Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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9

Wieder waren einige Wochen vergangen. Lutz und Lonny sahen sich nur flüchtig, wenn sie auch beide stillschweigend dem Zufall ein wenig nachhalfen, um ein solches Zusammentreffen etwas öfter herbeizuführen. Und wenn sie einander sahen, dann strahlten die beiden Augenpaare liebevoll ineinander, und wenn es ging, tauschten sie wenigstens einen Händedruck. Aber eines Tages bat Lutz Lonny dringend:

»Schreib mir doch wenigstens zuweilen einige Worte, Lonny, damit ich etwas habe, woran ich mich halten kann. Und – schenk mir ein Bild von dir.«

Sie nickte ihm zu. Am nächsten Tage brachte sie ihm ihr Bild.

Und in der Folge entwickelte sich ein reger Briefverkehr zwischen ihnen. Es fand sich immer eine Gelegenheit, daß sie einander ein Briefchen zustecken konnten. Lonny besaß nun auch eine Photographie von Lutz und trug sie immer bei sich, wie auch seine Briefe, denn sie war durchaus nicht sicher, ob ihre Stiefmutter nicht in ihren Sachen herumkramte, um nachzuspüren; und im Büro wollte sie auch nichts zurücklassen, wenn sie es verließ. Auch hätte sie sich nicht eine Minute davon trennen mögen.

Diese Briefe machten gegenseitig ihre ganze Glückseligkeit aus, denn nie trafen sie anders zusammen als 107 bei den zufälligen Begegnungen. Lutz wollte Lonny zu einer Zusammenkunft nicht verleiten, denn ihr Ruf war ihm heilig. Und Lonny dachte nicht daran, ihm ein Rendezvous freiwillig zu gewähren. Sie wollte ihrem Vater offen in die Augen sehen können. Daß sie Lutz liebte und es ihm gestanden hatte, war kein Unrecht, aber es wäre in ihren Augen ein Unrecht gewesen, wenn sie sich heimlich und unerlaubt mit Lutz treffen würde.

Daheim hatte sich nichts geändert. Nach wie vor drängte die Stiefmutter, Lonny möge sich Doktor Friesen gegenüber klug benehmen und ihre Aussichten nützen. Deshalb sehnte sich Lonny geradezu danach, daß ihre Vermutung, Doktor Friesen würde sich mit der Schwester seines Freundes verloben, sich bewahrheiten möge. Dann mußte die Stiefmutter doch endlich mit diesen Quälereien aufhören.

Und eines Tages eröffnete ihr Doktor Friesen dann auch, daß er sich mit der Schwester seines Freundes verlobt hatte. Lonny sah ihn dabei mit so strahlenden Augen an, daß er ganz überrascht war.

»Sie scheinen sich ja sehr zu freuen, Fräulein Straßmann, daß ich mich verheiraten will?« fragte er.

Lonny lachte ihn an.

»Ja, Herr Doktor, ich freue mich wirklich sehr und habe schon eine ganze Weile darauf gehofft, daß Sie mir diese Eröffnung machen.«

Er schüttelte mit einem humoristischen Lächeln den Kopf.

»Daß ich Ihnen mit meiner Verlobung eine so große Freude machen würde, habe ich nicht geahnt. Darf ich fragen, weshalb Sie das so freut?«

»Weil – weil es für mich viel angenehmer ist, einem verheirateten Chef zu dienen als einem unverheirateten, und – weil ich mich für Sie sehr freue, daß Sie 108 einen Menschen gefunden haben, der zu Ihnen gehört; Sie stehen doch ganz allein im Leben.«

»Das allerdings, bis auf einen weitläufigen Vetter habe ich wirklich keinen Menschen, der zu mir gehört. Aber bitte, sprechen Sie noch nicht darüber, meine Verlobung ist noch nicht öffentlich. Meine Braut und ich wollen erst die Rückkehr ihrer Eltern, die sich zur Kur in Karlsbad aufhalten, abwarten, ehe wir unsere Verlobung veröffentlichen. Ihnen wollte ich es nur nicht vorenthalten, weil Sie vielleicht einmal Zeuge eines Telefongespräches mit meiner Braut sein könnten. Sie würden ja doch gleich merken, daß es sich dabei nicht um Geschäfte handelt.«

Lonny lachte. Ihr war ein großer Stein vom Herzen gefallen, und wenn sie ihren Eltern auch jetzt nicht gleich berichten durfte, daß Doktor Friesen sich verlobt hatte, so mußte das doch bald geschehen können.

»Ich werde dann immer schnell diskret verschwinden, Herr Doktor«, sagte sie schelmisch.

Er sah sie lächelnd an.

»Sehr nett von Ihnen. Aber – nun wollen wir an unsere Arbeit gehen.«

»Bitte sehr, Herr Doktor.«

»Ich habe übrigens heute ein Schreiben von Mister Stanhope erhalten; er ist mit Mister Dumpy wohlbehalten in New York eingetroffen, und – er schreibt mir sehr viel Schmeichelhaftes über Sie. Ihre Fähigkeiten scheinen ihm einen riesigen Eindruck gemacht zu haben, und er legt mir nochmals ans Herz, daß ich, wenn ich Sie eines Tages nicht mehr brauchen würde, Sie bestimmen soll, zu ihm zu kommen. Sie seien ihm außer Ihren Fähigkeiten auch noch ungemein sympathisch, und es gäbe wenig Menschen, die er so gern in seiner Nähe wüßte wie gerade Sie. Was sagen Sie dazu?« 109

»Daß ich mich natürlich sehr freue, wenn ein Mister Stanhope so viel Schmeichelhaftes über mich schreibt. Als arme kleine Sekretärin muß ich auch zugeben, daß Mister Stanhope mir sehr sympathisch war; er ist ein sehr bedeutender, kluger und zuverlässiger Mensch. Es muß ein Vergnügen sein, mit ihm zu arbeiten.«

Er sah sie nachdenklich an.

»Ja, ja, er ist ein hervorragender Mensch, und die Stellung, die er Ihnen anbot, war sicher eine ganz erstklassige. Ich mache mir immer noch ein wenig Vorwürfe, daß ich Sie nicht beredet habe, diese Stellung anzunehmen, aber – der Egoismus ist nun mal das stärkste Gefühl im Menschen, und ich wüßte ja kaum, wie ich ohne Sie auskommen sollte. Sie sind mir eine viel größere Hilfe als mein Bürovorsteher.«

»Es freut mich sehr, Herr Doktor, daß Sie mir so viel Anerkennendes sagen, und Sie brauchen sich gewiß keine Vorwürfe zu machen. Ich würde doch nicht nach Amerika gehen, wenigstens nicht, solange mein Vater lebt.«

Und – solange Lutz Hennersberg nicht mit mir gehen könnte, vervollständigte sie diesen Satz bei sich selbst.

Sie arbeiteten nun, wie alle Tage, fleißig miteinander. Als Doktor Friesen Lonny dann entließ, ging sie in ihr Büro zurück, wo sie noch zu tun hatte. Als sie durch das Vorzimmer gehen wollte, sah sie hier erstaunt die sämtlichen Angestellten Doktor Friesens in großer Aufregung beisammenstehen. Und zu ihrer Freude sah sie auch Lutz mitten unter den Leuten. Seine Augen leuchteten ihr noch strahlender als sonst entgegen, und er erschien ihr erregt wie die andern.

Zörner, der Bürodiener, kam Lonny entgegen und fuchtelte erregt mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. 110

»Fräulein Straßmann! Haben Sie schon gehört? Wir haben gewonnen – wir haben gewonnen!« rief er außer sich.

Lonny sah ihn erstaunt an und blickte fragend zu Lutz hinüber.

»Was denn? Wer hat gewonnen? Weshalb sind Sie denn alle so aufgeregt?«

»Jotte doch, vastehn Sie mir denn nich, Fräulein Straßmann? Ick rede doch nich ausländisch! Unser Los is raus, mit 'nem Bombentreffer; det Los, det wir Angestellte von Doktor Friesen zusammen gespielt haben. Wissen Sie noch, wie ick Ihnen zugeredet habe wie'n krankem Kind, det Sie sich ooch beteiligen sollten? Sie wollten doch erst durchaus nich. Und wat der Chauffeur is, der wollte ooch nich, ick habe ihm lange noch gute Worte geben müssen, weil wir doch noch eenen Mitspieler brauchten. Und wat sagen Sie nu? Der Herr Bürovorsteher hat schon angeklingelt beim Kollekteur, ob et wahr is. Et stimmt. Und ausgerechnet hat er ooch schon, wat uff jeden von uns kommt. Zehntausenddreihundertfünfundzwanzig Märker kriegen wir jeder; ick werde nun Privatier un mache mir selbständig. Und wat Sie sind und der Chauffeur mit det jräfliche Etui, Sie können sich beide bei mich bedanken, det ick Ihnen zu Ihrem Glück gezwungen habe.«

Lonny war fassungslos, sie wurde mit hineingerissen in den allgemeinen Jubel, und es fiel gar nicht auf, daß Lutz und sie sich eine Weile fest bei den Händen hielten und einander wie im Traum ansahen.

»Da ist ja das Wunder, Lutz, das Wunder!« sagte Lonny leise.

Und sie und Lutz statteten Zörner gerührt ihren Dank ab. Zörner nahm ihn »huldvoll« entgegen; er stolzierte herum wie ein römischer Cäsar, die Arme 111 untergeschlagen und das strohblonde Haupt stolz zurückgeworfen. Und wieder und wieder schmetterte er in das Stimmengewirr mit seinem etwas schrillen Organ einen neuen Plan, was er mit seinem gewonnenen Geld anfangen wolle. Er fühlte sich mindestens als ein Rothschild. Eine Bemerkung kam aber immer wieder: »Und Mutter kriegt 'ne neue Kluft – aber pickfein!«

Das stand fest bei ihm.

Mitten in diese Aufregung hinein öffnete Doktor Friesen plötzlich die Doppeltür zu seinem Sprechzimmer und schaute ärgerlich heraus.

»Was ist denn hier für ein Lärm, dabei kann man doch nicht arbeiten!«

Lonny trat schnell vor.

»Verzeihen Sie, Herr Doktor, wir sind ein wenig außer Rand und Band; aber ein Lotterielos, das wir alle zusammen gespielt haben, ist mit einem großen Treffer herausgekommen, wir haben jeder über zehntausend Mark gewonnen.«

Doktor Friesen lachte.

»Na, dann gratuliere ich! Aber bitte, freuen Sie sich etwas geräuschloser, ich habe noch zu arbeiten!«

Damit machte er die Tür wieder zu.

So ganz geräuschlos ging es auch jetzt noch nicht zu, aber man bemühte sich doch, die Freude zu dämpfen. Aber an Arbeit war noch nicht zu denken; jeder machte Pläne, was er mit dem »vielen Geld« anfangen wollte. Für all diese auf ein mehr oder minder schmales Gehalt angewiesenen Menschen waren zehntausend Mark ein Vermögen. Nur Lonny und Lutz sagten nichts darüber, was sie mit ihrem Anteil beginnen wollten. Sie sahen sich nur strahlend an. Und dann mußte Lutz, der von Zörner herangeholt worden war, als die Kunde von dem Lotteriegewinn eintraf, wieder hinunter zu 112 seinem Wagen, und auch Lonny mußte an ihre Arbeit. Sie flüsterte Lutz nur noch zu: »Ich schreibe dir!« Und er erwiderte leise: »Ich dir auch!«

Niemand achtete auf diese beiden Menschen. Jeder hatte mit sich selber zu tun, und in dem sonst so nüchternen Büro wurden heute phantastische Luftschlösser gebaut.

Auch Lutz baute unten auf seinem Führersitz an seiner und Lonnys gemeinsamer Zukunft. Wenn auch diese gemeinsam gewonnenen zwanzigtausend Mark noch keine gesicherte Zukunft bedeuteten, so gaben sie doch eine Möglichkeit, an einen Aufbau dieser Zukunft zu denken. Mit zwanzigtausend Mark in den Händen konnte man schon etwas anfangen. Und er war Zörner wirklich von ganzem Herzen dankbar, daß er ihn und Lonny überredet hatte, sich an dem Los zu beteiligen.

Lonny schrieb an Lutz, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatte:

»Mein geliebter Lutz! Das große Wunder ist da! Nicht wahr, mit zwanzigtausend Mark kann ein Mann wie Du daran denken, das Schicksal zu zwingen. Jetzt wirst Du vor meinen Vater hintreten können, um mich von ihm zu fordern. Wir werden ihn schon überzeugen, daß zwei Menschen wie wir nicht mehr brauchen, um den Grundstein zu ihrem Glück zu legen. Sobald wir uns wieder einen Augenblick sprechen können, sage mir, wann ich Dich bei Papa anmelden soll. Ich bin so froh, daß alle Heimlichkeit zu Ende ist; denn es ist mir nicht leichtgeworden, meinem Vater zu verschweigen, was zwischen uns geschehen ist. Nun können wir uns offen zu unserer Liebe bekennen. Und meine Stiefmutter wird hoffentlich auch klein beigeben, zumal sie bald erfahren wird, daß Doktor Friesen – dies unter 113 größter Diskretion – sich verlobt hat. Es soll erst in einiger Zeit bekanntwerden. Du weißt, ich ahnte schon so etwas, und er hat es mir heute zu meiner großen Freude bestätigt. Heute ist wirklich ein großer Glückstag für uns. Zörner hat uns Glück gebracht, wie sehr danke ich es ihm. Gute Nacht, Lutz!

Deine glückliche Lonny«

Und der Brief, den Lonny am nächsten Morgen von Lutz bekam, lautete:

»Meine Lonny! Kannst Du Dir meine Glückseligkeit ausdenken? Lonny, was kann ein Mann wie ich mit diesem Geld anfangen! Ob es freilich Deinem Vater und Deiner Stiefmutter genug sein wird, weiß ich nicht. Jedenfalls will ich nicht lange zögern, Deinen Vater in aller Form um Deine Hand zu bitten. Ich habe mir noch neunhundert Mark gespart, wir werden darüber sprechen, wie wir das Geld anlegen werden, um uns eine Existenz zu schaffen. Das kann am besten in Gegenwart Deines Vaters geschehen. Hoffentlich gibt er mir seine Einwilligung. Bitte, frage ihn, wann ich kommen darf, um ihm meine Werbung vorzutragen. Denn jetzt, Lonny, hält uns nichts mehr zurück. Wir beide werden das Schicksal schon meistern. Du bist ja so tapfer und unverzagt, meine süße Lonny; es muß nun alles gut werden. Gib mir bitte, sobald du kannst, Bescheid, wann ich zu Deinem Vater kommen darf.

Dein glücklicher, erlöster Lutz« 114

 


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