Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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16

Der Major hatte am Morgen in sehr bedrückter Stimmung das Haus verlassen. Obwohl er seiner Gattin keine Vorwürfe mehr machte, fühlte er doch, daß sie ein unehrliches Spiel getrieben hatte. Und daß er trotzdem Lutz gegenüber für sie würde eintreten müssen, war ihm peinlich.

Er kam nicht über seine unfrohe Stimmung hinweg, irgend etwas quälte ihn, und freudloser noch als sonst ging er seinem schweren Tagwerk nach; immer treppauf und -ab, immer auf der Jagd nach einem Menschen, der eine Versicherung abschließen wollte. Der Erfolg war auch heute sehr unbefriedigend; müde und abgespannt begab er sich am Spätnachmittag in das Versicherungsbüro, um, wie jeden Tag, Rechenschaft über seine Tätigkeit abzulegen. Erstaunt sah er auf einen Brief hinab, der ihm dort ausgehändigt wurde. Er war mit der Rohrpost gekommen. Sofort erkannte er Lonnys Handschrift und schrak zusammen. Das war so ungewöhnlich, daß er ahnte, es müsse irgend etwas geschehen sein. Unruhig riß er den Umschlag auf und las:

»Mein lieber, lieber Papa! Du mußt verzeihen, wenn ich Dir weh tun muß. Glaube mir, ich kann nicht anders handeln. Wenn Du nach Hause kommst, wirst Du mich nicht mehr finden. Ich kann nicht bleiben, Papa, kann nicht mehr mit Mama unter einem Dach leben 183 nach allem, was geschehen ist, und – kann Lutz Hennersbergs Frau nicht werden.

Du wirst mich wahrscheinlich nicht verstehen, wirst mir nicht nachfühlen können, wie furchtbar es mir ist, daß Lutz mir mißtraute, daß er annehmen konnte, ich hätte um Mamas Spiel gewußt und mich daran beteiligt. Wie ich geartet bin, würde eine Ehe, die nicht gegenseitig auf unerschütterlichem Vertrauen begründet ist, uns namenlos unglücklich machen. Und wo einmal das Vertrauen zwischen zwei Menschen erschüttert ist, kann es nicht wiederhergestellt werden, zumal ich leider nicht beweisen kann, daß ich völlig unschuldig bin. Es würde mich schon unsagbar quälen, müßte ich den Versuch machen, mich zu rechtfertigen. Ich habe Lutz das alles auch geschrieben, habe ihn freigegeben.

Daß ich heimlich gehe, darum bitte ich Dich um Verzeihung; aber Ihr hättet mich ganz sicher halten wollen, und ich konnte mich doch nicht halten lassen. Aber sorge Dich nicht, ich lasse Dir auf der Bank fünftausend Mark anweisen, damit Ihr nicht in Not kommt. Das reicht schon mit dem, was Du verdienst, mindestens für ein Jahr. Die andere Hälfte des Geldes nehme ich mit mir, damit ich nicht in Verlegenheit komme. Beunruhige Dich aber nicht, mir steht eine sehr gute Stellung in Aussicht, aber ich muß eine weite Reise machen, um sie antreten zu können. Verzeih mir, wenn ich Dir heute das Ziel meiner Reise noch nicht angebe, ich will erst an Ort und Stelle sein und ein festes Unterkommen angeben können. Du bekommst über alles Nähere in wenigen Wochen Bescheid.

Leb wohl, mein lieber Papa, zürne mir nicht, ich konnte nicht anders handeln. Heute kann ich Dir nicht mehr schreiben, es ist alles so wund und weh in mir. 184 Das Losreißen von Lutz macht mir bittere Schmerzen. Behalte mich ein bißchen lieb, Papa, und verzeih mir.

Deine sehr verzagte Lonny«

Der Major hatte sich niedersetzen müssen, er sah blaß und fahl aus. Einer der Beamten trat zu ihm und sah ihn besorgt an.

»Herr Major, fühlen Sie sich nicht wohl?«

Es sah auf, riß sich zusammen und steckte den Brief ein. Seine Hand bebte dabei.

»Es geht vorüber, eine kleine Schwäche – ich habe mich etwas überanstrengt, und die Frühlingsluft macht schlapp«, stieß er heiser hervor. Und der alte Soldat gab sich Haltung und richtete sich straff empor. Er erledigte seine Geschäfte und trat dann den Heimweg an.

Aus Lonnys Flucht erfuhr er erst, wie schwer sie von alledem betroffen war. Und nun stieg doch wieder ein bitterer Groll gegen seine Frau in ihm auf. Kein Zweifel, sie hatte unehrenhaft gehandelt und dadurch Lonny aus dem Haus getrieben.

Natürlich beunruhigte er sich auch darüber, was Lonny vorhatte. Obwohl sie schon immer tapfer ihren Mann gestanden hatte im Lebenskampf, hatte sie doch im Schutz seiner Häuslichkeit leben können. Jetzt ging sie allein und schutzlos hinaus in die Welt, und er wußte nicht einmal wohin, ahnte nicht, welcher Art die Menschen waren, die ihr eine Stellung geboten hatten. Weit, weit fort wollte sie gehen? Das war für ihn ein so ungeheurer Begriff, wo lag dieses: Weit fort?

Was würde Lutz zu alldem sagen? Hatten ihn wirklich gestern Zweifel und Mißtrauen auch gegen Lonny so haltlos davonstürmen lassen, oder hatte seine Frau recht, daß ihn nur die Freude über die Erbschaft davongetrieben hatte? Und – war er nach Leipzig gefahren, oder hatte er das aufgegeben? 185

Etwas wie Sehnsucht nach Lutz war in ihm. Er war ihm lieb und teuer geworden wie ein Sohn; seine Frische, seine Energie hatten ihn aufgemuntert. Es verlangte ihn danach, sich mit Lutz über das alles aussprechen zu können.

Er änderte plötzlich die Richtung seines Weges, wollte zu Lutz hinausfahren und sehen, ob er nicht doch vielleicht die Fahrt nach Leipzig aufgegeben hatte. Jetzt war doch so eine Fahrt nicht mehr wichtig für ihn. Aber er kannte Lutz Hennersbergs stark ausgeprägtes Pflichtbewußtsein nicht. Lutz hatte sein Wort gegeben, seinen Fahrgast nach Leipzig und wieder zurückzufahren, und dies Wort zu halten, hinderte ihn auch die reiche Erbschaft nicht.

Der Major erhielt von dem Pförtner der Friesenschen Villa den Bescheid, daß Herr Hennersberg nach Leipzig gefahren sei und erst am nächsten Abend zurückkehren würde.

So trat der Major bekümmert den Heimweg an.

Seine Frau kam ihm aufgeregt entgegen.

»Endlich kommst du heim! Ausgerechnet heute läßt du so lange auf dich warten. Ich habe so viel Aufregung gehabt. Hat dir Lonny geschrieben? Denke dir, sie ist heute vormittag, als ich einkaufen gegangen war, mit einem großen Koffer davongefahren. Ich fand diesen Zettel in einem Umschlag auf ihrem Zimmer ohne jede Anrede, es ist empörend. Ganz krank bin ich vor Aufregung und Unruhe. Sage mir doch endlich, ob du Nachricht von ihr hast.«

Mit diesem erregten Wortschwall fiel sie über ihn her.

Er las den Zettel und sagte, so ruhig er konnte:

»Du hast mich ja nicht zu Worte kommen lassen, Hermine. Ja, ich habe Nachricht von ihr – hier, lies diesen Brief.« 186

Er reichte seiner Gattin Lonnys Brief und fiel müde in einen Sessel. Wenn er noch Hoffnung gehabt hätte, daß Lonny doch vielleicht noch zu Hause sein könne, sah er sich darin getäuscht.

Als Frau Hermine Lonnys Brief gelesen hatte, fiel sie mit einem Schwall von Vorwürfen und Anklagen über ihren Mann her.

»Dieses undankbare Geschöpf! Einfach davonzulaufen wir irgendeine Beliebige. So eine glänzende Partie aufzugeben, als ob es gar nichts wäre! Nur in törichter Überspanntheit! Und ihre Eltern läßt sie in Not und Elend zurück. So gut hätten wir es haben können, und sie stürzt uns in Not und Sorgen. Überspannt ist sie von jeher gewesen, das hätte man ihr beizeiten austreiben müssen. Mit klaren Sinnen läuft doch ein Mädchen nicht vor einer so glänzenden Versorgung davon. Erst hat sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um diese Verlobung zu ertrotzen, und nun man ihr den Willen getan hat, läuft sie einfach davon, hinaus in die Welt. So ein Skandal!«

Sie steigerte sich immer mehr in ihren Zorn hinein, daß es nun nichts werden sollte mit der glänzenden Versorgung durch den reichen Schwiegersohn. Immer wütender und ausfallender wurde sie, bis der Major sich schließlich jäh erhob und auf den Tisch schlug.

»Jetzt ist es genug, Hermine, du vergißt dich! Kein Wort mehr gegen Lonny – du kannst wahrscheinlich gar nicht verstehen, wie tief sie getroffen worden ist.«

 

Lutz Hennersberg war in einer sonderbaren Gemütsstimmung nach Leipzig gefahren. Wie in einem Chaos wirbelten seine Gedanken durcheinander. Noch heftiger als in der vergangenen Nacht machte er sich 187 Vorwürfe, daß er auch nur einen Augenblick an Lonny hatte irrewerden können.

Und wütend und ärgerlich über sich selbst, vernichtete er jenen Abschiedsbrief Lonnys, während er in Leipzig eine Weile vor einem Lokal hielt, in dem sein Fahrgast abgestiegen war. Er zerriß ihn in winzige Stückchen und gab sie dem Wind preis. Von Leipzig gab er dann ein Telegramm auf an den Rechtsanwalt Harry Fleed:

»Anzeige gelesen. Bitte ausführliche Nachricht, das Nötigste per Kabel.«

Abends gegen sieben Uhr traf er in seiner Garage wieder ein und eilte auf sein Zimmer, um sich umzukleiden und Lonny dann aufzusuchen. Als er in sein Wohnzimmer trat, sah er auf der roten Wollplüschdecke auf dem Tisch einen Brief liegen. Dieser war schon gestern abend angekommen. Lutz nahm den Brief auf und erkannte sofort Lonnys Schrift, diese klare, schöne, vornehme Schrift, die ein Abbild ihres Charakters war. Erregt öffnete er den Umschlag und zog verschiedene, engbeschriebene Seiten heraus. Seine Hand bebte, als er las:

»Mein lieber Lutz! Du gingst gestern abend von mir mit einem häßlichen Mißtrauen. Ich stand diesem Mißtrauen hilflos gegenüber. Im selben Augenblick wie Du hatte ich erkannt, was für ein falsches Spiel meine Stiefmutter mit Dir, mit uns allen getrieben hatte. Die Schamröte stieg mir ins Gesicht und machte mich so verlegen, als sei ich selber eines Betrugs schuldig. Laß mich darüber schweigen, wie ich unter Deinem Argwohn gelitten habe, wie ich noch leide. Ich gebe Dich frei! Du sollst begreifen, daß mir Dein Reichtum nichts, gar nichts gilt. Mit dem armen Lutz, der an mich glaubte und mir vertraute, hätte ich unsagbar 188 glücklich werden können; mit dem reichen Lutz, der mir mißtraut, der mir etwas so Häßliches zutrauen konnte, kann ich meiner Wesensart nach nicht glücklich werden. Du bist frei; noch ehe Du vielleicht mit einer erzwungenen Entschuldigung zurückkehrst – oder Deine Freiheit zurückforderst, will ich aus Deinem Leben verschwunden sein. Sorge Dich nicht um mich; es steht mir eine gute Stellung offen, schon seit langer Zeit. Leb wohl, Lutz! Und alles Glück der Welt für Dich.

Noch ein letzter Gruß, Lutz Hennersberg, und noch ein letztes Mal

Deine Lonny«

Lutz war in einem Sessel zusammengebrochen und starrte auf den Brief hinab. Was mochte Lonny gelitten haben, was litt sie noch? Er haßte sich, daß er ihr das angetan hatte, und begriff erst nun ganz, wie sehr er sie mit seinem törichten Zweifel gekränkt und gedemütigt hatte.

Er raffte den Brief zusammen und steckte ihn zu sich, und so, wie er ging und stand, rannte er hinunter in die Garage, kurbelte seinen Wagen wieder an und fuhr davon. Als er vor dem Haus des Majors hielt, nahm er sich kaum Zeit, seinen Wagen zu sichern.

»Wo ist Lonny?« stieß er heiser hervor, als er dem Major gegenüberstand.

Der Major schluckte seine Erregung nieder.

»Ich weiß es nicht, Lutz, ich hoffte es von dir zu hören.«

Lutz fiel, wie aller Kraft beraubt, in einen Sessel.

»Ist sie wirklich fort, wirklich abgereist?«

Der Major reichte Lutz den Brief Lonnys, und dieser tauschte ihn mit dem seinen aus. 189

Die Herren lasen beide die Briefe durch, und die Majorin beobachtete Lutz mit heimlichem Forschen. Gottlob, er sah nicht so aus, als denke er daran, Lonny aufzugeben. So konnte doch noch alles gut werden. Das gab ihr den Mut, sich an Lutz zu wenden:

»Ich habe es gut gemeint, Lutz; ich wollte nicht, daß du von der Erbschaft erfuhrst, ehe du ganz zu uns gehörtest, und wollte ebensowenig, daß mein Mann oder Lonny etwas davon wußten, ehe du davon erfahren solltest. Ich fürchtete, du würdest anderen Sinnes werden, wenn du plötzlich reich wärest.«

Mit einem unbeschreiblichen Blick sah Lutz Frau Hermine an.

»Ich verstehe Lonny und begreife ihre Handlungsweise. Wenn ich nur eine Ahnung hätte, wohin sie sich gewendet hat. Mir ist, als hätte sie mir einmal von irgendeiner bedeutenden Persönlichkeit erzählt, die sie gern als Sekretärin engagieren wollte, aber – ich habe damals nicht so genau aufgepaßt. Jetzt müssen wir abwarten, und das wird eine grausame Strafe für mich sein. Gib mir dein Wort, lieber Vater, daß du mir sofort ihren Aufenthalt verrätst, sobald sie ihn dir mitteilt.«

Der Major reichte ihm die Hand. »Mein Wort darauf.«

Frau Hermine erhob sich und streckte Lutz bittend die Hand entgegen.

»Lutz, kannst du mir nicht verzeihen?

Er sah sie mit einem düsteren Blick an.

»Was Lonny leidet, das leidet sie durch dich und durch mich. Wenn ich Lonny mir zurückgewinnen kann, dann werde ich dir verzeihen können – sonst nicht, denn dann kann ich auch mir selbst nicht verzeihen.«

Er drückte dem Major die Hand, verbeugte sich kurz vor Frau Hermine und ging davon, mit schwer 190 bedrücktem Herzen. Der Major sah ihm seufzend nach. Die Majorin aber frohlockte innerlich. Es mußte doch noch alles gut werden, Lonny würde ja nicht aus der Welt sein, und Lutz würde sie schon wieder heimholen.

 


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