Ja, wenn er mit einer bescheidenen Mahlzeit fürlieb nimmt, wie wir sie zu bieten haben?«

»Aber sicher, es ist ja eine ganz zwanglose, improvisierte Einladung. Umstände werden nicht gemacht. 63 Ich möchte nur nicht, daß er gleich wieder fortgeht, denn wir haben uns viel zu erzählen. Also bitte, gib Meta Bescheid, daß sie ein Gedeck mehr auflegt. Ich werde ihn bitten, zum Abendessen zu bleiben. Jetzt will ich hinübergehen. Ihr könnt mir in einigen Minuten folgen.« Damit war der Major schon draußen.

Lonny war zumute, als sei ihr die Kehle zugeschnürt. Sie sagte sich jetzt doch, daß es ein Wagnis sei, der Stiefmutter auf diese Weise den Besuch Lutz Hennersberg aufgenötigt zu haben. Wenn das nur gutging. Sie setzte an, die Mutter aufzuklären, wer drüben im Besuchszimmer war, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Unruhig sah sie zu der Stiefmutter hinüber.

Diese erhob sich jetzt.

»Ich will doch Meta sagen, daß sie etwas Rührei zurechtmacht und eine Büchse Ölsardinen öffnet, die ich zum Glück noch im Vorrat habe. Man ist jetzt leider Gottes nicht für unverhoffte Gäste eingerichtet.«

Lonny zwang sich zu einem ruhigen Aussehen und erwiderte:

»Ich habe doch gestern eine Zervelatwurst mitgebracht, Mama, und einige frische Tomaten sind auch noch da. Das genügt doch völlig.«

»Nun ja, armselig genug wird es freilich aussehen, aber ein Schelm gibt mehr, als er hat. Früher hatte man immer eine gefüllte Speisekammer, jetzt gerät man leicht in Verlegenheit, wenn ein Gast kommt. Ich will sehen, was ich tun kann. Du kannst inzwischen hinübergehen und es ein bißchen zu vertuschen suchen, wenn ich etwas länger ausbleibe.«

»Ja, Mama!«

Die Majorin ging hinaus, und Lonny sah ihr mit einem langen Blick nach, aber dann mußte sie vor sich 64 hin lachen. Was Mama wohl für ein Gesicht machen würde, wenn sie in dem Besucher den Chauffeur Doktor Friesens erkannte? Sicher würde ihr jedes Ei leid tun, das sie geopfert hatte, um diesen Gast zu bewirten. Aber die Hauptsache war, daß Papa ihn empfangen und sicher schon seine Einladung vorgebracht hatte, am Abendessen teilzunehmen. Mama würde immerhin so viel Haltung bewahren, daß sie bei dem Anblick des Gastes nicht die Fassung verlieren würde. Solange Lutz Hennersberg dablieb, bewahrte sie sicher ihre äußerliche Ruhe, da nun doch nichts mehr zu ändern war. Und wenn er wieder fortgegangen sein würde, dann mochten ihre Vorwürfe niederprasseln, sie wollte sie geduldig über sich ergehen lassen.

Schnell ging sie hinüber in das kleine Besuchszimmer.

Dort hatte der Major inzwischen Lutz herzlich begrüßt.

»Mein lieber Herr von Hennersberg, Sie ahnen nicht, was für eine große, herzliche Freude es für mich ist, den Sohn meines alten Regimentskameraden bei mir zu sehen. Seien Sie mir herzlich willkommen!«

Lutz faßte seine Hand mit festem Druck.

»Ihre Freude kann keinesfalls so groß sein wie die meine, da Sie mir erlauben, Sie aufzusuchen.«

»Aber das war doch selbstverständlich, sobald ich von meiner Tochter erfuhr, daß Sie der Sohn meines unvergeßlichen Freundes Georg Hennersberg sind. Gleich, als ich Ihren Namen hörte und einiges von Ihrem Schicksal, ahnte ich, daß Sie Georgs Sohn sein mußten.«

»Verzeihung, Herr Major, selbstverständlich war das nicht. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich jetzt nichts bin als der Chauffeur Doktor Friesens.« 65

Der Major drückte seine Hand noch stärker.

»Um so selbstverständlicher! Wenn Sie in einer glänzenden Lebensstellung gewesen wären, hätte ich wahrscheinlich nicht gewagt, Sie in mein sehr bescheidenes Heim zu bitten. Aber so sind wir gewissermaßen Schicksalsgenossen. Ich habe es bis zum Versicherungsagenten gebracht, was auch keine reine Freude ist. Wahrhaftig, wenn ich ein Auto steuern könnte, wäre ich vielleicht auch lieber Chauffeur geworden. Aber davon wollen wir jetzt nicht reden, ich freue mich so sehr, daß Sie da sind, und Sie müssen uns bei unserem einfachen Abendessen Gesellschaft leisten, wenn Sie nichts Besseres vorhaben. Mit einem formellen Besuch lasse ich mich nicht abspeisen. Dieser Abend gehört mir, nicht wahr?«

Ernst sah der junge Mann zu ihm auf.

»Ich bleibe gern, Herr Major, wenn Sie es mir erlauben, und betrachte es als eine große Auszeichnung.«

»Gut, gut! Da bleibt uns wenigstens Zeit zu einer gründlichen Aussprache; ich habe Sie so viel zu fragen, nach all den Jahren, da ich von Ihrem Vater getrennt war. Draußen an der Front, als wir so überraschend wieder zusammentrafen, blieb uns wenig Zeit. Sie lagen noch im Kinderwagen, als ich mich damals von Ihrem Vater trennen mußte, und bei Ihrer Frau Mutter – was war sie für eine reizende und liebenswürdige Frau! – habe ich manch liebes Mal ebenso zwanglos ein Butterbrot gegessen, wenn mich die Sehnsucht nach einer behaglichen Häuslichkeit aus meiner Kommißbude zu den Freunden führte. Ja, Sie müssen mir viel erzählen!«

»Und ich werde Ihnen sehr dankbar sein, Herr Major, wenn Sie mir so ausführlich wie möglich über die letzten Tage meines Vaters berichten – über seine 66 letzten Stunden. Ich habe so wenig darüber in Erfahrung bringen können, stand ich doch damals selbst im Felde.«

»Ich weiß, darüber sprach Ihr Vater mit mir, und er hat mir viel Gutes von Ihnen erzählt. Was ich weiß, will ich Ihnen gern berichten; viel wird es nicht sein, denn wir hatten kaum Zeit, uns auf uns selbst zu besinnen, um uns her sprühten Tod und Verderben.«

In diesem Augenblick trat Lonny ein.

»Ach, da ist meine Tochter! Na, vorzustellen brauche ich nicht, Sie kennen einander.«

Lonny ging scheinbar ruhig und unbefangen auf Lutz zu und reichte ihm mit warmem Druck die Hand.

»Ich freue mich, Sie bei uns zu sehen, Herr Hennersberg!«

»Herr von Hennersberg, Lonny«, mahnte der Vater.

Sie lächelte schelmisch.

»Nein, Papa, ich habe strikte Weisung, den ›Freiherrn‹ und das ›von‹ zu ignorieren. Nicht wahr, Herr Hennersberg?«

»Ich bat das gnädige Fräulein darum. In meiner jetzigen Lebensstellung ist mir der ›Freiherr‹ mehr eine Last. Wer weiß, ob Doktor Friesen mich als Chauffeur engagiert hätte, wenn er gewußt hätte, daß ich Freiherr bin.«

Der Major nickte lachend.

»Kann ich verstehen; es würde mich auch genieren, einen Freiherrn zum Untergebenen zu haben. Aber jetzt sind wir doch unter uns, und da braucht Ihnen meine Tochter Ihren richtigen Namen nicht vorzuenthalten.«

»Wie Sie wünschen, Herr Major.«

»Wo bleibt denn Mama, Lonny«, fragte der Major.

Er wollte gern die Gegenüberstellung seiner Gattin mit dem Besucher hinter sich haben. 67

»Mama ist in die Küche gegangen, um unserem Gast zu Ehren noch ein luxuriöses Rührei dem frugalen Abendessen hinzuzufügen«, scherzte sich Lonny die eigene Befangenheit fort und sah Lutz tapfer in die Augen.

Aber während die drei Menschen anscheinend ganz unbefangen miteinander plauderten, sahen sie doch dem Eintritt der Hausfrau mit einiger Unruhe entgegen. Eine beklommene Spannung lag in der Luft.

Als die Hausfrau endlich eintrat, erkannte sie bei der nicht sehr strahlenden Beleuchtung des Besuchszimmers in dem Gast nicht gleich den Chauffeur Doktor Friesens. So genau hatte sie ihn überhaupt noch nicht angesehen. Und jetzt trug er weder den Chauffeuranzug noch wie neulich sonntags Hut und Paletot. Beides hatte er draußen abgelegt. Der Major stellte Lutz seiner Frau vor, und diese reichte dem Gast mit liebenswürdigem Lächeln die Hand, die er an seine Lippen führte. Aber nun sie ihn besser sehen konnte, zuckte sie plötzlich leicht zusammen.

»Ich weiß nicht – Sie kommen mir so bekannt vor, Herr von Hennersberg –, sollten wir uns nicht schon begegnet sein?«

Lutz richtete sich auf und sah sie fest an.

»Sie haben mich vielleicht schon auf dem Führersitz von Doktor Friesens Auto gesehen, ich bin der Chauffeur Doktor Friesens.«

Frau Hermines Gesicht zog sich bedenklich in die Länge und büßte sehr an Freundlichkeit ein. Ihr Blick flog mit einem unbeschreiblichen Ausdruck zu Lonny hinüber. Wohl bewahrte sie ihre Fassung, aber ihre ganze Haltung verriet jetzt eine große Reserve.

»Ach – daher erschienen Sie mir so bekannt! Ich hatte freilich keine Ahnung, daß –« 68

Ehe sie zu Ende sprechen konnte, fiel der Major ein:

»Herr von Hennersberg ist in der gleichen Lage wie ich und viele andere Männer, die der neuen Zeit Zugeständnisse machen müssen, liebe Hermine. Er ist ein Leidensgenosse von mir, und deshalb müssen wir ihn doppelt freundlich in unser Haus aufnehmen. Ich hoffe, er wird sehr oft unser Gast sein.«

Frau Hermine sah ihren Mann mit einem Blick an, als wollte sie sagen: »Was hast du da wieder angerichtet?« Aber sie sagte nur ein wenig vorwurfsvoll:

»Du hättest mich vorbereiten sollen, Botho.«

»Nun, für einen so zwanglosen Besuch bedarf es doch keiner Vorbereitungen; Herr von Hennersberg wird vorliebnehmen. Er wird ebensowenig verwöhnt sein wie wir. Aber nur Kopf hoch, mein lieber Herr von Hennersberg, Sie sind noch jung und werden sich wieder durchbeißen. Man darf sich nicht unterkriegen lassen.«

Damit war die gefährliche Klippe umschifft. Lutz atmete auf und Lonny auch.

Lutz antwortete dem alten Herrn:

»Unterkriegen lasse ich mich bestimmt nicht, Herr Major. Wenn es auch zuweilen nicht leicht ist, so sage ich mir doch immer, daß es noch schlimmer hätte kommen können und daß es jeden Tag wieder besser werden kann. Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren hochverehrten Damen, daß Sie es mich nicht entgelten lassen, daß ich, der Not gehorchend, eine untergeordnete Stellung einnehmen muß.«

»Aber mein lieber Herr von Hennersberg, für so kleinlich und engherzig werden Sie uns doch nicht halten?«

»Ich rechne es Ihnen jedenfalls hoch an, daß Sie mich in Ihrem Haus empfangen und an Ihrem Tisch dulden wollen.« 69

Abwehrend hob der Major die Hand.

»Ich weiß, man ist empfindlich, wenn man in gleicher Lage ist wie wir beide, aber so etwas dürfen Sie nicht sagen. Wir Leidensgenossen wollen nicht noch untereinander dazu beitragen, uns die Bitternisse unserer Lage zum Bewußtsein zu bringen. Ich sage Ihnen noch einmal, Sie werden uns jederzeit herzlich willkommen sein.«

Auf diese Worte ihres Gatten hin hätte Frau Hermine natürlich keinen Einspruch mehr einlegen können gegen Hennersbergs Besuch, aber sie dachte bei sich: »Wenn du nur wüßtest, mein guter Botho, was du mit dieser Einladung angerichtet hast. Du wirst es vielleicht noch bitter bereuen müssen.«

Aber sie sprach das nicht aus. Augenblicklich ließ sich doch nichts mehr ändern. Erst mußte sie wieder mit ihrem Gatten allein sein. Dann sollte er aber erfahren, welche Beobachtungen sie gemacht hatte und wie unklug es von ihm gewesen war, diesem jungen Mann Gelegenheit zu geben, mit seiner Tochter zusammenzukommen.

Lonny bekam jedenfalls schon jetzt einen Blick von ihrer Stiefmutter, der nichts Gutes verriet. Aber sie ließ sich durch diesen Blick nicht einschüchtern, war viel zu froh, daß der Vater Lutz Hennersberg sein Haus geöffnet hatte und ihn so freundlich aufnahm. Das konnte die Stiefmutter nicht mehr rückgängig machen, und das war die Hauptsache.

Daß die Mutter dem Vater, wenn Lutz Hennersberg sich wieder entfernt haben würde, natürlich in den Ohren liegen würde, erschien Lonny sicher. Aber der Vater würde doch nicht vergessen, daß Lutz Hennersberg der Sohn seines alten Freundes war. Und jedenfalls wollte sie sich die Freude nicht trüben lassen, daß er 70 jetzt hier war und daß der Vater so warm und herzlich mit ihm sprach.

Man ging dann hinüber in das Wohnzimmer zu Tisch, das zugleich als Speisezimmer dienen mußte. Lonny und der Vater unterhielten sich sehr angeregt mit dem Gast. Frau Hermine zeigte sich freilich sehr zurückhaltend, doch Lonny suchte das geschickt zu vertuschen. Wußte sie doch, daß Lutz den Grund zu dieser Zurückhaltung nur darin suchen würde, daß er Chauffeur war. Um gar keinen Preis hätte er ahnen dürfen, daß sie vielmehr deshalb so reserviert war, weil sie in ihm ein Hindernis für ihre Pläne, Lonny mit einem reichen Manne zu verheiraten, sah.

Zum Glück fiel auch die Zurückhaltung Frau Hermines wenig auf, da der Major um so aufgeräumter war. Er ließ eine der wenigen, ängstlich behüteten Flaschen Wein auftragen, die er nur bei besonderen festlichen Gelegenheiten preisgab. Und die Gläser klangen hell gegeneinander.

Lutz mußte erzählen von den Jahren, als der Major von dem Freund getrennt leben mußte. Alles interessierte diesen, und er kam ein wenig ins Schwärmen, welch eine reizende und bezaubernde Frau Lutz' Mutter gewesen war. Darauf berichtete Lutz, was für ein inniges und harmonisches Familienleben daheim geherrscht habe, wie er und der Vater die Mutter um die Wette vergöttert hatten und wie tapfer und unverzagt die Mutter alles Schwere ertragen – außer dem Tod des Vaters, der ihr das Herz gebrochen hatte. Auch davon sprach er offen, wie knapp es zu Hause immer zugegangen war, weil es oft nicht einmal zum Nötigsten reichen wollte.

»Aber Vater wollte trotz allem mein Studium an der Hochschule ermöglichen, obwohl er am liebsten 71 gesehen hätte, wenn auch ich Soldat geworden wäre, wie alle Hennersbergs – außer dem jüngeren Bruder meines Vaters«, sagte er.

Der Major blickte interessiert auf.

»Ach, richtig, ich erinnere mich, daß Ihr Vater darüber bekümmert war, daß sein Bruder nicht Offizier werden wollte. Was ist denn aus Henner von Hennersberg geworden?«

»Er ist ausgewandert, sobald er das kleine Erbteil ausgezahlt bekommen hatte, das Großvater seinen beiden Söhnen hinterließ. Er hat zu meinem Vater gesagt: ›Mit diesen paar tausend Mark kann ich in Deutschland nichts anfangen, Georg, ich werde mein Glück irgendwo draußen in der Welt versuchen. Die deutsche Heimat ist ohnedies zu eng für einen Menschen meines Schlages. Die Abenteuerlust steckt mir im Blut, ich muß hinaus, wenn ich nicht verkümmern oder Dummheiten machen soll.‹ Vater konnte freilich nicht verstehen, wie dieses Abenteurerblut in unsere Familie gekommen war, aber er liebte seinen Bruder sehr, und die Trennung von ihm hat ihm sehr weh getan. Ich habe immer ein bißchen für diesen Onkel Henner geschwärmt und mir ausgemalt, was für Abenteuer er wohl draußen in der Welt bestehen würde. Tatendurstig war er ausgezogen, als wolle er die Welt erobern – und mich gelüstete es in aller Stille manch liebes Mal, es ihm gleichzutun. Vielleicht steckt auch in mir ein Tropfen von diesem Abenteurerblut – aber das findet sich wohl in jedem jungen Mann, und meine Abenteuerlust war durch den Krieg vollständig abgekühlt.«

»Und wissen Sie nichts weiter von Ihrem Onkel Henner?«

»Er war zuerst nach Texas ausgewandert. Von dort hatte Vater einige Male Nachricht von ihm erhalten. 72 Dann kam ein Brief, in dem er mitteilte, er gehe in das Innere des Landes und habe allerlei Unternehmungen vor, von denen er noch nicht sprechen wolle. Er hoffe aber, sein Glück zu machen, wenn seine Pläne sich verwirklichen lassen würden. Eine Stelle in diesem Brief, der, wie alle seine Schreiben, voll Lebensfrische und Übermut war, habe ich mir gemerkt, weil sie mir besonderen Eindruck machte. Sie lautete: ›Es geht dabei ein bißchen scharf um Leben und Tod, mein lieber Georg, aber das Leben ist dann nur schön und lebenswert, wenn man es täglich neu erobern muß.‹ Ich mußte damals viel über diese Stelle nachgrübeln und schwärmte noch viel mehr für meinen Onkel Henner. Aber das war die letzte Nachricht, die Vater von ihm erhielt. Nie haben wir wieder von ihm gehört, er blieb verschollen. Wahrscheinlich ist er bei jenem gefährlichen Unternehmen, das er vorhatte, ums Leben gekommen.«

»Das ist wohl anzunehmen, sonst hätte er sicher wieder von sich hören lassen. Schade um ihn, er war eine Vollnatur. Wenn er am Leben geblieben wäre, müßte er wohl jetzt auch an die sechzig Jahre alt sein.«

»Ja, er war drei Jahre jünger als mein Vater, und dieser würde jetzt dreiundsechzig Jahre alt sein, wäre er noch am Leben.«

Lutz mußte dann auch von seinen Kriegsjahren erzählen, aber er faßte sich kurz. Wie alle, die draußen gewesen waren und das große Grauen miterlebt hatten, mied er die Erinnerungen. Er berichtete nur, wie schmerzlich es ihm gewesen war, weder seinem Vater noch seiner Mutter die Augen zudrücken zu können. Er hatte erst nach Wochen die Kunde vom Tod seiner Eltern erhalten.

Darauf blieb es eine Weile still. Alle saßen mit 73 ernsten Gesichtern da, selbst Frau Hermine war nicht ungerührt geblieben. Lutz raffte sich zuerst wieder auf und bat nun den Major, ihm zu berichten, wie sein Vater verwundet worden war und was er von seinen letzten Stunden wußte.

Der Major berichtete, soviel er wußte, tat es so schonungsvoll wie möglich und schloß dann seinen Bericht mit den Worten:

»Ich hätte mich eigentlich, nachdem der Krieg zu Ende war, nach Ihnen umsehen sollen. Daß Ihre Mutter die Nachricht vom Tod ihres Vaters nicht überlebt hatte, war mir bekanntgeworden. Ich konnte mir auch so gut vorstellen, daß das Leben Ihrer Mutter mit dem des so innig geliebten Gatten verlöschen mußte. Ich weiß, wie sehr die beiden Menschen sich geliebt haben. Aber – die Jahre waren so verflucht schwer, für mich wie für so viele andere. Man hatte so viel mit sich selbst zu tun, mußte sich mit einem völlig aus den Fugen gegangenen Leben abfinden. Und das macht so selbstsüchtig! Daß Sie das Schicksal nun doch, freilich ohne mein Dazutun, in meinen Weg führt, das freut mich jetzt doppelt.«

So gab es viel zu berichten an diesem Abend. Lonny und Lutz Hennersberg sahen sich dabei immer wieder mit großen, glänzenden Augen an. Sie genossen beide dieses Zusammensein mit der ganzen Intensität ihrer Liebe.

»Was haben sie für Pläne für die Zukunft?« fragte der Major.

Lutz atmete tief auf.

»Ich spare jeden Groschen, den ich erübrigen kann. Gottlob werde ich gut bezahlt. Erst hatte ich vor, wenn ich das Nötige erspart haben würde, doch noch mein Studium zu vollenden und nachher ins Ausland zu 74 gehen, weil man nur dort als Ingenieur ohne Vermögen hoffen kann, vorwärtszukommen. Aber« – ein Blick traf in Lonnys Augen – »diesen Plan habe ich aufgegeben, es würde lange Jahre dauern, ehe ich ein erstrebenswertes Ziel erreichen könnte. Jetzt habe ich einen anderen Plan, der mich vielleicht schneller vorwärtsbringen kann. Ich werde mir, sobald ich genug zusammen habe, ein Auto kaufen – es muß kein neues sein –, und dann fahre ich als Droschkenchauffeur auf eigene Rechnung. Ich muß dann alles dransetzen, bald ein zweites und drittes Auto anzuschaffen, zu deren Führung ich mir Chauffeure mieten werde. Bin ich auf diese Weise Droschkenautobesitzer geworden, dann werde ich sehen, ob ich mit eigenem Kapital in eine Autofabrik einspringen kann. Fachkenntnisse habe ich genug. Jedenfalls will ich vorwärtskommen und meine Tage nicht als Chauffeur beschließen, aber einige Jahre wird es doch noch dauern, ehe ich anfangen kann, diese Pläne in die Wege zu leiten.«

Und dabei traf ein schmerzlicher Blick in Lonnys Augen. Dieser stieg das Blut unter seinem Blick ins Gesicht, aber ihre Augen strahlten ihn doch zuversichtlich an.

Es wurde fast Mitternacht, als sich Lutz endlich verabschieden konnte.

Lonnys Hand wurde von der seinen fest und warm umschlossen, und sie gab den Druck in gleicher Wärme zurück. Auch der Major verabschiedete sich herzlich von ihm und bat ihn, bald wiederzukommen. Frau Hermine forderte ihn jedoch nicht zum Wiederkommen auf, sie verabschiedete sich sehr zurückhaltend von ihm. Aber das bedrückte ihn kaum.

Als er unten auf die Straße hinaustrat, hob ein tiefer Atemzug seine Brust. Seine Augen flogen an der Fassade des Hauses empor, als suche er etwas. 75

Lonny! Lonny!

Etwas anderes konnte er nicht denken in dieser Stunde, und sein ganzes Innere war durchpulst von einem heißen, drängenden Wollen. Er hätte die Welt aus den Angeln heben mögen, um sich Lonny Straßmann erringen zu können.

Leichteren Herzens trat er seinen Heimweg an.

 

Als Lutz die Wohnung des Majors verlassen hatte, sagte Lonny den Eltern schnell gute Nacht. Der Vater strich ihr über das Haar.

»Ja, ja, Lonny, heute ist es spät geworden, aber es war ein hübscher, behaglicher Abend. Hoffentlich besucht uns Lutz von Hennersberg recht oft«, sagte er noch ganz aufgeräumt.

»Das hoffe ich auch, Papa, da du dich so gut unterhalten hast. Es ist doch auch für dich ein wenig Abwechslung«, erwiderte Lonny tapfer, trotz des mißbilligenden Blickes ihrer Stiefmutter.

Sie küßte den Vater, reichte der Mutter die Hand und zog sich eilig zurück.

In ihrem Zimmerchen blieb sie stehen, die Hände fest auf das Herz gepreßt, und atmete tief auf. Jetzt würde die Stiefmutter mit allen Mittel versuchen, den Vater zu überzeugen, daß Lutz Hennersbergs Besuche in Zukunft unterbleiben mußten. Würde der sich beeinflussen lassen? Ach, sie wußte aus Erfahrung, daß die Macht der Stiefmutter über den Vater sehr groß war. Eine tiefe Entmutigung kam über sie. Viel härter als sonst empfand sie es heute, wie fremd ihr der Vater geworden war. Es war ja so natürlich, daß der Einfluß der Mutter weiter reichte als der ihre, sie war immer mit ihm zusammen, wenn er zu Hause war, sie war so oft mit ihm allein. 76

Mit einem tiefen Seufzer trat sie an das Fenster heran und sah hinaus in die Nacht. So ein lieber, schöner Abend lag hinter ihr. Ein heißes Sehnen, daß es immer so sein möge, erfüllte ihr Herz. Und ihre Gedanken flogen hinter Lutz Hennersberg her. Sie rief sich noch einmal jedes Wort, das er gesprochen hatte, ins Gedächtnis zurück. Was für ein guter, vornehmer Mensch er war – und ein ganzer Mann, ja – in allem Unglück ein ganzer Mann.

Sie ahnte, daß auch er sie liebte, daß er sich danach sehnte, es ihr zu sagen, daß er es aber nie, niemals tun würde, wenn er ihr nicht eine gesicherte Existenz bieten konnte. Schlaff ließ sie die Arme herabhängen. Wie bitter war es doch, arm zu sein.

Frau Hermine war mit ihrem Gatten allein im Wohnzimmer zurückgeblieben, als Lonny sich zurückgezogen hatte. Noch immer war der Major sehr angeregt und gut gelaunt. Aber dann sagte er lächelnd:

»Nun wollen wir auch zur Ruhe gehen, Hermine, ich muß ja auch zeitig wieder hinaus.«

Sie stellte sich dicht vor ihn hin und sah ihn mit großen Augen an. »Erst muß ich noch etwas mit dir besprechen, Botho, etwas von großer Wichtigkeit.«

Erstaunt sah er sie an.

»Was kann denn das sein, du siehst ja ganz feierlich aus.«

»Feierlich ist mir weniger zumute, Botho; ich muß dir leider sagen, daß es besser gewesen wäre, du hättest mich erst um Rat gefragt, ehe du den jungen Hennersberg ins Haus geladen hättest.«

Es sah sie etwas unbehaglich an.

»Ach, liebe Hermine, verdirb mir nicht den hübschen Abend noch zum Schluß. So etwas genießt man selten genug. Ich verstehe, du bist ein wenig verärgert, 77 daß ich dir nicht vorher sagte, daß ich ihn aufgefordert habe, uns zu besuchen.«

»Weil du eine große Torheit begangen hast. Wie sollte ich da erfreut sein über sein Erscheinen? Und nett war es nicht von dir, daß du mich übergangen hast, aber das wirst du noch bitter zu bereuen haben. Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen, den jungen Menschen ins Haus zu bitten? Das kann dir doch nur Lonny beigebracht haben.«

»Beigebracht? Wie meinst du das? Lonny hat mir von diesem Chauffeur Hennersberg gesprochen, und dabei stellte sich heraus, daß er der Sohn meines alten Freundes Georg Hennersberg ist. Darauf habe ich Lonny veranlaßt, ihn aufzufordern, uns zu besuchen. Das war doch ganz selbstverständlich.«

»Mein lieber Botho, ich nehme an, daß Lonny dich diplomatisch dahin gebracht hat, daß du ihn auffordern ließest. Denn – damit du endlich begreifst, was du angerichtet hast, muß ich dir jetzt mitteilen, daß ich den Verdacht hege, daß Lonny und Lutz Hennersberg ineinander verliebt sind.«

Aber der Major zeigte sich bei dieser Eröffnung nicht entsetzt, wie seine Frau gehofft hatte, im Gegenteil, es leuchtete fast freudig in seinen Augen auf.

»Wie kommst du denn darauf!« fragte er.

»Nun, ich halte meine Augen offen, wie es mir zukommt, da ich doch Mutterstelle an Lonny vertrete. Ich habe schon lange bemerkt, daß dieser Chauffeur ihr gefährlich zu werden droht. Hast du denn heute abend nicht bemerkt, wie sich die beiden in die Augen schauten?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe nichts bemerkt. Täuschst du dich auch nicht?« 78

Sie ärgerte sich über seine Seelenruhe.

»Leider täusche ich mich nicht! Ich habe schärfere Augen als du und bin wachsamer. Dieser Chauffeur Hennersberg ist eine schwere Gefahr für Lonny.«

Der Major strich sich über das etwas gelichtete graue Haar.

»Mein Gott, Hermine, du bist ja ganz außer dir. Das ist doch keine Veranlassung, dich so aufzuregen. Diese beiden jungen Menschen sind doch schließlich nicht die einzigen, die sich ineinander verlieben könnten, und Lutz Hennersberg ist doch ein Ehrenmann.«

»Aber Botho, begreifst du denn noch immer nicht? Er ist doch ein Habenichts. Er kann doch in keiner Weise eine sichere Existenz bieten. Es ist doch deine Vaterpflicht, so ein Unglück zu verhüten! Bedenke doch nur, sie wird sich durch diese Neigung die glänzende Partie mit Doktor Friesen verderben, wenn wir nicht mit allen Mitteln gegen diese aufkeimende Neigung – für mehr will ich es nicht einmal halten – vorgehen.«

Der alte Herr sank ganz geknickt in einen Sessel.

»Ach, so meinst du das? Mein Gott – nun ja, sie sind freilich beide arm, das habe ich nicht gleich bedacht. Das arme Kind – nein, nein, an eine Verbindung zwischen den beiden ist natürlich nicht zu denken.«

»Na, Gott sei Dank, daß du das wenigstens begreifst.«

»Ja doch, ich sehe es ein, wenn es auch jammerschade ist, daß diese beiden Menschen nicht zusammenkommen können. Lutz Hennersberg ist ein so prächtiger Mensch, sein ganzer Vater. Er würde seine Frau auf den Händen tragen.«

»Das muß aber gerade hier verhindert werden«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Wir dürfen es nicht dazu kommen lassen, daß sie sich ernstlich ineinander verlieben. 79 Denn dann bringe ich Lonny überhaupt nicht dazu, die Aussichten mit Doktor Friesen zu nützen.«

Bekümmert fuhr sich der Major über die Stirn.

»Glaubst du denn wirklich, daß Lonny da eine Aussicht hat?«

Frau Hermine sah ihn überlegen an.

»Mein lieber Botho, ein Mädchen von Lonnys Aussehen, mit ihren Eigenschaften, die täglich stundenlang mit einem Junggesellen zu tun hat, die hat ganz gewiß Aussichten, und es kommt nur darauf an, sie zu nützen. Glaubst du, Doktor Friesen würde ihr so viel Aufmerksamkeit erweisen, wenn er sich nicht schon stark für sie interessierte?«

Der Major war nun schon überzeugt, daß seine Frau recht hatte. Er nickte seufzend.

»Ja, ja, Hermine, du hast recht, ich wäre ein schlechter Vater, würde ich das alles nicht einsehen. Mein armes Kind!«

»Ja, ja, so sage ich auch, das arme Kind; wir müssen es hindern, sich selbst unglücklich zu machen. Alle Hebel müssen wir in Bewegung setzen, es zur Vernunft zu bringen. Dazu mußt du aber helfen. Du mußt Hennersberg vor allen Dingen klarmachen, daß er ihm nichts zu bieten hat, daß er alles vermeiden muß, um mit ihm zusammenzukommen.«

»Aber – wie soll ich das tun? Das ist doch eine sehr heikle Sache.«

»Davor dürfen wir uns nicht fürchten, und ich weiß schon, was zu tun ist. Während ihr euch unterhalten habt, habe ich darüber nachgedacht, was zu tun ist. Du mußt ihn kommen lassen, wenn Lonny nicht zu Hause ist, er wird ja mal eine freie Stunde am Tag haben. Schreib ihm einige Worte, bitte ihn, Lonny nichts zu sagen von seinem Kommen. Und dann reden wir ganz 80 offen mit ihm. Ich werde dir schon helfen, wir müssen das ganz diplomatisch machen. Er soll ja nicht gekränkt werden. An seine Ehre werden wir uns halten.«

Er seufzte auf.

»Muß das wirklich sein?«

»Ja, Botho, es muß sein, es ist deine Pflicht. Wenn du kein leichtsinniger Vater sein willst, mußt du dein Kind vor Not schützen.« 81

 


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