Hedwig Courts-Mahler
Der Abschiedsbrief
Hedwig Courts-Mahler

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Als Lonny ins Büro kam, fand sie ein Chaos vor. Die Angestellten waren noch viel aufgeregter als neulich bei der Kunde von dem Lotteriegewinn. Alles hastete durcheinander. Der Bürovorsteher, ein blasser, nervöser Mensch, war nicht fähig, Ordnung zu schaffen. Er hatte rote Flecken im Gesicht, schob die Brille einmal hinauf und dann wieder herunter und kam Lonny schon entgegen.

»Fräulein Straßmann, ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Was wird aus dem Termin, der heute vormittag in Sachen Heller-Winkler angesetzt ist? Wo sind die Akten? Hat Doktor Friesen Ihnen die Akten übergeben? Ich kann sie nicht finden.«

Lonny dachte einen Augenblick nach.

»Nur Ruhe, Herr Bürovorsteher, sonst geht alles schief. Die Akten sind da, ich bringe sie gleich. Aber erst muß ich Doktor Tanner anrufen. Bringen Sie bloß die Leute zur Ruhe, alles andere überlassen Sie mir.«

Lonnys Erscheinen genügte schon, um etwas Ruhe zu schaffen. Sie setzte sich gleich mit Doktor Tanner telefonisch in Verbindung. Er war ein Freund Doktor Friesens und hatte ihn schon oft vertreten, wenn er auf Reisen war. Doktor Tanner war zum Glück zu sprechen.

»Hier ist das Büro Doktor Friesens, die Sekretärin, 144 Herr Doktor. Haben Sie schon von dem Autounglück gehört, das Herrn Doktor Friesen betroffen hat?«

»Wie? Ein Autounglück? Kein Wort habe ich davon gehört. Doktor Friesen ist doch hoffentlich nicht davon betroffen?«

»Leider in erster Linie, Herr Doktor. Wir sind hier ganz erschüttert, Herr Doktor Friesen ist – leider tot«, sagte Lonny mit versagender Stimme. Sie hörte einen erschreckten Ausruf. Eine Weile war es still, dann fragte Doktor Tanner beklommen:

»Ist das wirklich wahr, Fräulein Straßmann?«

»Leider, Herr Doktor! Und bei uns ist, wie gesagt, alles aus den Fugen. Heute vormittag um zehn Uhr ist in einer wichtigen Sache für Herrn Doktor Friesen Termin angesetzt. Ich habe die Akten bearbeitet. Könnten Sie Herrn Doktor Friesen nicht vertreten, wenn ich Sie in die Sache einführe?«

»Herrgott! Ich bin noch ganz benommen. Wann ist denn das Unglück geschehen?«

Lonny gab Auskunft, so gut sie konnte. Dann sagte Doktor Tanner entschlossen:

»Was ich tun kann, tue ich natürlich, Fräulein Straßmann. Aber ich müßte Sie sprechen und kann jetzt hier nicht abkommen.«

»Dann komme ich zu Ihnen, Herr Doktor, und bringe die Akten mit.«

»Gut, Fräulein Straßmann. Liegt sonst noch was vor?«

»Dieser Termin ist vorläufig das wichtigste, alles andere hat Zeit. Ich komme gleich zu Ihnen, Herr Doktor.«

»Dann auf Wiedersehen!«

Lonny atmete auf. Welch ein Glück, daß sie Doktor Tanner gleich erreicht hatte. Sie gab dem 145 Bürovorsteher Bescheid und schickte Zörner fort, daß er ein Auto für sie holte, sie wollte inzwischen die Akten zurechtlegen. Und zu den anderen Angestellten, die immer noch unruhig herumstanden, sagte sie energisch:

»Seien Sie bitte alle vernünftig, und gehen Sie an Ihre Arbeit. Wir wollen doch unsere Pflicht tun.«

»Erst möchten wir wissen, was aus uns wird«, sagte ein kleines Tippfräulein.

Und der Bürovorsteher jammerte:

»Ich habe doch Frau und Kinder, wenn ich jetzt meine Stelle verliere, bin ich erledigt. Wo soll ich jetzt gleich eine andere Stellung herbekommen?«

Lonny strich sich über die Stirn.

»Es gibt vorläufig keinen Grund zum Verzagen! Für eine Weile werden wir sicher unser Gehalt noch ausbezahlt bekommen, auch wenn die Praxis Doktor Friesens erlöschen sollte mit seinem Tod. Und dann, gottlob, haben wir doch alle für den schlimmsten Fall unseren Lotteriegewinn. Vielleicht übernimmt aber Doktor Tanner die Praxis, und da wird der eine oder andere sicher mit übernommen werden, Sie bestimmt, Herr Bürovorsteher; ohne Sie kann sich ein anderer doch gar nicht einarbeiten.«

Der Bürovorsteher sah sie trübe an, er war sich in diesem Augenblick seiner Untüchtigkeit sehr wohl bewußt.

»Sie sind ja in alles viel besser eingeweiht als ich, Fräulein Straßmann. Sie werden übernommen werden, aber ich nicht.«

»Beruhigen Sie sich, ich werde mich nicht weiterengagieren lassen. Wie gesagt, es liegt kein Grund zum Verzagen vor. Jetzt ist die Hauptsache: die Ruhe bewahren und jeder auf seinem Posten sein.«

Der Bürovorsteher atmete auf. Wenn Fräulein Straßmann nicht blieb, dann war Hoffnung für ihn. 146

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet; Zörner erschien und neben ihm – Lutz Hennersberg.

Lonny wurde sehr rot, und ihre Augen sahen beklommen zu Lutz hinüber. Hatte er ihren Brief schon erhalten? Aber Lutz sah sie ganz unbefangen an. Er trat vor sie hin, sah sie mit ernsten Augen an und fragte:

»Kann ich hier irgendwie von Nutzen sein, Fräulein Straßmann? Zörner sagte mir, Sie brauchen einen Wagen, da kann ich Sie doch fahren.«

Lonny schaltete jetzt ihre eigene Angelegenheit aus.

»Wie steht es draußen in Herrn Doktor Friesens Villa, Herr Hennersberg?« fragte sie.

»Langsam wird wieder Ruhe, Fräulein Straßmann. Ich bin seit dem frühesten Morgen unterwegs, um allerlei Leute herbeizuschaffen.«

»Hat man Doktor Friesen in seine Wohnung gebracht?«

»Ja, aber erst vor zwei Stunden. In der Nacht hat er auf der Samariterwache gelegen. Wir erfuhren erst gegen fünf Uhr von dem Unglück, und seither bin ich unterwegs. Nun bin ich draußen vorläufig abkömmlich, und ich wollte sehen, ob ich hier etwas nützen kann.«

»Ja, Herr Hennersberg, Sie können mich gleich zu Doktor Tanner fahren, ich muß ihm Akten bringen. Warten Sie eine Minute, ich mache mich gleich fertig.«

Im Büro war nun doch einige Ruhe eingetreten, dank Lonnys Eingreifen. Sie verließ mit Lutz das Büro. Draußen in dem leeren Vorraum blieb Lutz stehen.

»Bist du sehr erschrocken, meine Lonny?«

»Ach Lutz – es hat mich sehr erschüttert, daß Doktor Friesen ein solches Ende fand. Aber jetzt erst einmal zu unserer Sache – Lutz, hast du meinen Brief bekommen?« 147

»Ja, Lonny, aber ich hatte noch keine Minute Zeit, ihn zu lesen.«

Sie atmete tief auf.

»Gottlob, Lutz!«

Besorgt sah er sie an.

»Hattest du mir etwas Schlimmes mitzuteilen, hat man dich gestern abend noch gequält, mein armes Lieb?«

Sie sah ihn unruhig an.

»Nicht sehr, Lutz, aber ich war natürlich furchtbar verzagt und mutlos. Und in dieser Stimmung schrieb ich dir den Brief. Lies ihn nicht, Lutz, bitte, gib ihn mir wieder.«

Mit einem guten, warmen Lächeln faßte er ihre Hand.

»Es ist kein Wunder, daß du bedrückt warst nach der Hoffnungsfreude der vorhergegangenen Tage. Ich war auch sehr niedergeschlagen. Aber – warum soll ich deinen Brief nicht lesen? Ich will dich auch in einer verzagten Stimmung kennen lernen, kenne ich dich doch nur als mutig und tapfer.«

Sie seufzte tief auf.

»Nun wohl, Lutz, du magst ihn lesen, hast recht, wir wollen keine Geheimnisse voreinander haben. Aber versprich mir, nicht böse zu sein – und mich nicht zu schelten.«

»Das verspreche ich dir, Lonny, du hast ganz sicher nichts geschrieben, weshalb ich dir zürnen müßte.«

Er zog sie schnell an sich und küßte sie. Erschrocken sah sie sich um.

»Lutz, wenn uns jemand sieht!«

»Das mußte sein, Lonny; ich brauchte wahrhaftig eine Herzstärkung. Nun komm!«

Sie gingen die Treppe hinunter, und Lonny fragte: 148

»Hast du etwas von Doktor Friesens Braut gehört, Lutz?

»Sie soll ganz von Sinnen sein, aber man glaubt, daß sie sich hauptsächlich ihres Bruders wegen so aufregt, es weiß ja noch niemand um die Verlobung. Ihr Bruder ist doch auch schwer verwundet. Ihre Eltern sind telegraphisch von Karlsbad zurückgerufen worden, sie kommen heute nacht zurück.«

Lonny setzte sich im Wagen neben Lutz, und nun berichtete sie ihm von der erstaunlichen Veränderung ihrer Stiefmutter. Erregt hörte er zu und stieß dann erlöst einen Seufzer aus.

»Gottlob, Lonny, ich hätte auch nicht gewußt, wie ich es hätte ertragen sollen, jetzt von dir getrennt zu sein. Mir geht so viel durch den Kopf. Zu kündigen brauche ich ja Doktor Friesen nun nicht, und wir werden sicher von den Erben einige Monate unser Gehalt ausbezahlt bekommen.«

Er sah sie zärtlich an.

»Laß uns an uns denken, Lonny. Gestern abend sah es freilich noch sehr schlimm um unser Glück aus, aber nun soll doch alles gut werden. Wenn sich deine Stiefmutter nur nicht wieder anders besinnt.«

»Oh, ich werde sie beim Wort nehmen. Mir erschien ihre Umwandlung freilich so seltsam, daß ich kaum daran zu glauben wagte. Ich hatte ihr noch gestern abend, als sie mir wieder mit dem Heiratsplan mit Doktor Friesen kam, gesagt, daß dieser schon verlobt sei. Das hat sie wohl auch mit umgestimmt.«

»Sie kam dir wieder mit diesem Plan, Lonny?«

»Wie so oft, Lutz; es war schon fast zur fixen Idee bei ihr geworden. Immer quälte sie mich damit und behauptete, ich brauche nur zu wollen, um ihn zu erobern.« 149

Sie waren vor dem Haus angekommen, in dem Doktor Tanner sein Büro hatte.

»Wartest du auf mich, Lutz?«

Er strahlte sie zärtlich an.

»Ich wüßte nicht, was mich veranlassen könnte, fortzufahren, ohne dich mitgenommen zu haben«, entgegnete er liebevoll.

Sie nahm ihre Aktenmappe.

»Ein Weilchen wird es dauern, Lutz!«

»Macht nichts, Lonny; ich habe ja deinen Brief, den werde ich jetzt endlich lesen.«

Beklommen sah sie ihn an und seufzte.

»Ach Lutz, der dumme Brief. Mußt denken, daß alles wieder vorbei ist, daß ich nun schon wieder ganz tapfer bin.«

Er nickte ihr zu, und als sie im Haus verschwunden war, öffnete er den Brief – Lonnys Abschiedsbrief an ihn – und las. Sein Gesicht wurde ein wenig blaß, er starrte vor sich hin und fragte sich, wie dieser Brief auf ihn gewirkt haben würde, wenn sie ihn nicht vorbereitet hätte und wenn er nicht gewußt hätte, daß diese mutlose Stimmung bei ihr schon wieder verflogen gewesen wäre. Es las den Brief mehrere Male durch, und eine tiefe Rührung bemächtigte sich seiner. Wie schwer mußte ihr das Herz gewesen sein, wie mußte man sie gequält haben, daß sie annehmen konnte, er würde sie freigeben, nur weil sie Sorgen in sein Leben brachte.

Als Lonny nach etwa einer Stunde wieder herunterkam, sah sie sehr blaß aus und sah ihn unruhig und angstvoll an.

»Lutz, hast du meinen Brief gelesen?«

Ernst sah er ihr in die Augen.

»Ja, Lonny – aber ich will schnell vergessen, was darin stand. Will vergessen, daß meine Lonny daran 150 denken konnte, mir einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sag mir eins, Lonny, hast du Angst vor den Sorgen, die vielleicht nicht ganz ausbleiben werden, wenn wir uns verheiraten, wenigstens in der ersten Zeit nicht, bis ich mich durchgebissen habe?«

Sie sah ihn bestürzt an.

»So wirst du das doch nicht aufgefaßt haben, Lutz! Um mich habe ich doch keine Sorgen gehabt, nur um dich! Es wird dir viel Schweres aufgeladen werden.«

Er zog sie an den Händen neben sich in den Wagen.

»Gottlob, daß ich diesen Brief nicht heute morgen lesen konnte, ehe ich bei dir war. Und nun denken wir nicht mehr daran. Glaubst du, daß ich dich auf diesen Brief hin freigegeben hätte?«

Ihr blasses Gesicht rötete sich.

»Nein, Lutz, nein, ich hoffte, daß du mich nicht freigeben würdest. Es erschien mir aber als meine Pflicht, dir dies alles zu schreiben. Ich mußte dir doch klarmachen, was du auf dich nehmen würdest, wenn du auf mich warten wolltest. Aber nun ist alles wieder gut, Lutz, jetzt, da meine Stiefmutter ihren Schmuck opfern will, wird ja alles leichter, wenigstens die ersten Jahre.«

Er drückte ihre Hand mit liebevollem Druck.

»Ich fürchte mich vor nichts, Lonny, wenn du nur bei mir bist«, sagte er mit verhaltener Stimme.

Und dann setzte er den Wagen wieder in Bewegung, und Lonny berichtete ihm, daß Doktor Tanner den Termin übernommen hatte und daß er in die noch schwebenden Verfahren einspringen würde, soweit die Klienten nichts anderes beschließen wollten.

»Ich soll heute nachmittag das Material bereithalten, er wird kommen und alles mit dem Bürovorsteher und mir besprechen. Er ist nicht abgeneigt, die ganze 151 Praxis Doktor Friesens zu kaufen, denn der einzige Erbe Doktor Friesens ist Landwirt und wird froh sein, wenn er etwas aus der Praxis löst.«

Lutz nickte verständnisvoll.

»Das wird für alle Teile gut sein. Weißt du, Lonny, was ich versuchen werde?«

»Nun?«

»Ich werde versuchen, die beiden Autos aus Doktor Friesens Nachlaß zu kaufen. Es sind hochwertige Wagen, und wenn sie überhaupt verkauft werden, wird man sie mir vielleicht billig ablassen.«

Lonny nickte nachdenklich.

»Du kannst das immerhin versuchen, Lutz; die Wagen sind ja beide sehr schön. Aber werden dir dann nicht inzwischen die beiden anderen Wagen, die du kaufen wolltest, entgehen?«

»Das ist nicht zu befürchten, die Nachfrage ist jetzt nicht groß.«

»Wenn du noch etwas von meinem Geld dazunehmen willst, Lutz, es steht dir zur Verfügung. Jetzt, da ich für die Eltern nicht zu sorgen brauche, da Mama mit ihrem Schmuck einspringen will, kann ich gut davon entbehren, ich brauche für meine Aussteuer nur die Hälfte.«

»Auf gar keine Fall, Lonny! Was du nicht ausgibst, verwahre für dich. Und wenn alles so glückt, wie ich mir denke, werde ich bald deinen Vater dafür entschädigen können, daß du ihm nichts mehr von deinem Gehalt abgeben kannst.«

Sie streichelte seinen Arm.

»Lutz, lieber, guter Lutz – willst du diese Sorge wirklich auf dich nehmen?«

»Hast du das anders von mir erwartet, Lonny?«

»Nein, nein, deshalb war mir ja so bange um dich. 152 Ich weiß, wie vornehm deine Gesinnung ist. Wenn du mit Vater sprichst, sage ihm, was du mir eben gesagt hast, es wird ihn freuen und ruhiger machen.«

»Wärest du nur erst mein, wären wirklich alle Hindernisse beseitigt, Lonny!«

So sprachen sie sich alles vom Herzen, was sie noch bedrückte, und Lutz machte einen sehr großen Umweg, ehe er Lonny wieder am Büro absetzte.

Es gab in den nächsten Tagen noch viele Aufregungen und viel Arbeit. Doktor Tanner war jeden Tag auf einige Stunden im Friesenschen Büro, um sich einzuarbeiten. Lutz kam auch jeden Tag einige Male und berichtete Lonny, was in der Villa Doktor Friesens geschah. Ein Testament hatte dieser nicht hinterlassen. Sein Vetter war angekommen mit seiner Gattin, und die beiden saßen schon ganz fest als Erben.

Lutz hatte Lonny noch an demselben Tage gesagt:

»Morgen werde ich wohl die beiden Herrschaften herumfahren müssen und viel in Anspruch genommen sein. Vielleicht sehen wir uns in den nächsten Tagen nicht. Aber du erhältst irgendwie Nachricht von mir.«

Als Lonny an diesem Abend nach Hause kam, ziemlich müde und abgespannt, berichtete sie ihren Eltern erst einmal alles Wichtige, was mit dem Tod Doktor Friesens zusammenhing. Aber dann fragte Frau Hermine gespannt und unruhig, ob Lonny ihren Abschiedsbrief an Lutz widerrufen habe.

Lonny bejahte das und sagte der Stiefmutter, daß sie Lutz von ihrer Sinnesänderung schon berichtet habe.

»Ich habe bereits an Lutz geschrieben, Lonny; Papa hat sich von mir bereden lassen, euch sein Jawort zu geben.«

Lonny sah den Vater an, der ihr liebevoll zunickte. Sie dankte ihrer Stiefmutter so herzlich, als es ihr 153 möglich war, obwohl sie sich wieder fragen mußte, was diese vollständige Umstellung derselben veranlaßt haben könnte.

Sie berichtete aber dann den Eltern, daß Lutz es als seine Pflicht betrachte, für die Eltern zu sorgen, sobald er nur dazu in der Lage sei. Da sprühte es seltsam in Frau Hermines Augen auf.

»Nun, Lonny, eines Tages werden wir ihn ja beim Wort nehmen müssen, aber ich hoffe, daß er sich dann so weit emporgearbeitet haben wird, daß ihm das nicht schwer wird. Ich bin von seiner vornehmen Gesinnung überzeugt und weiß, daß er uns nicht darben lassen wird, wenn es ihm gutgeht. Und ich hoffe, wir werden ihn nun bald bei uns sehen.«

Wieder fühlte Lonny instinktiv, daß diese Worte ihrer Stiefmutter nicht echt klangen. Immer hatte sie das Gefühl, als müsse sie fragen: »Was hat dich so sehr verändert, warum gibst du dich so ganz anders als sonst, und warum gabst du so plötzlich deine Einwilligung zu unserer Verbindung, nachdem du erst so sehr dagegen warst?«

Sie fand keine Antwort darauf und schalt sich selbst, daß sie die liebevolle Zärtlichkeit der Mutter nicht erwidern konnte. Es war ihr unmöglich, zu glauben, daß eine lautere Liebe und Güte dieses neue Verhalten diktierten.

Als Lutz am nächsten Morgen sein Frühstück verzehrte, erhielt er mit der Post das Schreiben Frau Hermine Straßmanns. Schnell öffnete er den Umschlag, begierig, zu erfahren, was sie ihm geschrieben hatte, und las:

»Mein lieber Herr von Hennersberg!

Was gestern abend geschehen ist, müssen Sie vergessen. Wir waren alle ein wenig nervös und erregt. Ich 154 vielleicht am meisten, in der Angst um Lonnys Schicksal. Ich liebe das Kind zu sehr, als daß ich leichten Herzens in eine Verbindung gewilligt hätte, die leider keine glänzende zu nennen ist. Ganz offen, ich habe immer davon geträumt, daß unsere schöne und liebenswerte Tochter einmal eine ganz große Partie machen würde, und in meinem Bestreben, ein so großes, glänzendes Glück für sie zu finden, bin ich vielleicht zu weit gegangen. Sie werden es mir nicht als Unrecht anrechnen, mein lieber Herr von Hennersberg, wenn ich eine zu zärtliche, zu besorgte Mutter war, denn wir lieben ja Lonny alle beide.

In der vergangenen Nacht sind mir aber nun schwere Bedenken gekommen, ob Lonnys Glück wirklich dort lag, wo ich es für sie suchte. Und die Erkenntnis wachte in mir auf, daß ich durch mein Verhalten eher ihr Glück zerstört, anstatt gefördert haben könne. Ich hatte ja erkennen müssen, daß zwischen Ihnen und Lonny eine echte, starke Liebe besteht, und nach langen Kämpfen bin ich nun zum Bewußtsein gekommen, daß ich es nicht ertragen kann, Lonny unglücklich werden zu sehen.

So habe ich einen Ausweg gefunden:

Ich werde meinen Schmuck opfern, und wir beiden alten Leute werden uns einschränken. Wir wollen auf alle Annehmlichkeiten verzichten und freudig jedes Opfer bringen, um euch eine baldige Verbindung zu ermöglichen. Und meinen Mann habe ich bestimmt, Ihnen sein Jawort zu geben. Auch er will alles tun, was in seinen Kräften steht, um das Glück seines Kindes nicht in Frage zu stellen.

So, mein lieber Herr von Hennersberg, das mußte ich Ihnen sagen, und ich bitte Sie, mir nicht nachzutragen, wenn ich gestern in meiner Nervosität etwas 155 heftig war. Ich will Sie wie einen geliebten Sohn in mein mütterliches Herz aufnehmen. Wir erwarten Sie so bald wie möglich, und ich bitte Sie um Nachricht, wann Sie kommen können, damit ich ein stillfriedliches Verlobungsfest rüsten kann.

Leider mußte ich von Doktor Friesens plötzlichem, tragischem Ende hören, und vielleicht sind Sie nicht in der Lage, schon in den allernächsten Tagen zu uns zu kommen, deshalb bitte ich um Ihren schriftlichen Bescheid. Und schon jetzt begrüße ich Sie als unsern geliebten Sohn und freue mich, Ihnen eine Mutter sein zu dürfen. Mit herzlichem Gruß, zugleich von meinem Gatten, verbleibe ich

Ihre Ihnen herzlich ergebene

Hermine Straßmann«

Lutz erging es wie Lonny; er fragte sich, was Frau Hermine zu dieser plötzlichen Sinnesänderung und zu dieser überfließenden Liebenswürdigkeit veranlaßt haben könnte. Der Ton des Briefes erschien ihm gekünstelt, nicht ehrlich und wahr. Selbst wenn er in Betracht zog, daß der plötzliche Tod Doktor Friesens und die dadurch zerstörten Heiratspläne, die sie mit Lonny hatte, sie günstig für ihn beeinflußt hatten, konnte er die übergroße Liebenswürdigkeit nicht verstehen. Aber – was auch ihre Sinnesänderung herbeigeführt hatte, sie sollte gesegnet sein, da sie seine Verbindung mit Lonny ermöglichte. Er schrieb einige Zeilen der Erwiderung.

Diesen Brief sandte er sofort ab und mußte sich dann beeilen, mit einem der beiden Autos am Portal der Villa vorzufahren, um die Erben Doktor Friesens zum Erbschaftsamt zu bringen. 156

Er blieb den ganzen Tag unterwegs und wurde auch noch am Abend in Anspruch genommen. Wenn er auch vielleicht dagegen hätte Einspruch erheben können, da er nicht in Lohn und Brot dieser Herrschaften stand, so wollte er sich ihnen doch gefällig zeigen. Er hatte nun schon gehört, daß die Erben nicht nur die Autos, sondern überhaupt die Villa verkaufen wollten. Da sie auf ihrem Landgut weiterleben würden, gab es für die Villa keine Verwendung. Sie hatten mehrere Kinder, und das Erbe, das ihnen so unerwartet in den Schoß gefallen war, sollte zusammengehalten und für die Kinder angelegt werden.

Lutz hoffte also, billig zu den beiden Autos zu kommen. Die Erben besaßen selbst ein Auto, das ihnen genügte. Er zeigte sich darum willig und gefällig und konnte den Herrschaften allerlei Dienste erweisen. Der Vetter Doktor Friesens merkte sehr wohl, daß Lutz ein gebildeter und sehr intelligenter Mensch war, und ließ sich ab und zu in eine längere Unterhaltung mit ihm ein.

Auch Lonny war in diesen Tagen angestrengt tätig. Es lastete gewissermaßen alle Verantwortung auf ihr für die schwebenden Prozesse. Der Bürovorsteher war außerstande, die Initiative zu ergreifen, wenn es nötig war, und Doktor Friesen hatte ja viel mehr mit Lonny als mit ihm gearbeitet.

Doktor Tanner war schon mit den Erben in Unterhandlung getreten wegen völliger Übernahme der Praxis Doktor Friesens. Er war sehr froh, daß ihm Lonny zur Seite stand, deren Tüchtigkeit er kannte. 157

 


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