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Des Menschen Geist – das stolze Wesen!
Wo die Vernunft auf ihrem Throne
Als hoher König im Palaste sitzet
Und Urtheilssprüche fällt im Herrschertone!
Wer mag mit leisem Schritte prüfen
Die Gränzen dieser Zaubertiefen,
Und nicht gesteh'n, daß Räthsel sich und Wunder
Der höchsten Art zum Sitz erlesen
Des Menschen Geist – das stolze Wesen!
Anonymus.
Wir brauchen uns wohl kaum damit aufzuhalten, die Wunder eines Abends auf dem mittelländischen Meere zu schildern. Jeder Reisende ist damit vertraut, und Schriften aller Art haben sich bemüht, dieselben der Phantasie ihrer Leser, welcher Nation und welchem Alter sie auch angehören mögen, anschaulich zu machen. Doch hat jedes Gemälde seine eigenen Lichter und Schatten, und auch das unsrige entwickelt deren in einer Weise, welche wohl eine flüchtige Beachtung verdienen möchte.
Ein Sonnenuntergang im hohen Sommer wird wohl jede Landschaft mit erhöhtem Reize übergießen. Um diese Stunde war es, als Raoul seinen Anker auswarf, und Ghita, welche sich jetzt, da die Jagd beendigt und die Gefahr, wie man glaubte, vorüber war, auf das Verdeck verfügt hatte, glaubte, ihr Vaterland Italien und das mittelländische Meer noch nie so reizend gesehen zu haben.
Schon lange vor Untergang der Sonne warf das Gebirge seine Schatten weit in die See hinaus, so daß sich der östlichen Küste der geheimnißvolle Zauber der Abendzeit eine Weile früher als der westlichen mittheilte. Die Inseln Corsika und Sardinien gleichen zwei ungeheuern Alpenblöcken, die, in Folge einer zufälligen Naturveränderung in die See gestürzt, im Angesichte ihrer Stammregion gleichsam als die Außenposten jener mächtigen Wälle Europa's dastehen. Die Gebirge beider Inseln haben dieselbe Formation, dieselben Schneegipfel – wenigstens einen ziemlichen Theil des Jahres hindurch – auch ihre Abhänge bilden denselben geheimnißvollen Anblick der Zerrissenheit dar, wie ihre Stammhäupter in dem großen Gebirge. Zu all' diesen Reizen kommt aber bei ihnen noch ein weiterer, der den schweizerischen Bergen gewöhnlich abgeht, wenn auch Spuren davon in Savoyen und auf der südlichen Seite der Alpen getroffen werden – nämlich jene eigenthümliche Vermischung des Sanften mit dem Ernsten, des Erhabenen mit dem Schönen – eine Verbindung, welche eben jenen charakteristischen Zauber der italienischen Landschaften ausmacht.
Dieser Art war denn auch die Scene, welche sich den Zuschauern auf dem Verdecke des Irrwisches darbot. Auf dem Meere war keine Spur mehr von einer Einwirkung des Westwindes zu entdecken; in ruhigem Glanze lag sein dunkelblauer Spiegel zu ihren Füßen. Groß und feierlich erhoben sich auf der andern Seite die Gebirge, deren zackige Umrisse sich an einem Horizonte abmalten, der »in der Pracht, womit der Tag sich schließt« in feurigen Strahlen glühte; an ihrem Fuße, in tiefem Schatten, waren die näher liegenden Thäler und schmalen Ebenen in sanftem, geheimnißvollem Halbdunkel gelagert. Ihnen gerade gegenüber, ungefähr zwanzig Meilen weit entfernt, stieg die Insel Pianosa einem Leuchtthurme gleich aus dem Wasser empor; im Nordosten zeigte sich Elba – jetzt nur noch eine wirre, düstere Gebirgsmasse, und auf der Küste glaubte Ghita ein- oder zweimal sogar die schwachen Umrisse des Monte Argentaro, ihres Wohnsitzes, zu erkennen, obwohl die Entfernung, die zwischen sechzig und siebenzig Meilen betragen mußte, dieß ziemlich unwahrscheinlich machte. Draußen in der See lag die Fregatte auf der spiegelglatten Fläche des Meeres mit beschlagenen Segeln und kreuzweis gebraßten Raaen – ein tadelloses Bild seemännischer Symmetrie und Pünktlichkeit, so sorgfältig und genau war Alles bei ihr in Ordnung gehalten.
In der Marine wie im bürgerlichen Leben trifft man auf alle Arten von Menschen: die Einen nehmen die Dinge, wie sie gerade kommen, und begnügen sich damit, ihren Dienst so ruhig als möglich zu versehen; während die Andern, für ihre Schiffe fast mit der gleichen Vorliebe wie der Stutzer für seine Person erfüllt, nicht eher ruhen noch rasten, als bis sie dieselben nach ihrem Sinne verschönert haben. Das Richtige liegt hier, wie in den meisten Fällen, so ziemlich in der Mitte; der Offizier, der zu viel an den äußeren Aufputz seines Schiffes denkt, hat selten Sinn genug dafür, um den Hauptzwecken, zu denen es erbaut und ausgerüstet ist, gehörige Aufmerksamkeit zu schenken; während auf der anderen Seite Derjenige, welcher sich um die äußere Erscheinung seines Fahrzeuges wenig bekümmert – wenn er überhaupt an Etwas denkt – gewöhnlich Dinge im Sinne führt, die seinem Dienst und seinem Stande gänzlich fremd sind.
Cuffe bildete hierin so ziemlich die richtige Mitte, wenn er sich auch vielleicht etwas zu viel zu dem seemännischen Stutzer hinüberneigte. Die Proserpina galt – Dank ihrem Baumeister zu Toulon – für das hübscheste Modell eines Schiffs, das damals auf dem Mittelmeere flott war, und wie es immer bei anerkannten Schönheiten zu gehen pflegt, so waren auch Alle, die zu ihr gehörten, darauf versessen, sie auszuschmücken und ihre schönen Verhältnisse im vortheilhaftesten Lichte zu zeigen. Als Raoul das Schiff seines Feindes an einem einzigen Anker gerade außerhalb Kanonenschußweite vor sich liegen sah, konnte er ein Gefühl des Neides nicht unterdrücken, und bittere Gedanken stiegen in ihm empor, wenn er die verschiedenen Wechselfälle des Glücks und der Geburt betrachtete, welche ihn der Hoffnung auf das Kommando einer solchen Fregatte für immer beraubten und ihn voraussichtlich sein ganzes Leben lang zu dem Loose eines Kapers verdammten.
Die Natur hatte Raoul Yvard zu einer viel höheren Stufe bestimmt, als sie ihn jetzt auf seiner Laufbahn zu erwarten schien. Er war ohne alle jene Vortheile, welche die Zufälle der Geburt begleiten – und zwar im einem Augenblicke in das thätige Leben getreten, wo die moralischen und religiösen Gefühle seiner großen Nation durch jene gewaltsame Reaction, welche die Mißbräuche von Jahrhunderten von sich abschüttelte, völlig verkehrt waren. Wer sich übrigens einbildet, Frankreich, als Ganzes genommen, habe jene schweren Exzesse verschuldet, welche sein Ringen nach Freiheit entstellten, der weiß nur wenig von jener großen Masse sittlichen Gefühls, das alle Greuel der Zeiten überdauerte, und sieht in den Verbrechen einzelner, verzweifelter Führer und in den Uebertreibungen mißleiteter Kräfte irrigerweise eine allgemeine radikale Verdorbenheit der Menschen. Selbst unter der Schreckensregierung hat Frankreich wenig Schlimmeres zu verantworten, als die Willfährigkeit, mit der sich ganze Körperschaften Einzelnen ihrer enthusiastischen, ränkevollen und thatkräftigen Mitbürger als Werkzeuge hingeben. Auch Amerika ist öfters einem Irrthum unterworfen, der nur dem Grade nach von dem Obigen abweicht: es zeigt dieselbe blinde Unterwürfigkeit unter die Combinationen und Einflüsse Einzelner, und selbst dieser Grad hängt mehr von geschichtlichen Zufälligkeiten und andern natürlichen Ursachen, als von Einwirkungen ab, welche der einen Partie als Fehler, oder der anderen als ein besonderes Verdienst angerechnet werden dürften.
Raoul erging es gerade, wie es seinem Vaterlande ergangen war – jedes von beiden war das Geschöpf der Umstände, und hatte der junge Mann manche von den Fehlern, so besaß er auch wiederum viele von den Vorzügen seiner Nation und seiner Zeit. Seine Laxheit im Punkte der Religion – in Ghita's Augen sein Hauptfehler, und für ein Mädchen von der Erziehung und der Gefühlsweise unserer Heldin fast nothwendig ein wesentlicher Mangel – war der Irrthum des Tages, und bei Raoul erst nicht einmal ganz aufrichtig – ein Umstand, der ihn in dem Herzen eines so wahrhaft frommen Wesens, wie seine zarte Geliebte, zum Gegenstand eines heiligen Interesses erhob, das schon an und für sich der natürlichen Zärtlichkeit ihres Geschlechts für den Mann ihrer Neigung beinahe gleich kam.
So lange das kurze Scharmützel mit den Booten dauerte, und während der wenigen Minuten, da er unter dem Feuer der Fregatte gestanden, war Raoul ganz er selbst gewesen: denn die Aufregung des wirklichen Kampfes stählte ihn jedesmal zu Thaten, wie sie seines Ranges als Kommandirender und des hohen Rufes, den er sich erworben hatte, würdig waren; den übrigen Theil des Tages über fühlte er sich aber nur wenig mehr zum Kampfe geneigt. Sobald er einmal gewiß war, daß seine Spieren Stand halten würden, machte ihm die Jagd eben nicht mehr viel zu schaffen, und jetzt, da er innerhalb der seichten Mündung vor Anker lag, war ihm ungefähr gerade so wie einem Reisenden zu Muth, der nach der Anstrengung eines harten Rittes am Abend endlich einen bequemen Gasthof gefunden hat. Als Ithuel auf die Möglichkeit hindeutete, daß der Feind in seinen Booten einen nächtlichen Angriff versuchen könnte, antwortete er dem Amerikaner lachend mit dem Sprüchworte »verbrannte Kinder scheuen das Feuer«, und kümmerte sich nicht sonderlich um die Sache. Trotzdem wurde auch in dieser Beziehung keine geeignete Vorkehrung vernachlässigt.
Raoul war gewohnt, in Augenblicken der Noth von seinen Leuten viel zu verlangen; zu jeder andern Zeit aber war er so nachsichtig, wie nur ein gütiger Vater gegen gehorsame, ehrerbietige Kinder sein kann. Diese Eigenschaft, sowie die unveränderliche Standhaftigkeit und Besonnenheit, die er in Gefahren entwickelte, waren das ganze Geheimniß seines großen Einflusses auf seine Leute, denn jeder Matrose, der unter seinen Befehlen stand, war überzeugt, daß der Dienst niemals streng auf ihm lastete, wenn nicht die Noth es unabweislich erforderte.
Auch jetzt erhielt die Mannschaft auf dem Irrwisch, sobald das Abendessen vorüber war, die Erlaubniß zu dem gewohnten Tanze, und auf dem Vorkastell ertönten die romantischen Gesänge der Provence. Lust und Fröhlichkeit herrschte allenthalben, und es fehlte nichts als die Gegenwart der Frauen, um die Scene einer Abendbelustigung der Küstenbewohner in ihren Dörfern vollkommen ähnlich zu machen.
Und nicht nur in den eigenthümlichen Gefühlen dieser Stunde, sondern auch in der Wirklichkeit fand das Geschlecht eine würdige Vertretung. Die Gesänge waren von ritterlicher Galanterie durchweht, und hochergötzt und zugleich gerührt lauschte Ghita auf die fremden Weisen. Sie saß auf dem Hackbord, ihr Oheim stand neben ihr, während Raoul auf dem Quarterdeck auf und ab ging, und ihr jedesmal beim Umwenden seine Wünsche und Einfälle zuflüsterte, die bei ihr stets ein geneigtes Gehör fanden.
Endlich nahm das Singen und Tanzen ein Ende, und bis auf die paar Mann, welche die Wache hatten, stiegen alle Uebrigen zu ihren Hängematten hinab. Die Veränderung, welche jetzt eintrat, war eben so plötzlich als auffallend. Die feierliche, athemlose Stille einer sternhellen Nacht folgte auf das laute Gelächter, die melodischen Gesänge und die lebendige Fröhlichkeit von Leuten, die trotz ihres sprüchwörtlichen Frohsinns durch eine gewisse angeborene Feinheit des Benehmens, wie sie den Seeleuten anderer Länder gänzlich fremd ist, in Schranken gehalten wurden, und bei gänzlichem Mangel eigentlicher Erziehung dennoch selten oder niemals gegen die Regeln des Anstandes verstießen, was bei den Matrosen der angelsächsischen Rasse so häufig der Fall ist.
Um diese Zeit begann auch die kühle Luft der Berge auf die von der Sonne durchglühten Meereswogen herabzuwehen, so daß eine leichte Landbrise entstand, welche verglichen mit derjenigen, die um diese Stunde von dem Festlande herüberkam, gerade in entgegengesetzter Richtung hinströmte. Vom Monde war nichts zu sehen: doch konnte man die Nacht deßhalb nicht finster nennen. Myriaden von Sternen flimmerten an dem weiten Firmament und erfüllten die Atmosphäre mit einer Helle, welche die einzelnen Gegenstände ziemlich deutlich erkennen ließ, sie aber dennoch in ein Halbdunkel einhüllte, wie es zu dem Zauber des Orts und der Stunde am besten paßte.
Raoul fühlte dießmal den Einfluß seiner ganzen Umgebung in ungewöhnlichem Grade. Alles, was er sah, verbreitete einen Ernst über seine Gedanken, wie er ihm in seinen Mußestunden nur selten eigen war: er setzte sich neben Ghita auf dem Hackbord nieder, während ihr Oheim in die Kajüte hinabging, um sich seinen Andachtsübungen zu überlassen.
Tiefe Stille herrschte jetzt auf dem Lugger. Ithuel saß auf einem Klüsholze und bewachte seinen alten Feind, die Proserpina, da ihm die Nähe dieses Schiffes ohnedem nicht zu schlafen erlaubte. Zwei erfahrene Matrosen, welche allein die sogenannte Ankerwache bildeten, hatten sich, um einem Gespräche auszuweichen, abseits von einander, der Eine auf dem Krahnbalken am Steuerbord, der Andere in der Takelage des großen Mastes postirt, und Beide hielten ein wachsames Auge auf die ruhige See und die verschiedenen Gegenstände, die auf ihrem glatten Spiegel hinschwammen.
Diese Gegenstände beschränkten sich in einem so abgelegenen Winkel natürlich nur auf sehr wenige, und umfaßte blos die Fregatte, den Lugger und die drei Küstenfahrer. Letztere waren sämmtlich noch vor Einbruch der Nacht von der Proserpina geentert, aber nach kurzem Aufenthalte wieder los gegeben worden. Einer davon lag nunmehr, nach mehreren fruchtlosen Versuchen, mit Hilfe des ersterbenden Westwindes weiter nordwärts zu gelangen, ungefähr in der Mitte zwischen beiden feindlichen Schiffen vor Anker. Obgleich er jetzt, von der schwachen Landbrise begünstigt, mit ein bis zwei Knoten Geschwindigkeit leicht hätte weiter ziehen können, zog er dennoch vor, nicht unter Segel zu gehen, sondern in seiner bisherigen Stellung zu bleiben und seinen Leuten eine gute Nachtruhe zu gestatten.
Die Lage dieser Felucke, so wie der Umstand, daß sie von der Fregatte geentert worden war, machte sie Anfangs für Raoul einigermaßen zum Gegenstande des Mißtrauens, und er hatte befohlen, sie scharf im Auge zu behalten: doch war bis jetzt nichts entdeckt worden, was diesen Verdacht bestätigt hätte. Alle Bewegungen der Mannschaft – die Art, wie die Felucke vor Anker ging – die Ruhe, die an ihrem Borde herrschte – selbst die nachlässige Verfassung der Spieren und der Takelage – brachten Raoul zu der Ueberzeugung, daß von der Mannschaft des Kriegsschiffes wohl Keiner am Bord der Felucke sein könne. Da sie übrigens, wenn auch todt nach leewärts, doch immer noch weniger als eine Meile von dem Lugger entfernt lag, so mußte sie unausgesetzt bewacht werden, und einer der Matrosen, und zwar der auf dem großen Maste – ließ sie selten länger als eine Minute aus den Augen.
Der zweite Küstenfahrer stand etwas südlich von der Fregatte, und strebte mit vollen Segeln das Land zu erreichen, ohne Zweifel in der Absicht, die von den Bergen wehende Brise so gut wie möglich zu nützen, weßhalb er auch langsam gegen Süden steuerte. Er hatte sich eine Stunde früher nach dem Kompaß eingerichtet, übrigens, obwohl nur eine Meile vom Lande entfernt, seine Stellung kaum um einen halben Punkt geändert – ein Beweis, wie schwach der Wind auf ihn einwirkte.
Das dritte Küstenschiff, gleichfalls eine kleine Felucke, war im Norden der Fregatte sichtbar, hatte sich aber seit dem Eintritte der Landbrise – wenn diese überhaupt diesen Namen verdiente – sehr geschäftig gezeigt, um langsam windwärts beizudrehen, und schien geneigt, entweder noch weiter rückwärts, als wo der Lugger lag, durch die Untiefen zu steuern oder förmlich in den Golo einzulaufen. Seine düsteren Umrisse waren noch deutlich zu sehen, obwohl der Schatten gegen das Land hingeworfen wurde; es zog langsam dwarsab von den Klüsen des Luggers, ungefähr eine halbe Meile luvwärts von demselben.
Da von dem Flusse aus eine starke Strömung in die See hinausauszog, und die genannten Schiffe sämmtlich mit dem Gallion gegen die Insel gekehrt waren, so drehte Ithuel von Zeit zu Zeit den Kopf, um ihre Fortschritte zu beobachten; doch waren dieselben so gering, daß keine wesentliche Veränderung dadurch hervorgebracht wurde.
Raoul hatte einige Minuten lang schweigend um sich geschaut, richtete nun aber die Blicke nach oben und betrachtete die Sterne.
»Du weißt wahrscheinlich nicht, Ghita,« begann er dann, »welchen Nutzen uns Seeleuten diese Sterne gewähren können und wirklich gewähren. Mit ihrer Hilfe sind wir im Stande, selbst auf dem weitesten Oceane zu sagen, wo wir sind – die Punkte des Kompasses genau anzugeben, und die Stelle unserer Heimath herauszufinden, selbst, wenn wir noch so weit davon entfernt sind. Der Seemann muß wenigstens sehr weit südlich vom Aequator steuern, ehe er den Punkt erreicht, wo er nicht mehr dieselben Sterne sieht, die er vor der Thüre des väterlichen Hauses erblickte.«
»Das ist für mich ein ganz neuer Gedanke,« gab Ghita rasch zur Antwort, denn ihr zartes Wesen war sogleich von dem Schönen und Poetischen einer solchen Idee betroffen – »das ist für mich ein ganz neuer Gedanke, Raoul, und ich wundere mich, daß du dessen nicht früher erwähntest. Es ist viel werth, wenn man selbst dann, wenn man von dem, was man liebt, weit entfernt ist, noch so heimische, vertraute Gegenstände mit sich nehmen kann.«
»Hast du noch nie davon gehört, daß Liebende sich zu einer gewissen Stunde einen bestimmten Stern erwählten, nach welchem sie emporschauten, wenn sie, trotzdem, daß sie durch Meere und Länder getrennt waren, mit einander verkehren wollten?«
»Das ist eine Frage, die du dir selbst vorlegen kannst, Raoul; Alles was ich jemals von Liebe und Liebenden gehört, habe ich ja aus deinem eigenen Munde vernommen.«
»Gut denn, so will ich dir's sagen, und will dabei hoffen, daß wir nicht abermals von einander scheiden, ohne auch uns einen Stern und eine Stunde ausgewählt zu haben – wenn wir nämlich überhaupt noch von einander scheiden müssen. Ich habe bisher vergessen, dir davon zu sagen, Ghita – doch geschah dieß blos, weil du meinen Gedanken niemals ferne bist, und weil es für mich keines Sternes bedarf, um mir den Monte Argentaro und deine Thürme in's Gedächtniß zurückzurufen.«
Wenn wir behaupten wollten, Ghita habe keine Wonne über Raouls Worte empfunden, so müßten wir sie nur über die Gränzen erheben wollen, welche eine liebenswürdige, natürliche Schwäche für sie gezogen hatte. Ihr Herz war niemals taub für Raouls Liebesbetheurungen, und nichts klang ihrem Ohre süßer, als seine Worte, wenn er ihr seine Treue und Ergebenheit bekannte. Die Offenheit, mit der er seine Fehler und besonders den Mangel jenes wahrhaft religiösen Gefühles eingestand, das in den Augen seiner Geliebten von so hohem Werthe war – mußte seiner Sprache in den Augenblicken, da er sie seiner Liebe versicherte, nur noch größeres Gewicht verleihen. Ghita erröthete, während sie auf seine Rede lauschte; doch zeigte sich kein Lächeln in ihren Zügen, welche eher Trauer auszusprechen schienen. Fast eine Minute lang gab sie keine Antwort, und als sie endlich sprach, geschah es mit leiser Stimme, wie wenn das Herz tief in seine Gedanken und Gefühle versenkt ist.
»Diese Sterne mögen wohl noch eine höhere Bestimmung haben,« begann das Mädchen endlich. »Schau hin, Raoul – zählen können wir sie nicht, denn einer nach dem andern scheint aus des Himmels Tiefen emporzutauchen, je länger unser Auge in diesem Raume verweilt, bis wir erkennen, daß wir uns vergeblich mit Zählen bemühen. Wir sehen, sie sind zu Tausenden vorhanden, und wohl dürfen wir glauben, daß ganze Myriaden davon über uns kreisen. Nun wurdest du belehrt, – denn sonst hättest du niemals Seefahrer werden können – daß diese Sterne, gleich unserer Erde, besondere Welten oder gar Sonnen bilden, welche wieder mit ihren eigenen Welten umgeben sind: – wie ist es nun möglich, dieß Alles zu sehen und zu kennen, ohne an einen Gott zu glauben und die Kleinheit unseres eigenen Wesens zu fühlen?«
»Ich läugne ja nicht, Ghita, daß eine Macht über uns ist, welche dieses Alles lenkt und regiert – ich behaupte nur, daß diese Macht der reine Gedanke, nicht ein Wesen von unserer Form und Gestalt, daß es weit eher der Urgrund aller Dinge, als eine Gottheit ist.«
»Wer hat denn gesagt, daß Gott ein Wesen von unserer Form und Gestalt sei, Raoul? Niemand weiß es ja – Niemand kann es wissen; Keiner wird es behaupten, der seinen Schöpfer, so wie er sollte, verehrt und anbetet.«
»Sagen nicht eure Priester, der Mensch sei nach seinem Ebenbilde erschaffen worden? und heißt dieß nicht uns Fleisch und Blut von Ihm beimessen?«
»Nein, nicht so, theurer Raoul – nur nach dem Ebenbilde seines Geistes. Der Mensch hat eine Seele, welche, wenn auch nur in geringem Grade, ein Ausfluß des unvergänglichen Wesens Gottes ist, und insofern trägt er allerdings Sein Ebenbild an sich. Mehr als dieses hat Keiner je zu behaupten gewagt. Welch' ein Wesen muß Er aber sein – der Herr und Schöpfer dieser glänzenden Welten!«
»Ghita, du kennst die Art und Weise, wie ich von diesen Sachen denke, und ebenso ist dir auch bekannt, daß ich dein zartes Gemüth nicht durch das leiseste Wörtchen betrüben oder verwunden möchte.«
»Nein, Raoul, nicht deine Art zu denken, – nur die Weise, in der du sprichst, ist es, welche diesen Unterschied zwischen uns begründet. Wer überhaupt denkt, kann niemals zweifeln, daß ein Schöpfer und Herr des Weltalls – ein Wesen existirt, das über Alles im Himmel und auf Erden erhaben ist.«
»Ein höchster Gedanke, ja, wenn du so willst, Ghita; ein wirkliches Wesen aber – das müßtest du noch beweisen. Daß ein mächtiger Gedanke existirt, der all' diese Planeten in Bewegung gesetzt, diese Sterne erschaffen und diese Sonnen in den weiten Raum gepflanzt hat, – daran habe ich niemals gezweifelt: das hieße ja, eine Thatsache in Frage stellen, welche mir Tag und Nacht vor Augen steht. Um aber zu glauben, ein Wesen sei fähig gewesen, all' diese Dinge hervorzubringen, dazu müßte ich an Wesen glauben, die ich noch niemals gesehen habe.«
»Und warum sollte man nicht ebensogut glauben, Raoul, daß es ein Wesen ist, was alles Dieß geschaffen, als daß es ein Gedanke, wie du es nennst, sein sollte?«
»Weil ich rings um mich her solche Gedanken und Grundsätze, die meine Fassungskraft überschreiten, thätig sehe: z. B. jene schwere Fregatte dort drüben, die unter der Last ihres Geschützes seufzend dennoch auf dem leichten Wasserspiegel dahinschwimmt; die Bäume am Land, das uns so nahe liegt; die Geschöpfe, welche geboren werden und sterben, wie die Fische, die Vögel und die Menschen. Ich sehe aber kein Wesen – ich kenne kein Wesen, das alles Dieß zu schaffen im Stande wäre.«
»Das kommt daher, weil du Gott nicht kennst! Er ist der Schöpfer jener Grundsätze, von denen du sprichst, und ist größer, als alle jene Gedanken zusammengenommen.«
»Das ist leicht zu sagen, Ghita, aber schwer zu beweisen. Ich nehme die Eichel und pflanze sie in den Boden; ist ihre Zeit gekommen, so keimt sie als Pflanze hervor und wird im Laufe der Jahre zu einem mächtigen Baume. Dieß Alles hängt nun von einem gewissen, geheimnißvollen Grundprinzip ab, das mir zwar unbekannt ist, aber dennoch ganz gewiß existiren muß, denn ich selbst kann ja solche Früchte entstehen lassen, wenn ich die Erde öffne und den Samen in ihrem Schooße niederlege. Ja ich kann sogar noch mehr, denn bis auf einen gewissen Grad wenigstens kenne ich dieses Prinzip so genau, daß ich durch die richtige Wahl der Jahreszeit und des Bodens das Wachsthum der Pflanze beschleunigen oder verzögern – ja den Baum gewissermaßen selbst gestalten kann.«
»Ganz richtig, Raoul, bis auf einen gewissen Grad kannst du das, und zwar gerade, weil du nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen wurdest. Die geringe Aehnlichkeit, welche dir mit jenem mächtigen Wesen zu Theil geworden, macht dich fähig, dieß Alles weit besser, als die Thiere des Feldes zu verrichten: wärest du völlig seines Gleichen, dann könntest du selbst jenes Grundprinzip schaffen, von dem du sprichst, und das du in deiner Blindheit irrigerweise für den Schöpfer selbst ansiehst.«
Ghita sprach dieß mit weit mehr Wärme, als sie früher in ihren häufigen Gesprächen über diesen Gegenstand bewiesen hatte, und mit einer Feierlichkeit des Tons, welche ihren Zuhörer überraschte. Sie besaß nicht, was man in der gewöhnlichen Bedeutung des Wortes Philosophie nennt, wogegen Raoul bei allen Mängeln seiner Erziehung eine schöne Portion davon inne zu haben wähnte, und doch wurden alle Fähigkeiten des Mädchens durch ihr starkes religiöses Gefühl dermaßen geschärft, daß er sich oft wundern mußte, wie sie in ihrem Streite über einen Gegenstand, worin er selbst so stark zu sein sich schmeichelte, scheinbar den Sieg davon trug.
»Ich glaube fast, Ghita, wir verstehen uns nicht,« gab Raoul zur Antwort. »Ich behaupte keineswegs, mehr zu sehen, als dem Menschen überhaupt gestattet ist oder als seine Kräfte zu fassen vermögen; aber dieß allein beweist noch nichts, denn ebenso hat der Elephant mehr Verstand als das Pferd, und dieses wieder mehr als der Fisch. In allen Dingen, die wir unter dem Begriffe Natur zusammenfassen, ist ein Grundsatz vorherrschend, und er ist's, der diese kreisenden Welten und alle Wunder der Schöpfung geschaffen hat. Eines seiner Gesetze aber ist: daß von allen seinen Geschöpfen Keines die Geheimnisse des Schaffenden begreifen soll.«
»Du darfst dir unter deinen Grundsätzen nur einen Geist – ein mit einer Seele begabtes Wesen denken, Raoul, und du hast den Gott der Christen. Warum also nicht ebensogut an Ihn glauben, wie du an deinen sogenannten unbekannten Grundsatz glaubst? Du weißt, daß du bist – daß du einen Lugger bauen und Sonne und Sterne zu Rathe ziehen kannst, um mit Hilfe deines Geistes selbst über den weitesten Ocean deinen Weg zu finden – warum willst du also nicht annehmen, daß es noch ein höheres Wesen geben kann, das weit mehr als dieß zu thun vermag. Deine Grundsätze lassen sich sogar durch dich selbst bestreiten – das Samenkorn kann seiner treibenden Kraft beraubt – der Baum zerstört werden; wenn nun Grundsätze auf diese Art aufgehoben werden können, so kann ja auch eines Tags ein Zufall durch Vernichtung ihres Grundsatzes die Schöpfung selbst vernichten. Ich scheue mich, mit dir von der Offenbarung zu sprechen, Raoul, denn ich weiß, daß du sie verspottest!«
»Nicht, wenn sie von deinen Lippen kommt, theure Ghita. Es mag sein, daß ich dem, was du sprichst und verehrst, meinen Glauben nicht schenke – spotten aber werde ich nie darüber.«
»Ich könnte dir hiefür danken, Raoul; doch fühle ich, daß ich damit eine Huldigung auf mich bezöge, die einem Anderen gebührt. Hier ist aber meine Guitarre, und ich muß dich leider erinnern, daß der heil. Jungfrau heute Abend auf deinem Lugger noch keine Hymne dargebracht wurde: du kannst dir kaum denken, wie süß eine Hymne, auf dem Wasser gesungen, lautet! Ich hörte die Mannschaft auf dem Schiffe, das dort vor der Fregatte vor Anker liegt, jenen Psalm singen, während deine Leute in ihren leichten provençalischen Liedern der Schönheit des Weibes ein Lob anstimmten, statt sich in dem Preise ihres Schöpfers zu vereinigen.«
»Du willst wohl deine Hymne singen, Ghita, sonst würdest du deiner Guitarre nicht erwähnt haben?«
»Ja, Raoul, das will ich. Ich habe deine Seele noch immer nach einer heiligen Musik am sanftesten gestimmt gefunden. Wer weiß, ob sie nicht eines Tages gerade durch diese Hymne gerührt und bekehrt wird!«
Ghita schwieg eine Weile; ihre zarten Finger fuhren über die Saiten ihrer Guitarre und spielten eine feierliche Weise; dann sang sie die süße Melodie des Ave Maria mit einer Innigkeit des Gefühls, welche sogar ein Herz von Stein hätte ergreifen müssen. Als geborene Neapolitanerin besaß Ghita die ganze Vorliebe ihres Vaterlandes für Musik, und hatte sich auch jene Kunstfertigkeit erworben, welche in diesem Theile der Welt unter dem ganzen Volke verbreitet scheint. Die Natur hatte ihr eine der rührendsten Frauenstimmen verliehen – eine Stimme, welche sich weniger durch Stärke als durch Süßigkeit und Wohlklang auszeichnete, was besonders bei religiösen Gesängen, wo ihr Ton in der Weihe des Gefühles bebte, um so größere Wirkung hervorbrachte.
Während sie so ihre wohlbekannte Hymne sang, zog eine heilige Hoffnung durch ihre Seele, daß sie durch irgend ein Wunder das Werkzeug werden könnte, Raoul zur Liebe und Verehrung Gottes zu bekehren, und dieses freudige Gefühl sprach sich auch in der Weise aus, wie sie ihre Aufgabe löste. Noch nie hatte sie so gut gesungen: dieß bewies sogar Ithuels Benehmen, denn dieser kam von seinem Krahnbalken nach dem Quarterdeck, und auch die beiden wachehabenden Matrosen vergaßen eine Zeit lang über dem Entzücken, mit dem sie zuhörten, die ihnen obliegende Pflicht.
»Wenn mich irgend Etwas zu einem gläubigen Christen bekehren könnte, Ghita,« flüsterte Raoul, als der letzte Ton auf den Lippen seiner Geliebten erstorben war, »so müßte es dein Gesang sein! – Was gibt's, Monsieur Etouell? Bist auch du ein Liebhaber heiliger Musik?«
»Das ist ein allerdings ungewöhnlicher Gesang, Kapitän Rule – doch haben wir jetzt andere Geschäfte vor uns. Wenn Ihr Euch nach der andern Seite des Luggers verfügen wollt, so könnt Ihr einen Blick auf das Fahrzeug werfen, das während der letzten drei Stunden längs der Küste hingekrochen ist. Es hat etwas an sich was nicht ganz richtig ist; es scheint uns immer näher zu kommen, während es doch im Wasser nicht weiter vorrückt. Der letztere Umstand kommt mir bei einem Schiffe, das in einer solchen Brise alle Segel eingesetzt hat, ziemlich unnatürlich vor.«
Raoul drückte Ghita die Hand und bat sie flüsternd, in die Kajüte hinab zu gehen, da er fürchtete, daß die Nachtluft ihr schaden könnte. Dann begab er sich nach vorn, wo er die am Land hinziehende Felucke, so gut es die Dunkelheit der Nacht erlaubte, beobachten konnte. Als er bemerkte, wie nahe sie dem Lugger gekommen war, konnte er ein Gefühl der Unruhe nicht unterdrücken.
Das letzte Mal, als er die Stellung der Felucke beobachtet hatte, war sie noch eine volle halbe Meile entfernt gewesen; damals schien es, als ob sie an dem Irrwisch vorübersegeln wollte, und der Wind war stark genug, um sie in der Zwischenzeit eine gute Meile vorwärts zu treiben – dennoch mußte er jetzt bemerken, daß sie nicht so wohl in dieser Richtung gesteuert, als vielmehr während dieser Zeit dem Lugger sich genähert hatte.
»Hast du sie lange beobachtet?« fragte er Den aus Newhampshire.
»Von dem Augenblicke an, da sie still zu stehen schien, und dieß ist etwa zwanzig Minuten. Sie muß vermuthlich recht schwerfällig sein, denn sie braucht mehrere Stunden, um eine Meile zurückzulegen, und doch ist der Wind so stark, daß ein solches Fahrzeug recht gut seine drei Knoten machen könnte. Daß es auf diese Art gegen uns herankommt, ist leicht zu erklären, denn von dem Flusse geht eine bedeutende Strömung aus, wie Ihr an dem Kräuseln des Wassers unter unserem eigenen Brustholze bemerken könnt: aber ich sehe nicht, was das Schiff zu gleicher Zeit am Vorwärtssteuern hindern sollte. Ich habe den Burschen vor wenigstens einer Viertelstunde an dem Punkte dort in's Auge gefaßt, wo Ihr am Fuße des nächsten Gebirges jenes Licht bemerkt, und es ist seitdem nicht fünfmal so weit vorgerückt als seine eigene Länge beträgt.«
»Bei all' Dem ist er doch nichts weiter als ein corsikanischer Küstenfahrer, Etouell; ich glaube kaum, daß sich die Engländer abermals unserem Kartätschenhagel aussetzen möchten, blos um das Vergnügen zu haben, einen zweiten Enterversuch abgeschlagen zu sehen!«
»Es ist eine trotzige Rotte auf jener Fregatte und der Himmel allein mag es wissen! Seht nur, es weht doch eine recht frische Nachtluft und jene Felucke ist keine Kabellänge von uns entfernt! Beobachtet sie nur einmal vom Klüverstag aus und sehet selbst, wie langsam sie vorrückt! Das ist es eben, was mir nicht gefällt!«
Raoul that, wie ihm der Andere gerathen, und fand nach kurzer Beobachtung, daß an dem Küstenfahrer gar keine merkliche Bewegung nach vorn wahrzunehmen war, während er offenbar mit der Strömung abwärts und dwarsab gegen die Klüse des Luggers trieb. Diese Thatsache ließ ihn nicht daran zweifeln, daß an dem Hintertheil des Fremdlings ein Uebergewicht angebracht sein mußte – ein Umstand, der jedenfalls eine feindliche Absicht verrieth. Der Feind war wahrscheinlich am Bord der von ihm geenterten Felucke, und ihm selbst lag jetzt ob, augenblicklich die nöthigen Vorkehrungen zur Vertheidigung zu treffen.
Doch mochte Raoul seine Leute noch nicht in ihrer Ruhe stören. Wie allen muthigen, kaltblütigen Männern, so war auch ihm jeder falsche Alarm zuwider, und es blieb ihm so unwahrscheinlich, daß die Lection von heute Morgen so bald vergessen sein sollte, daß er sich kaum überreden konnte, seinen eigenen Sinnen zu trauen. Dann hatten auch die Leute den ganzen Tag über sehr harte Arbeit gehabt, und die Meisten waren in den festen Schlaf der Ermüdung versunken. Auf der andern Seite brachte aber jede Minute das Küstenschiff näher und vergrößerte die Gefahr, wenn der Feind wirklich in dessen Besitze sein sollte.
Unter diesen Umständen beschloß er, den Fremdling zuerst anzurufen, denn er wußte, daß er seine Leute, die in der Besorgniß: es möchte im Verlaufe der Nacht doch noch ein Angriff der Boote statthaben – mit den Waffen neben sich schliefen, in einer Minute auf den Beinen haben konnte.
»Felucke, ahoi!« rief der Kapitän des Irrwisches, indem das andere Fahrzeug schon so nahe war, daß er seine Stimme nicht sonderlich anzustrengen brauchte. »Was ist das für eine Felucke? Und warum habt ihr eine so starke Verteuning?«
Unter
Verteuning versteht man alle diejenigen Theile des Schiffsrumpfes, als: die Back, Schanze, Hölle u. s. f. – welche über das Raaholz, das rings am Bord hinläuft, emporragen.
D. U.
» La Bella Corsienne!« lautete die Antwort, welche in einem halb französischen, halb italienischen Jargon ertheilt wurde, wie es Raoul, wenn Alles in Ordnung sein sollte, auch wirklich erwartet hatte. »Wir sind nach la Paduella unterwegs, und wünschen uns am Land zu halten, um die Brise desto länger benützen zu können. Wir sind gerade nicht die besten Segler, und haben eine solche Verteuning, weil wir uns jetzt eben in der stärksten Strömung befinden.«
»Auf diese Art kommt ihr aber gerade dwarsab gegen meine Klüse. – Ihr wißt, ich führe Waffen und kann so etwas nicht dulden!«
»Ach, Signore, wir sind ja Freunde der Republik, und würden Euch gewiß nichts zu leid thun, selbst wenn wir könnten. Wir hoffen, Ihr werdet mit armen Seeleuten, wie wir, nicht schlimmer verfahren. Wir wollen abhalten, wenn's Euch so recht ist, und unter Eurem Spiegel vorüberfahren.«
Dieser Vorschlag geschah so plötzlich und unerwartet, daß Raoul keine Zeit zu einem Einwurfe hatte: und wäre er auch dazu geneigt gewesen, so erfolgte jedenfalls die Ausführung viel zu rasch, als daß er noch ein Mittel dazu übrig gehabt hätte. Die Felucke fiel ihrer ganzen Breite nach ab und kam, von Wind und Strömung getrieben, schnurgerade und so schnell gegen die Büge des Luggers, daß Ithuel alle seine Zweifel bestätigt fand.
»Ruft alle Matrosen zusammen, um die Enterer zurückzutreiben!« schrie Raoul, sich auf das Gangspill schwingend und seine eigenen Waffen ergreifend. »Kommt rasch herbei, mes enfants! – hier ist Verrätherei im Spiele!«
Kaum waren diese Worte gesprochen, als Raoul schon wieder auf der Hieling des Bugspriets stand, und alsbald zeigten sich fünf oder sechs seiner muntersten Leute auf dem Verdeck.
In diesem kurzen Zeitraume war die Felucke bis auf achtzig Schritte herangekommen, worauf sie zur Verwunderung Aller auf dem Lugger abermals in den Wind luvte und gegen den Kaper trieb, bis sie offenbar dicht über dessen Kabeltau lag: ihr Spiegel drehte sich rund herum und stand dem Steuerbordbug des Luggers gerade gegenüber.
Im selben Augenblicke, da beide Schiffe eben in wirkliche Berührung mit einander kamen, und Raouls Leute sich um ihn drängten, um dem erwarteten Angriffe zu begegnen, hörte man den Schall von Rudern, die gleichsam, als gälte es Leben oder Tod, gehandhabt wurden, und aus der offenen Luke des Küstenfahrers schlugen Flammen empor. Bald darauf sah man bei der Glut des Brandes ein Boot in gleicher Linie mit dem Rumpfe dahingleiten. » Un brûlot! – un brûlot! – Ein Brander!« riefen zwanzig Stimmen zusammen: das Entsetzen, das sich in diesem Rufe aussprach, verkündete die Größe der Gefahr, welche vielleicht unter allen, welche den Seemann betreffen können, die furchtbarste ist.
Unter diesen Stimmen war aber die von Raoul Yvard nicht zu vernehmen. In dem Augenblicke, da sein Auge die ersten Strahlen der Flammen erblickte, war er von dem Bugspriet verschwunden. Doch nach einer Abwesenheit von etwa zwanzig Sekunden sah man ihn auf dem Hackbord der Felucke mit einer Rustleine auf der Schulter, die er auf dem Vorkastell gefunden hatte.
»Antoine! – François! – Gregoire!« – rief er mit einer Donnerstimme – »folgt mir! – Die Andern schaffen das Kabel weg und knüpfen eine Halse an das obere Ende!«
Die Mannschaft auf dem Irrwisch war an Ordnung und unbedingten Gehorsam gewöhnt. Dießmal waren auch die Lieutenants unter ihnen, und die Leute schickten sich augenblicklich an, die erhaltenen Befehle zu vollziehen.
Raoul selbst stand auf der Felucke, wohin die drei Matrosen, die er namentlich aufgerufen hatte, ihm folgten. Die Abenteurer fanden für jetzt noch keine Schwierigkeit, der Flamme zu entgehen, obgleich diese bereits in gewaltigem Feuerstrome aus der Luke hervorbrachen. Wie Raoul vermuthet hatte, so zeigte sich's jetzt: sein Kabeltau war angehakt worden. – Augenblicklich ein Tau ergreifend, umschlang er es, so daß es feststand, und befestigte das obere Ende desselben. Dann glitt er rasch an dem Kabeltau hinab, befahl seinen Leuten, ihm das eine Ende der Rustleine herabzureichen, das er nun mit einem Fischerstich an das Kabel festband. Dieß nahm eine halbe Minute Zeit weg: in der nächsten stand er wieder auf der Vorderschanze der Felucke. Hier konnte man die Rustleine mit leichter Mühe durch eine Klüsenöffnung ziehen und mittelst eines Marlpfriemes in ihrer Mitte einen Knoten aufschürzen.
Durch das Feuer wieder zurückzukommen, war nun schon eine gefährlichere Aufgabe; doch trieb Raoul seine Gefährten vorwärts, und sie entkamen glücklich und ohne Schaden genommen zu haben.
»Abgeviert!« lautete sein Kommandoruf, sobald sein Fuß den Bug des Luggers betreten hatte – »das Ankertau ausgestochen, ihr Leute, wenn ihr unseren schönen Lugger vom Untergange retten wollt.«
Und in der That war kein Augenblick mehr zu verlieren. Der Lugger, von Wind und Strömung getrieben, folgte dem Tau, das ihm rasch genug gereicht wurde; im Anfange aber schien der Brander, dessen Verdecke mit Theer getränkt waren, und der jetzt schon eine einzige Flammenmasse bildete, seine Beute begleiten zu wollen. Im nächsten Augenblicke sah man jedoch zu nicht geringer Freude auf dem Lugger, wie der Spiegel der Felucke sich bereits von den Bügen des Irrwisches trennte, und da man diesen mit Hilfe des Steuers abgegiert hatte, so war in wenigen Sekunden auch das Bugspriet und der Klüver der Gefahr entronnen.
Die Felucke blieb auf der Stelle liegen, während der Lugger Faden um Faden weiter schwamm, bis er mehr als hundert Schritte von der Feuermasse entfernt war. Da man das Ankertau ausgestochen hatte, so mußte natürlich der Theil, an welchem das Taljereep der Rustleine befestigt war, in's Wasser fallen, während die Felucke an der Kette hängen blieb.
Dieß Alles ereignete sich in einem Zeitraume von weniger als fünf Minuten: die Ruhe und Entschlossenheit, womit gehandelt worden war, schien eher vom Instinkt als vom freien Willen diktirt gewesen zu sein. Die wenigen oben erwähnten Kommando's ausgenommen, hatte man Raouls Stimme niemals gehört, und als der junge Mann bei dem strahlenden Lichte, das auf dem Lugger und dem nahen Wasserspiegel eine ziemliche Strecke weit Alles fast bis zur vollen Tageshelle erleuchtete – seine Ghita auf dem Verdecke stehen und das Schauspiel mit scheuer Bewunderung und Furcht anstarren sah – ging er auf sie zu, und redete sie mit einer Sorglosigkeit an, wie wenn das Ganze nur ein glänzendes Gemälde und zu ihrer Belustigung ersonnen worden wäre.
»Unsere Girandola darf höchstens der der St. Peterskirche weichen,« bemerkte er. »Wir sind mit knapper Noth entronnen, Liebe; aber deinem Gotte sei gedankt – wenn du's denn doch so haben willst – wir haben keinen Schaden genommen.«
»Und du warst das Werkzeug Seiner Gnade, Raoul: ich habe von hier aus Alles mit angesehen. Als du deinen Leuten riefst, kam ich aufs Verdeck, und ach! wie habe ich gezittert, als ich dich auf dem brennenden Schiffe erblickte!«
»Es war von diesen Herrn Engländern recht schlau eingefädelt, hat ihnen aber doch auf merkwürdige Weise fehlgeschlagen. Der Küstenfahrer hat nämlich eine Ladung Theer und Schiffsvorräthe am Bord, und als sie ihn diesen Abend gefangen nahmen, gedachten sie unsern Irrwisch in den helleren, wilderen Flammen ihres eigenen Feuers auszulöschen. Aber der Irrwisch wird wieder leuchten, nachdem ihr Feuer längst erstorben ist!«
»Ist denn keine Gefahr mehr vorhanden, und kann uns der Brander nicht jetzt noch erreichen? er steht uns noch immer fürchterlich nahe!«
»Doch nicht so sehr, daß er uns schaden könnte, besonders da unsere Segel vom Thau angefeuchtet sind. So lange unser Kabel hält, kann er nicht von der Stelle, und da dieses unter Wasser steht, so wird es auch nicht anbrennen. In einer halben Stunde wird wenig mehr von ihm übrig sein: so wollen wir uns denn an dem Freudenfeuer, so lange es noch dauert, ergötzen.«
Und in der That gewährte das Ganze jetzt, da die Furcht vor Gefahr vorüber war, einen prachtvollen Anblick. In der strahlenden Helle sah man auf dem Lugger alle Gesichter in ängstlicher Neugierde auf die brennende Masse gerichtet, wie die Sonnenblume dem glühenden Feuerballe in seinem Laufe am Himmel zu folgen pflegt; dabei traten Spieren, Segel, Kanonen, ja selbst die kleinsten Gegenstände auf dem Fahrzeug aus dem Dunkel der Nacht in den Glanz einer Beleuchtung, welche Alles fast nur als einen Theil einer prachtvollen, theatralischen Darstellung erscheinen ließ.
Aber eine so starke Flamme mußte sich um so früher selbst verzehren. Bald sanken die Masten der Felucke und mit ihnen eine ganze Pyramide von Feuer. Dann stürzte das brennende Deck ihnen nach, und diesem folgte Spiere auf Spiere und Planke auf Planke, bis der Brand auf dem Wasser, worauf er schwamm, ein großartiges Ende fand.
Eine Stunde, nachdem die Flammen ausgebrochen waren, blieb nichts mehr übrig, als die glühende Asche, die sich in dem Kielraume des Wracks angesammelt hatte.