Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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5

Als Lonny am nächsten Tag wieder an dem Chauffeur vorüberging, der mit dem Wagen auf Doktor Friesen wartete, trat er schnell an ihre Seite.

»Mein gnädiges Fräulein, bitte, beruhigen Sie mich darüber, daß Sie keine Unannehmlichkeiten hatten, weil Ihre Eltern mich in Ihrer Gesellschaft sahen. Ich bin sehr schweren Herzens Ihrem Wunsch nachgekommen, Sie allein zu lassen«, sagte er erregt.

Sie war ein wenig blaß geworden, sah ihn aber ruhig an.

»Nein, nein, ich hatte durchaus keine Unannehmlichkeiten. Sie können ganz beruhigt sein. Und Sie müssen mir verzeihen, daß ich Sie so schnell fortschickte, aber ich wußte wirklich im Augenblick nicht, wie ich Sie meinen Eltern vorstellen sollte.«

Mit einem schmerzlichen Blick sah er sie an.

»Bleiben Sie doch wahr! Sie wollten Ihren Eltern ersparen, ihnen einen Deklassierten in aller Form vorstellen zu müssen!« stieß er bitter hervor.

Teilnahmsvoll sah sie in sein erregtes Gesicht.

»Vergessen Sie doch nicht, daß mein Vater auch nichts anderes ist als ein Deklassierter, wie Sie es nennen. Ich wollte Sie nur nicht einfach als Doktor Friesens Chauffeur vorstellen und wußte nicht, ob ich meinen Eltern sagen durfte, wer Sie in Wirklichkeit sind. 52 Wenn Sie es mir aber gestatten, werde ich bei Gelegenheit meinem Vater von Ihrem Schicksal berichten.«

»Gern gestatte ich Ihnen das; Ihre Eltern werden ja kaum mit Doktor Friesen zusammenkommen und mit ihm darüber sprechen.«

»Ich werde es ihnen nur unter Diskretion erzählen. Und wenn Sie dann wieder einmal zufällig mit meinen Eltern zusammentreffen, dann stelle ich Sie vor. Mein Vater wird Sie gern begrüßen, das weiß ich gewiß. Nur meine Stiefmutter – ganz offen: für meine Stiefmutter kann ich nicht garantieren; sie ist ein wenig engherzig.«

Er atmete erleichtert auf.

»Oh, Sie haben Ihre rechte Mutter verloren?«

»Ja, schon als ich kaum sechs Jahre alt war; meine Mutter verunglückte bei eine Bootsfahrt. Aber nun muß ich gehen, Herr Hennersberg, Doktor Friesen wird gleich herunterkommen.«

Mit einer artigen Verbeugung trat er zurück.

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie aufgehalten habe, ich war nur so in Unruhe.«

»Aber ganz ohne Ursache. Auf Wiedersehen, Herr Hennersberg!«

Mit aufleuchtenden Augen sah er ihr nach. Auf Wiedersehen hatte sie gesagt, und das klang ihm wie eine Verheißung in den Ohren.

Es erging ihm wie allen Liebenden: die Vernunftsgründe wollten nicht stichhalten. Er hoffte auf ein Wunder, das ihm doch ermöglichen könnte, Lonny Straßmann zu erringen.

So trafen die beiden noch oft für flüchtige Augenblicke zusammen, und auf diese Augenblicke konzentrierte sich für sie das ganze Leben. Auch Lonny vergaß die Ermahnungen ihrer Stiefmutter, wenn sie Lutz 53 Hennersberg sah. Sie vergaß alles, wenn sie in seine Augen sah, außer daß sie ihn liebte. Und auch sie begann nun auf ein Wunder zu hoffen, das ihrer Liebe Erfüllung bringen könnte.

Eines Abends, als sie aus dem Büro nach Hause kam, traf sie ihren Vater allein an. Die Stiefmutter hatte von einer befreundeten Dame eine Theaterkarte bekommen, die sie nicht selbst benutzen konnte, und so war sie ins Theater gegangen. Lonny war also seit langer Zeit wieder einmal ein Alleinsein mit dem Vater beschieden.

In Abwesenheit seiner Frau gab sich der Major zugänglicher und liebevoller Lonny gegenüber als sonst, und so war dieser Abend für Lonny ein sehr angenehmer und behaglicher. Sie plauderte mit dem Vater von allerlei Dingen, die sie sonst nicht berührte, sprach sich über ihren Beruf aus, über dessen Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten. Dann berichtete auch der Major, offenherziger als in Gegenwart seiner Frau, über alle Nöte und Demütigungen, die er in seinem Amt erlebte. Lonny tröstete ihn nach Kräften, und das Herz tat ihr weh, daß sie ihm nicht helfen konnte.

Schließlich benutzte Lonny die Gelegenheit, um dem Vater von Lutz Hennersberg zu erzählen, von seinem Schicksal, wie er Chauffeur geworden war und wie tapfer und unverzagt er es trug.

Aufmerksam hörte der Vater zu. Lonny hatte den Namen des Chauffeurs noch nicht genannt, hatte immer von dem Chauffeur Doktor Friesens gesprochen.

»Nun ist mir erklärlich, Lonny, daß er so gar nicht den Eindruck eines Chauffeurs machte, als ich ihn neulich am Wannsee mit dir kommen sah. Aber um so unverständlicher ist mir nun, daß er davonlief, als er uns erblickte.« 54

»Das werde ich dir gleich erklären. Er ist sehr empfindsam, was man ja bei seiner prekären Situation verstehen kann, und er wollte euch nicht in die Lage bringen, euch einen schlichten Chauffeur in aller Form vorstellen lassen zu müssen.«

»Ah, nun verstehe ich. Aber du hättest ihn überzeugen müssen, daß gerade ich volles Verständnis dafür haben würde. Wie heißt er denn eigentlich?«

»Lutz Hennersberg.«

Der alte Herr stutzte. »Lutz Hennersberg? Und du sagst, sein Vater ist als Oberst im Krieg gefallen?«

»Ja, im dritten Kriegsjahr.«

Lebhaft richtete sich der Major auf.

»Im dritten Kriegsjahr? Lonny, ich kannte einen Oberst Hennersberg, der auch im dritten Kriegsjahr gefallen ist und – der ein alter Freund und Kriegskamerad von mir war. Aber das war ein Freiherr Georg von Hennersberg«, stieß er erregt hervor.

Lonnys Augen glänzten.

»Ja, Vater, der Chauffeur Doktor Friesens ist ein Freiherr von Hennersberg. Er hat nur seinen Titel abgelegt, als er Chauffeur werden mußte.«

Der Major sprang auf wie ein ganz Junger.

»Das bewegt mich sehr, Lonny! Georg von Hennersberg war ein sehr guter Freund von mir. Ja, ich erinnere mich, Lutz hieß sein Sohn, den ich nur als kleines Kind kannte. Bald nach seiner Geburt verließ ich die Garnison, in der ich mit Georg von Hennersberg als Leutnant diente, ich wurde zu einem anderen Regiment versetzt, und er blieb zurück.

Georg von Hennersberg hatte sich zwei Jahre früher mit einer Baroneß Brambach verheiratet. Sie war sehr schön, aber vermögenslos, und er besaß auch nichts. Die Kaution hatten die Verwandten der Baroneß 55 zusammengelegt, das junge Paar war also nicht auf Rosen gebettet, aber glücklich war es über alle Maßen. Ich war zuweilen des Abends zu einem Butterbrot bei ihnen, und manchmal war es wirklich nur ein Butterbrot, das es zu einer Tasse Tee gab. Aber wie das gegeben wurde – ich glaube, ich bin trotzdem nie herrlicher bewirtet worden.

Also, ich verließ die Garnison, und einige Jahre blieben wir noch im Briefwechsel, dann schlief auch der ein. Wir hatten beiderseitig andere Sorgen und Kopfschmerzen. Erst draußen im Felde sahen wir uns dann plötzlich wieder, und es war gleich wieder, als seien wir nie vorher getrennt worden. Ein paar Wochen kampierten wir dicht nebeneinander.

Dann kam ein Fliegerangriff – und Georg Hennersberg wurde, wenige Schritte von mir entfernt, verwundet – schwer. Ich konnte nur einige Minuten an seinem Lager bleiben, wir mußten weiter, und der Arzt sagte mir, daß keine Hoffnung für ihn sei. Als ich zu ihm trat, war er bei Besinnung, und er sagte mir, matt die Hand nach mir ausstreckend: ›Leb wohl, alter Freund – es geht zu Ende mit mir, ich fühle es.‹ Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, Lonny, so ein Scheiden tut weh, wenn man weiß, es ist auf Nimmerwiedersehen. Aber ich heuchelte frohe Zuversichtlichkeit: ›Unsinn, Georg, wir sehen uns wieder; sobald draußen Ruhe ist, komme ich wieder zu dir.‹

Nun – ich kam nicht wieder zurück, wir mußten weiter. Aber ich hörte, daß Georg von Hennersberg noch in derselben Nacht seinen Wunden erlegen war. Man mußte damals über so vieles hinwegkommen, ich kam auch darüber hinweg.

Aber jetzt, da du mir von seinem Sohn sprichst, wird das alles wieder lebendig in mir. Da draußen in dem 56 Tohuwabohu löste ja immer ein Grauen das andere ab, und ich hatte anderes zu tun und zu denken, als mich in den Schmerz um den Tod des alten Freundes zu versenken; er war ja nur einer von so vielen.

Und nun, mein Mädel, das geht mir nahe, daß der Sohn meines alten Freundes sich auch so schwer durchschlagen muß. Wäre sein Vater am Leben geblieben, ihm wäre wahrscheinlich nach dem großen Zusammenbruch auch nur ein Posten als Versicherungsagent oder Weinreisender offengeblieben. Schließlich hat ihn der Tod vor mancher Bitterkeit bewahrt. Aber den Lutz von Hennersberg, den mußt du mir mal schicken; frag ihn aber erst, ob seine Mutter eine geborene Baronesse Brambach war, damit wir sichergehen. Bejaht er das, dann soll er bald, sehr bald mal zu mir kommen.«

Lonnys Augen waren feucht vor Erregung.

»Ja, Vater, ich werde es ihm sagen. Aber – Mama wird es vielleicht nicht gern sehen, wenn uns ein Chauffeur Besuch macht.«

Hastig wehrte der alte Herr ab.

»Unsinn, ist er der Sohn meines alten Kameraden, dann soll er uns willkommen sein. So unvernünftig ist Mama doch nicht, mir zu verwehren, daß ich ihn zu mir bitte.«

Lonny schlang den Arm um seinen Hals.

»Wir werden es ihr vorher gar nicht erst sagen, Papa. Dann kann sie nicht erst Einwände machen. Wenn er kommt, soll er sich als Freiherr von Hennersberg melden lassen, dann wird sie ihn schon einlassen.«

Sie sahen sich beide an und lachten wie ein paar Kinder, die einen Streich vorhaben.

»Gut, Lonny, so machen wir das. Ich freue mich, wahrhaftig, ich freue mich, daß ich den Lutz von Hennersberg nun als Mann wiedersehe.« 57

 


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