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XVII.

In Athen jedoch reifte der attische Genius. Wenn auch nicht der Genius der höchsten Weisheit, wenn auch nicht der Genius der höchsten Kunst, so reifte doch bereits der Genius der hellenischen Menschlichkeit. Diese Menschlichkeit sollte noch nicht der Göttlichkeit gleichkommen, so wie sie es später in Wissenschaft und Kunst tun sollte. Doch obwohl sie im Rahmen der Menschlichkeit blieb, blühte sie zum Genie empor.

Sie offenbarte sich in Themistokles.

Alle Eigenschaften, die gleichzeitig fein und kräftig, fröhlich und ernst, schlau und gemütvoll, staatsklug und kriegerisch gemeinsam in einer genialen Menschenseele des gesegneten Südens aufblühen konnten, waren in Themistokles, dem Redner und Krieger, aufgeblüht. Ihm würde Persien nichts gegenüberzustellen haben außer dem gewaltig wirkenden Hochmut seiner ungeheuren Größe, außer dem blinden Gehorsam – sogar dem seiner unzähligen Fürsten – , der dem gut geordneten Zwang des Oberbefehls entgegengebracht wurde.

Themistokles, Sohn des Neokles, war in seinen ersten Jünglingsjahren der protzige Verschwender gewesen, der Nachtschwärmer, den sein Vater enterbt hatte. Aber an der Seite des Miltiades hatte er schon in sehr jungen Jahren bei Marathon gekämpft und dort reichlich wieder gutgemacht, was er anfangs leichtsinnig verdorben hatte. Diesen verlorenen Sohn hatte das Vaterland zurückgewonnen, und köstlich war ein derartiger Gewinn namentlich in diesen Zeiten. Vaterlandsliebe bedeutete dazumal noch mehr als Empfindsamkeit und das Gefühl der Sicherheit. Vaterlandsliebe bedeutete dazumal Tugend. In Athen schloß die Vaterlandsliebe sogar die Liebe zu Sparta aus. Allmählich hat die Vaterlandsliebe ihren Blick erweitert, und so wird sie sich weiter entwickeln, bis sie zur Weltliebe geworden ist. Damals galt dem Athener nur die eine Tugend, Athen zu lieben nicht nur mehr als Persien, sondern auch mehr als Sparta, und Athen die Hegemonie über alle griechischen Staaten und sogar über Sparta erlangen zu lassen.

Themistokles, dessen Genialität aus vielen sich widersprechenden Eigenschaften bestand, nährte den Ehrgeiz zugleich mit der lächelnden Gleichgültigkeit des Lebensgenießers. Doch der Ehrgeiz blieb am stärksten. Alles, was leichtsinnig gewesen war, trat in den Hintergrund. Die Atmosphäre in diesem Lande war jung. Die Tugenden, die an sich die schlichten, einfachen Schönheiten umschlossen, blühten darin wie saftige Obstbäume in einem üppigen Garten. Das Unkraut erstickte. Das noch knospende Hellas wurde eine ganz andere Welt als das bereits in voller Blüte stehende Persien. Themistokles hatte oftmals gesagt, daß der Lorbeer des Miltiades, der bei Marathon die Perser geschlagen hatte – obwohl Xerxes dies vielleicht nicht als geschichtliche Wahrheit anerkannte – ihn am Schlafen hindern werde. Aber diese Schlaflosigkeit des Themistokles war ganz anders als die des Xerxes.

Als die Theoroi nach Athen zurückkehrten, machte der Ausspruch der Pythia alsbald die Runde. Ein hölzerner Wall! Ein hölzerner Wall! Angstvolle Erregung, die zur Verzweiflung anwuchs, umfing alle. Dann sprach Themistokles vor den Athenern mit einem neuen Stimmklang, der strahlend klang in der neuen Welt, wo die Keime der neuen, noch ungeborenen Dinge in der schwülen, reifenden Luft schwebten.

»Athener! Warum befragt ihr eure Weisen und Priester darüber, was der hölzerne Wall bedeute, den die heilige Pythia nannte? Meint ihr in der Tat, daß der morsche, hölzerne Zaun, der unsere Akropolis noch umgibt, uns schützen könne vor der ungeheuren Gefahr aus dem Osten und vor dem persischen Ozean, der unsere Lande zu überströmen droht? Wozu diese entsetzliche Angst, die zur Verzweiflung anwächst? Hat die Pythia uns Unheil verkündet oder dem Feinde? Hätte sie von dem göttlichen Salamis gesprochen, wenn die Söhne, die fallen werden, aus unserer Mitte wären? Hätte sie da nicht viel eher Salamis unselig genannt? Nein, ihr Athener! Mit dem hölzernen Wall ist der Wall unserer Schiffe gemeint.«

Der neue Klang rauschte kraftvoll über die angstvolle Warnung der Propheten hin: daß es besser sei, Attika zu verlassen und anderswohin – doch wohin? – zu fliehen. Der neue Klang war nicht nur kriegerisch, ernst-gemütvoll, fröhlich und kräftig wie von einem jungen Gotte, sondern er war auch staatsmännisch fein und klug. Es klang nicht nur begeistert, es war auch sachlich einleuchtend. Aus dem Staatsschatze war bereits das Silber und das Gold, aus den Bergwerken von Laurion die Schätze – die gleichmäßig hätten verteilt werden sollen unter alle erwachsenen Bürger, jeder Athener würde dann zehn Drachmen empfangen haben – auf des Themistokles Rat für eine Flotte gegen die Aigineten verbraucht worden. Die Schiffe, die gebaut, aber noch nicht ihrer Bestimmung gemäß gebracht waren, lagen unberührt im Hafen. »Ist unsere Flotte nicht bereits fertig?« Der neue Klang tönte wie die Stimme eines Hahnes im goldenen Morgen.

Die junge Seemacht war geschaffen.


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