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Zehntes Kapitel

Ein himmlischer Gedanke ist's, daß Menschenmacht
Den Weg kann finden durch die Wasserwüste,
Die pfadlose; daß auch der Winde Schaar –
Des großen Gottes fessellose Diener –
Ihm ihre ungezähmten Schwingen leih'n, ihn tragen
In ferne Himmelsstriche.

Ware.

 

Ghita's Lage am Bord des Luggers war während des heftigen Kampfes, den wir oben erzählten, so unerfreulich, als man sich nur immer denken kann. Zum Glück dauerte der Kampf für sie nicht allzu lange, denn Raoul hatte ihr bis zu dem Augenblick, da der Irrwisch sein Feuer begann, jede frühere Gefahr verhehlt. Zwar hatte sie die Kanonade zwischen der Felucke und den Booten wohl vernommen, doch hatte man ihr gesagt, der Kaper sei bei jener Affaire durchaus nicht betheiligt, und da ihr in der Kajüte das Feuern sehr entfernt vorkam, so hatte sie sich auch leicht täuschen lassen. Während das eigentliche Gefecht vor sich ging, lag sie an ihres Oheims Seite auf den Knieen; sobald dasselbe aber aufgehört hatte, erschien sie auf dem Verdeck, um Raoul, wie schon erzählt wurde, um Schonung der Flüchtigen anzuflehen.

Jetzt aber wurde die Scene durchaus verändert. Der Lugger war jeder bedeutenderen Beschädigung glücklich entronnen; sein Verdeck war nicht mit Blut befleckt, und sein Sieg so vollständig, als er sich selbst nur immer wünschen konnte. Zu all' diesen Vortheilen kam noch, daß dieser Ausgang jede Besorgniß vor einem Bootsangriffe während der Windstille – der einzigen denkbaren Gefahr, welche Raoul von Seiten der Fregatte zu drohen schien – abgewendet hatte, denn es war doch höchst unwahrscheinlich, daß Leute, welche kaum zuvor bei einem so wohl maskirten Unternehmen so schlimm weggekommen waren, noch während sie an der letzten Schlappe bluteten – ihren Versuch erneuern würden. Affairen dieser Art verlangen all' die Mannszucht und Entschlossenheit, wie sie ein wohlgeregelter Dienst nur immer gewähren kann, und sind unter der augenblicklichen Erschlaffung einer Niederlage gänzlich unausführbar. Aus diesem Grunde betrachteten Alle auf dem Lugger das Zusammentreffen mit der Proserpina für den Augenblick wenigstens als völlig beendigt.

Das Mittagsmahl war vorüber, der Tag mittlerweile ziemlich vorgerückt, und Ghita, um der Beengung in der sehr kleinen Kajüte zu entfliehen, hatte ihren Oheim dort seiner gewohnten Siesta überlassen, während sie sich selbst auf das Verdeck verfügte. Sie saß unter dem Zeltüberhang des Quarterdecks und war mit Nähen beschäftigt, wie sie es auch in dem Wartthurme von Argentaro um diese Stunde immer gewöhnt war. Raoul hatte sich in ihrer Nähe auf eine Laffette niedergelassen, und Ithuel beschäftigte sich, nur wenige Schritte von ihnen entfernt, mit dem Auseinandernehmen seines Fernrohrs, dessen Gläser er reinigen wollte.

»Ich vermuthe, der höchst vortreffliche Andrea Barrofaldi wird ein Tedeum anstimmen, daß er unseren Klauen so glücklich entronnen ist,« rief Raoul plötzlich unter Lachen. » Pardie! er ist ein ausgezeichneter Geschichtskenner, und ganz dazu geeignet, eine Schilderung dieses großen Sieges zu entwerfen, den sodann der Herr Engländer da drüben an seine Regierung einschicken kann.«

»Und du, Raoul, hast du nach einer so glücklichen Flucht etwa keinen Grund zu einem Tedeum?« fragte Ghita sanft und doch mit Nachdruck – »hast du nicht ebensogut wie der Vicestatthalter einen Gott, dem du danken solltest?«

» Peste! – Wir Franzosen denken eben jetzt sehr selten an unsere Gottheit, Ghita. Republiken haben, wie du weißt, sehr wenig Vertrauen auf die Religion – ist's nicht so, mon brave Américain? Sag' einmal, Etouell – habt ihr in Amerika auch eine Religion?«

Ithuel hatte Raouls Ansichten über dieses Thema schon oft gehört, und kannte die vorherrschende Stimmung der Franzosen gerade in diesem Punkte zu gut, als daß er bei einer solchen Frage Erstaunen gefühlt oder ausgedrückt hätte. Dennoch war ihm der Gedanke bei seinen Ansichten und Vorurtheilen höchlich zuwider, denn er hatte von Jugend auf die Religion selbst dann verehren gelernt, wenn er auch noch so sehr im Dienste des Bösen befangen gewesen. Mit einem Worte – Ithuel war einer jener Abkömmlinge der Puritaner, welche »himmelwärts« (wie man dieß nannte) – so weit nämlich seine Theorie irgendwo in's Spiel kam – untadelhaft, »erdwärts« dagegen nicht anders als »die Schriftgelehrten und Pharisäer« lebte. Nichtsdestoweniger stand er jederzeit aufrecht für »seine Religion«, wie er sich selbst hierbei auszudrücken pflegte – ein Thema, worüber ihn schon seine englischen Kameraden mit ihren Witzen verfolgt hatten, indem sie behaupteten, er »stehe sogar aufrecht«, während die ganze Schiffsmannschaft auf den Knieen liege.

»Ich fürchte fast, Monsieur Rule,« gab er zur Antwort, »daß ihr in Frankreich das Tau des Republikanismus am Unrechten Ende angefaßt habt. Wir in Ameriky stellen die Religion sogar noch über die Dollars – wenn Euch das nicht überzeugt, so habe ich weiter nichts mehr zu sagen. – Ich wollte, Ihr könntet einmal einen Sonntag in unserem Granitstaate verleben, Signorina Ghita, damit Ihr einen Begriff davon bekämet, wie unsere westliche Religion eigentlich beschaffen ist.«

»Jede wahre Religion – jede wahre Gottesverehrung ist oder sollte wenigstens ein und dieselbe sein, Signor Ithuello – mögen wir sie im Osten oder im Westen betrachten. Ein Christ ist und bleibt ein Christ, wo er auch leben und sterben möge.«

»Das ist, glaub' ich, nicht gerade nach unserer Kirchenordnung. Nein, nein – Gott segne Euch, junge Dame – aber Eure Religion ist der meinigen ebensowenig ähnlich, als letztere mit jener des Erzbischofs von Canterbury oder mit der des Monsieur Rule hier übereinstimmt!«

» La mienne!« rief Raoul, »ich mache auf gar keine Religion Anspruch, mon brave, und zwischen Etwas und Nichts kann keine Ähnlichkeit stattfinden.«

In Ghita's Blick war eher Güte als Vorwurf zu lesen; doch war ein tiefer Kummer darin nicht zu verkennen.

»Worin kann denn unsere Religion verschieden sein,« fragte sie, »wenn wir Beide Christen sind: Italiener oder Amerikaner – das ist ja ganz dasselbe.«

»Das kommt daher, weil Ihr nichts von Ameriky wißt,« meinte Ithuel, der von seiner eigenen Meinung über sich selbst, so wie über den Theil der Welt, von welchem er herstammte, viel zu sehr überfüllt war. »Erstens habt ihr in eurer Religion einen Papst, und Kardinäle, und Bischöfe, und lauter solche Geschichten, während wir durchaus nichts davon wissen wollen.«

»Allerdings haben wir einen heiligen Vater und haben Kardinäle – sie Alle aber sind nicht meine Religion,« antwortete Ghita mit Verwunderung in ihren Blicken. »Die Bischöfe sind freilich von Gott eingesetzt, und bilden einen Theil unserer Kirche; der Bischof von Rom insbesondere ist das Haupt der Kirche auf Erden – aber nichts weiter.«

»Nichts weiter! Betet ihr nicht auch Bilder an und wechselt bei eurem Gottesdienste die Gewänder; knieet ihr nicht nieder – was mir jedenfalls sehr gezwungen und profan erscheint – und verkehrt ihr nicht Alles in eitle Ceremonien?«

Hätte sich Ithuel mit Leib und Seele verbindlich gemacht, einen der Streitsätze der Oxforder Traktate zu verfechten – er hätte diese Worte nicht mit größerem Eifer oder mit selbstgerechterer Wärme aussprechen können. Sein Geist beherbergte einen Vorrath der allergewöhnlichsten Anklagepunkte, wie sie die ausnehmend ordinären sektirerischen Distinctionen seines Vaterlandes aufstellten, und er hielt es für einen hohen Grad protestantischer Vollkommenheit, all' jene veralteten Gebräuche mit tiefem Abscheu zu betrachten.

Ghita dagegen hörte ihm mit Verwunderung zu, denn für sie war die Art, wie die Gebräuche der römischen Kirche von der Masse des protestantischen Pöbels angesehen wurden, noch immer ein tiefes Geheimniß. Der Gedanke, daß sie Bilder anbete, hatte noch nie ihren unschuldigen Sinn beunruhigt, denn so oft sie auch schon vor ihrem kleinen elfenbeinernen Kruzifixe niedergekniet war, so hatte sie doch noch nie daran gedacht, daß ein Mensch so unwissend sein und das bloße körperliche Bild des Opfers, das hierdurch vorgestellt werden sollte, mit der göttlichen Sühne selbst verwechseln könnte.

»Es ist doch gewiß schicklich, sich am Altare in passende Gewänder zu kleiden,« versetzte Ghita, »und die Diener Gottes sollen nicht angethan sein wie andere Menschenkinder. Wir wissen freilich, daß das Herz, die Seele ergriffen sein muß, um vor Gott Gnade zu finden: dieß macht aber die äußerlichen Zeichen der Verehrung, die wir sogar uns selbst unter einander erweisen, durchaus nicht entbehrlich. Was die Bilderverehrung betrifft, so wäre dieß ja reine Götzendienerei, und eben so schlimm als das Heidenthum selber.«

Ithuel schien verwirrt: er hatte noch nie im Geringsten bezweifelt, daß die Bilderverehrung einen wesentlichen Theil des katholischen Gottesdienstes ausmache, und den Papst vollends mit seinen Kardinälen hielt er eben so unauflöslich mit dem Glauben dieser Kirche verbunden, als er es bei seiner eigenen für wesentlich hielt, daß die Priester keine Chorröcke trügen und die Kirchen viereckige Fenster hätten. So abgeschmackt dieß heutzutage und so gottlos es vielleicht in einem späteren Jahrhundert erscheinen mag – es bildete und bildet noch jetzt keinen kleinen Theil des Sektenglaubens, und schlich sich nicht selten in die heftigen Zänkereien Derer ein, welche für nöthig hielten, ihrem Gott zu Liebe Streit zu führen. Könnten wir nur auf unsere eigenen Meinungsänderungen zurückblicken – wir würden das Vertrauen in die Wahrheit unserer Gefühle wohl manchmal tief erschüttert finden, und vor Allen, sollte man meinen, müßte ein Amerikaner, der lange genug gelebt hat, um die Schwindeleien und Lächerlichkeiten mit anzusehen, welche seit einem Vierteljahrhundert unter den Glaubensansichten der neueren Sekten seines eigenen Vaterlandes aufgetaucht sind – wenigstens etwas mehr Achtung vor den konsequenteren und ehrwürdigeren Confessionen der übrigen christlichen Welt gewonnen haben.

»Passende Gewänder!« wiederholte Ithuel mit verächtlichem Tone; »wozu sollte es in den Augen des Höchsten besonderer Gewänder bedürfen? Nein; wenn ich einmal eine Religion haben muß – und ich weiß, daß sie uns nöthig und heilsam ist – so soll es wenigstens eine reine, nackte Religion sein, die sich auch vor der Vernunft verantworten kann. – Ist das nicht richtig gedacht, Monsieur Rule?«

» Ma foi, oui. Vernunft vor allen Dingen, Ghita, und besonders Vernunft in der Religion.«

»Ach, Raoul, das ist's gerade, was euch irreführt und zum Unrechten verleitet,« erwiederte das Mädchen ernsthaft. »Nur Glaube und demuthsvolle Ergebung ist nöthig, um uns das richtige Gefühl für den Höchsten einzupflanzen, und dennoch verlangt ihr von Ihm, der das Weltall geschaffen und den Odem des Lebens in eure Brust gehaucht hat – Vernunftgründe für diese seine Werke?«

»Sind wir nicht vernünftige und denkende Geschöpfe, Ghita,« versetzte Raoul sanft und mit einer Aufrichtigkeit und Wahrheit, welche unter solchen Umständen sogar seinen Skepticismus anziehend und achtungswerth machten; »und ist es also wohl unvernünftig, wenn wir unserer Natur gemäß zu handeln verlangen? Kann ich einen Gott verehren, den ich nicht verstehe?«

»Könntest du ihn denn verehren, wenn du ihn wirklich verstündest? Er würde ja aufhören, Gott zu sein, und müßte unseres Gleichen werden, wenn sich sein Wesen und seine Eigenschaften zu unserem Fassungsvermögen herabziehen ließen. Wenn jetzt einer deiner Untergebenen hier auf das Quarterdeck heraufkäme und darauf bestehen wollte, alle deine Beweggründe von dir zu vernehmen, warum du auf dieser kleinen Felucke diese und jene Befehle gegeben – würdest du ihn nicht alsbald als einen unverschämten Meuterer von dir jagen? und dennoch verlangst du, den Gott der Welten zu befragen und in seine Geheimnisse einzudringen?«

Raoul blieb stumm, während Ithuel, gleichfalls schweigend, vor sich hinstarrte. Es war eine solche Seltenheit, wenn Ghita ihre ausnehmende Sanftheit ihres Wesens verlor, daß die Röthe ihrer Wangen, der strenge Ernst ihrer Blicke, das ungeduldige Beben ihrer Stimme und der Nachdruck, mit dem sie bei dieser Veranlassung sprach, in ihren Zuhörern eine Art scheuer Ehrfurcht hervorrief, welche das Gespräch nicht weiter fortzusetzen erlaubte.

Das Mädchen selbst war dermaßen aufgeregt, daß man eine Minute später, während sie ihr Antlitz mit den Händen bedeckt hielt, die hellen Thränen durch ihre Finger hervorbrechen sah, worauf sie plötzlich aufstand und in die Kajüte hinabeilte. – Raoul besaß zu viel richtigen Takt, als daß er daran gedacht hätte, ihr zu folgen; mürrisch und in Gedanken verloren, blieb er sitzen, bis Ithuel die Aufmerksamkeit des Andern auf seine eigene Person lenkte.

»Mägdlein bleibt Mägdlein,« bemerkte dieser feine, philosophische Beobachter des Menschengeschlechts, »und nichts berührt ihr Wesen tiefer, als so ein bischen religiöse Aufregung. Ich darf wohl sagen, wenn diese Heiligenbilder, die Kardinäle und Bischöfe und ähnliches Gelichter nicht wären – die Italiener würden eine ganz gute Klasse von Christen abgeben.«

Raoul war aber nicht zum Sprechen aufgelegt, und da mittlerweile die Stunde gekommen war, wo man den Westwind erwarten durfte, so stand er auf, befahl den Zeltvorhang abzunehmen, und suchte sich selbst wieder mit dem Stande der äußeren Dinge bekannt zu machen.

Drüben lag die Fregatte und schien, wie Alles in der Nähe, Siesta zu halten – die drei Marssegel aufrecht stehend, Alles, was sonst noch von Segeln los war, in zierliche Gewinde gebunden und das Eintreten der Brise erwartend. Trotz dieses Anscheins von Sorglosigkeit war sie in den letzten paar Stunden so sorgfältig bedient und jedes, auch das leiseste Lüftchen so emsig benützt worden, daß Raoul überrascht zurückfuhr, als er entdeckte, um wie viel sie ihm seit dem Augenblicke, da er sie zum letzten Mal beobachtet hatte, näher gekommen war. Dieser einzige Blick genügte, um die List seines Feindes zu durchschauen, und er war genöthigt, sich selbst der Nachlässigkeit zu beschuldigen, als er bemerkte, daß er im Kanonenbereiche seines mächtigen Feindes lag, obwohl der Engländer immer noch so weit entfernt war, daß das Zielen, besonders wenn eine höhere Woge dazwischen trat, für ihn immer etwas unsicher bleiben mußte.

Die Felucke war bis auf den Wasserspiegel herabgebrannt: doch schwamm das Wrack, von der Meeresstille begünstigt, noch immer auf den Wogen und näherte sich langsam der Bai, wohin es durch eine leichte Strömung geleitet wurde. Die Stadt glühte unter den Strahlen der Nachmittagssonne, war aber vor den Blicken des Spähenden versteckt: die ganze Insel Elba schien in Schlaf versunken.

»Welche Siesta!« bemerkte Raoul gegen Ithuel, während Beide auf der Hieling des Bugspriets standen und die ganze Scene – Meer, Land und Gebirge, Stadtbewohner wie Matrosen in Schlummer begraben – neugierig betrachteten. » Bien, dort drüben von Westen her regt sich einiges Leben, und wir müssen uns weiter von deiner Proserpina entfernen. – Ruft die Matrosen zusammen, Herr Lieutenant: laßt uns die Ruder einsetzen, und das Gallion des Irrwisches nach der andern Seite drehen. Peste! der Lugger segelt so rasch und ist so sehr geneigt, in der gegebenen Richtung fortzusteuern, daß ich fast fürchte, er ist seinem Feinde entgegengekrochen, wie das Kind in das Feuer hineinkrabbelt, welches ihm die Finger verbrennt.«

Bald kam Alles am Bord des Irrwisches in Bewegung; schon war man im Begriff, die Ruder zu handhaben, als das Bratspillsegel zu flattern anfing und der erste Windstoß der erwarteten Brise aus Westen über die Oberfläche der Wasser hinzog. Für die Seeleute war dieß gerade, wie wenn sie Sauerstoffgas eingeathmet hätten. Auf beiden Schiffen war unter der Mannschaft auch keine Spur von Schläfrigkeit mehr zu bemerken; im nächsten Augenblicke war Jedermann mit Einsetzen der Segel beschäftigt.

An der Deutlichkeit, womit sie das Rufen auf der Fregatte vernahmen, konnte Raoul bemerken, in welch' gefährlicher Nähe er sich befand; die Stille des Meeres war noch immer so groß, daß er das Krachen der Fockraa hören konnte, während die Engländer ihre Brassen rasch abvierten und das Vormarssegel back legten.

In diesem Augenblick kam ein zweiter Lufthauch, zum Zeichen, daß sich die Brise jetzt wirklich einstellte. Augenblicklich schoß der Lugger vorwärts und der Fregatte entgegen. Eine halbe Minute später aber war er genugsam in Bewegung, so daß man das Steuer niederstellen konnte, worauf er mit der Leichtigkeit und Grazie eines Vogels auf der Stelle vierte.

So rasch ging es nicht bei der schwereren Fregatte. Sie hatte ihre Steuerbord-Vorbrassen eingehalt, und mußte noch das Vormarssegel back legen und ihr Gallion scharf leewärts stellen, um ihre Raaen zu schwingen und die Segel zu füllen, während der Lugger rasch über das Wasser hinschlüpfte und gerade in den Wind hinein zu segeln schien. Durch diese einzige Bewegung entfernte sich der Irrwisch um mehr als eine Kabellänge von seinem Feinde, und fünf Minuten später wäre er außer aller unmittelbaren Gefahr gewesen.

Aber Kapitän Cuffe wußte dieß ebensogut, wie sein Gegner, und hatte demgemäß seine Vorkehrungen getroffen. Die Vorderraaen back haltend, wendete er die Fregatte so, daß sie ihre Breitseite dem Lugger zukehrte, und ließ nun plötzlich sämmtliche Geschütze der Steuerbordbatterien, welche zuvor mit der größten Sorgfalt gerichtet worden, gegen den Feind losdonnern.

Zweiundzwanzig schwere Kugeln, auf einmal gegen ein so kleines Fahrzeug, wie der Irrwisch, losgelassen, waren eine furchtbare Heimsuchung, und selbst die Kühnsten hielten eine Zeitlang den Athem zurück, während der eherne Wirbelwind an ihnen vorübersauste.

Zum Glück ging dem Lugger keine der Kugeln in den Rumpf. Dagegen war unter der Takelage schwerer Schaden angerichtet. Die Bratspillraa wurde entzwei geschlagen und wie ein Pfeifenrohr in die Höhe geschleudert; auch der Hauptmast erlitt unterhalb der Backen eine bedeutende Beschädigung, und die große Raa selbst wurde an den Längen Längen sind Taue, mittelst welcher einzelne Gegenstände in die Höhe gehoben werden: den gleichen Namen erhält der Theil einer Raa, wo diese Taue befestigt werden.
D. U.
zerschmettert. Nicht weniger als sechs Kugeln gingen durch beide Marssegel und bohrten Löcher in die Leinwand, so daß diese dem Hemde eines Bettlers ähnlich sah: das Klüverstag wurde halbwegs zwischen dem Topp des Klüverbaums und dem Ende des Bugspriets mitten entzwei gerissen. Verwundet war Keiner, und doch hatten sich Alle im ersten Augenblicke auf eine Art umgesehen, als ob für den Lugger plötzlich das letzte Stündlein geschlagen hätte.

Jetzt zeigte sich Raoul erst in seinem wahren Lichte. Er wußte, daß er gerade in diesem Augenblicke auch nicht das kleinste Stückchen Leinwand entbehren konnte, und daß der Erfolg des Ganzen von den nächsten zehn Minuten abhing. Deßhalb dachte er nicht daran, die zerfetzten Spieren und Segel einzuhissen, sondern ließ Alles stehen, wie es stand, und verließ sich auf die Schwäche des Windes, der gewöhnlich im Anfange sehr gemäßigt war. Alle Hände waren augenblicklich in Thätigkeit, um ein neues Stag aufzurichten; eine frische Hauptraa nebst Segel wurde herbeigeschafft, und Alles in Bereitschaft gesetzt, um beide aufzuhissen, sobald man sich erst überzeugt haben würde, daß der Mast sie zu tragen vermochte. Auch am Fockmast wurden ähnliche Vorkehrungen getroffen, da dieß der kürzeste Weg war, um das zerschossene Vormarssegel herunter zu bekommen; die Raa selbst war unversehrt, und so wollte man denn die alte Leinwand losmachen und ein neues Segel befestigen.

Zu allem Glück beschloß Kapitän Cuffe, mit einer Kanonade keine weitere Zeit zu verlieren; er ließ vielmehr die Fockraaen vieren, so daß die Fregatte allmählig in den Wind kam, und drei Minuten später war alles Tauwerk bis zum Zerreißen angespannt.

Diese ganze Zeit über war aber auch der Irrwisch nicht still gestanden. Sein zerfetztes Segelwerk flatterte zwar hin und her, hielt aber dennoch fest, und selbst die Spieren behaupteten ihre Stelle, so arg sie auch zerschossen waren. Mit einem Wort, der Wind war noch nicht stark genug, um die beschädigten Stengen und Segel umzureißen oder mit sich zu nehmen. Auch gereichte es dem Lugger zum Vortheil, daß diese Unfälle, besonders der Verlust des Bratspills, ihn weniger luvgierig D. h. der Einwirkung des Windes gehorsam.
D. U.
machte, als er sonst gewesen wäre, so daß er die Fregatte in seinem Kielwasser gerade hinter sich erhalten konnte, und dem Feuer ihrer Jagdkanonen weniger ausgesetzt war, als wenn seine Büge sich leichter nach einer oder der andern Seite gewendet hätten.

Raoul konnte sich bald von dieser Wahrheit überzeugen, denn sobald die Proserpina in den Wind kam, eröffneten ihre beiden Bugkanonen das Feuer von Neuem; doch vermochte keine von beiden ihr Ziel genau zu treffen, denn die Kugeln der einen flogen etwas zu weit windwärts, während die der andern auf der entgegengesetzten Seite fast eben denselben Fehler begingen. Auch konnte der junge Franzmann zu seiner großen Freude in Kurzem an diesen Schüssen bemerken, daß der Lugger trotz des erlittenen Schadens noch immer munter vorwärts trieb – eine Thatsache, von welcher sich auch die Engländer bald überzeugten und deßhalb das begonnene Feuer wieder einstellten.

So weit gingen die Sachen noch besser, als Raoul Anfangs zu hoffen berechtigt gewesen; doch wußte er recht gut, daß die Entscheidung erst jetzt herannahen mußte. Der Westwind pflegte um diese Tageszeit oft recht frisch zu wehen, und sollte er sich jetzt wirklich noch verstärken, so bedurfte Raoul aller seiner Segel, um einem so anerkannt gefährlichen Jagdschiffe, wie die Proserpina, zu entkommen. Wie lange sein Hauptmast oder dessen Raa noch aushalten würde, konnte er nicht wissen; da er aber vorderhand rasch vorwärts kam, so beschloß er, das Eisen zu schmieden, so lange es warm war, um wo möglich, noch ehe die Brise stärker würde, wenigstens so weit zu gelangen, daß er seine Segel ändern und die Spieren fischen könnte, ohne auf's Neue in den Bereich so rauher Gäste zu kommen, wie die waren, welche noch kaum zuvor sein gebrechliches Fahrzeug heimgesucht hatten.

Die hiezu geeigneten Vorkehrungen blieben in der Zwischenzeit nicht vernachlässigt. Auf die Masten wurden Matrosen geschickt, um die beiden Spieren, so gut es unter diesen Umständen geschehen konnte, zu stützen, und die Spannung der Taue wurde etwas aufgelockert, indem man den Lugger so viel abhielt, als mit Sicherheit geschehen konnte, ohne die Fregatte in den Stand zu setzen, ihre Leesegel aufzuhissen.

Es ist etwas so Aufregendes um eine Jagd, daß sich die Seeleute fast immer noch mehr Wind herbei wünschen, ohne zu bedenken, daß die Kraft, welche ihre eigene Eile vergrößert, auch die der andern Partie, und zwar oft in unverhältnißmäßig höherem Grade, beschleunigen muß. Für den Irrwisch wäre es weit vortheilhafter gewesen, wenn der Wind noch schwächer, als er wirklich blies, geweht hätte, denn er segelte verhältnißmäßig weit schneller bei leichten, als bei starken Brisen. Raoul wußte aus Ithuels Angabe, daß die Proserpina, besonders bei frischem Winde, ein ausgezeichneter Schnellsegler war, und dennoch schien es ihm, als ob sein Lugger nicht mit hinreichender Geschwindigkeit vorwärts käme, obwohl er gewiß sein durfte, daß, im Fall der Wind sich verstärkte, sein Feind genau mit derselben Geschwindigkeit, wie er selbst, ihm folgen würde.

Der junge Kapersmann sah übrigens seinen Wunsch in Kurzem erfüllt. Der Wind nahm um ein Bedeutendes zu, und als die beiden Schiffe in den Kanal von Corsika eintraten (wie die Meerenge zwischen dieser Insel und der von Elba genannt wird), sah sich die Fregatte genöthigt, ihre Bramsegel und zwei oder drei jener leichten, luftigen Stagsegel einzuziehen, welche damals auf Schiffen im Gebrauch waren.

Raoul hatte im Anfange gehofft, er würde nach Bastia gelangen können, das westlich von Elba und in gerader Linie mit dessen Südspitze gelegen ist; aber der Wind, der anfänglich etwas nordwestlich in den Kanal hereinwehte, wurde bald so stark, daß die benachbarten Berge seiner Strömung keine andere Richtung zu geben vermochten. Der Zephyr, wie die besonders im südlichen Italien während des Sommers vorherrschende Nachmittagsbrise von den Alten genannt wurde, ist selten reiner Westwind, sondern geht gewöhnlich etwas in's »Nordiren« über, wie die Seeleute zu sagen pflegen, und wenn man noch weiter an der Küste hinaufkommt, so findet man, daß er um das Vorgebirge von Corsika herum in west-nord-westlicher Richtung bläst. Dieß würde dem Lugger erlaubt haben, seinen Kurs nach einer tiefen Bucht zu lenken, an der die Stadt Biguglia liegt, wenn er nur, was sonst wohl möglich gewesen wäre, in den Wind, so zu sagen, hätte eingeklemmt werden können. Raoul versuchte es auch, doch wenige Minuten überzeugten ihn, daß er mit seinen verwundeten Spieren schonender umgehen und somit gegen die Mündung des Golo hinsteuern mußte.

Dieß ist ein ziemlich bedeutender Fluß, in welchen ein Schiff von leichter Wassertracht wohl einlaufen konnte, und da eine kleine Batterie nahe am Ankerplatze stand, so beschloß er, in jenem Hafen Schutz zu suchen und die erlittenen Beschädigungen daselbst wieder auszubessern. Darnach machte er dann seine Berechnungen, und die schneebedeckten Bergspitzen in der Nachbarschaft von Corte als Landmarken nehmend, befahl er, das Steuer des Luggers in dieser Richtung zu halten.

Am Bord der Proserpina fühlte man kaum weniger Interesse an dem Ausgange des Kampfes als auf dem Irrwische selber. Hatte die Mannschaft der Fregatte auch nichts zu fürchten, so blieb ihr doch etwas zu rächen, wozu noch der weitere Triumph kam, den gefährlichsten aller französischen Kaper gefangen genommen zu haben – ein Triumph, dessen sie sich schon für gewiß hielten. Eine kurze Zeit lang, während das Schiff der westlichen Spitze von Elba gegenüber stand, war es ernstlich zweifelhaft, ob man an ihr würde vorübersegeln können, obwohl der Lugger mit Windesschnelle, kaum eine Kabellänge von den Klippen entfernt, so dicht am Rande der Riffe und so nahe am Lande vorbeigesteuert war, wie die Fregatte ihm unmöglich zu folgen wagen konnte. Letztere hatte übrigens die Brise ohnedieß in größerer Entfernung vom Lande gefaßt als der Lugger, und konnte möglicherweise auf demselben Pfade, den sie bis jetzt verfolgte, um das Vorgebirge herumkommen. Durch den Wind zu wenden, hätte eben so viel geheißen, als die Jagd völlig aufzugeben, denn durch diese Bewegung wäre die Fregatte nordwärts und weitab in die See geführt worden, während der Irrwisch mit sieben Knoten Geschwindigkeit süd- und westwärts dahinglitt. Die ganze Breite des Kanals beträgt etwa dreißig Meilen, und sie hätte somit keine Zeit mehr gehabt, den verlornen Raum wieder zu gewinnen.

Diese Ungewißheit verursachte auf der Proserpina einen Augenblick fieberhafte Spannung, während das Schiff mit raschem Laufe der Landspitze näher kam. Alles hing davon ab, ob man, ohne zu wenden, würde vorbei kommen können. Alle Anzeichen verkündeten tiefes Wasser bis dicht an den Fuß der Riffe; aber in der Nähe gebirgiger Küsten hat man immer von geheimen Klippen Gefahr zu besorgen. Auch war das Vorgebirge vergleichungsweise niedrig, und dieß war eher ein Zeichen, daß man sich nicht allzu nahe heranwagen sollte.

Winchester lag in seiner Hängematte und fühlte erst jetzt das Brennen seiner Wunde; Griffin aber stand dem Kapitän zur Seite, und er, wie der dritte Lieutenant gingen voll Eifer auf alle Wünsche und Besorgnisse ihres Kommandirenden ein.

»Dort geht er mitten in die Riffe hinein!« rief Cuffe, während sie den Irrwisch beobachteten, der eben das Vorgebirge zu umsegeln versuchte. »Monsieur Yvard muß entschlossen sein, sein Fahrzeug eher zu Grunde gehen als sich selbst abfangen zu lassen. Er will, scheint's, mit ihm leben oder sterben.«

»Ich denke kaum, Kapitän Cuffe,« gab Griffin zur Antwort. »Die Küste fällt hier jäh gegen die See ab, und selbst die Proserpina würde da, wo jetzt der Lugger sich befindet, noch Wasser genug finden. Ich hoffe, Sir, wir werden nicht nöthig haben, zu wenden!«

»Ja, das ist freilich für einen Mann ohne Verantwortlichkeit recht leicht gesagt; wenn sich's aber um ein Kriegsgericht und dessen Strafe handelt, dann fürchte ich, daß letztere ganz auf meine Schultern fallen würde, falls Seiner Majestät Fregatte ihre Rippen auf dieser Küste zur Ruhe legen sollte. Nein, nein, Griffin, von jenem Punkte müssen wir eine gute Kabellänge entfernt bleiben, oder ich wende mit der Fregatte, und sollte dann Raoul Yvard auch nimmermehr gefangen werden.«

»Da seht, er rennt auf, bei St. Georg!« rief Yelverton, der jüngste Lieutenant, und in der That glaubte man einen Augenblick auf der Fregatte, der Irrwisch sei sitzen geblieben, da man das Wasser dicht unter seiner Leeseite über ein Riff hinschäumen sah.

Doch diese Meinung herrschte nur einen Moment, denn der kleine Lugger setzte seinen Kurs eben so schnell fort, als zuvor, und hielt ein paar Minuten später luvwärts ab, um seine Spieren etwas zu erleichtern, die bis jetzt so scharf als möglich angespannt worden waren, um desto sicherer an dem äußersten Ende desjenigen Theils der Küste, den man für gefährlich hielt, vorüber zu kommen.

Die Fregatte war volle zwei Meilen zurück; statt aber auch nur das Mindeste von ihrer Überlegenheit einzubüßen, wurde sie so nahe beim Wind erhalten, daß die Segel manchmal gekillt Die Segel killen heißt sie mit dem Winde parallel stellen, so daß er sie von keiner Seite fassen kann.
D. U.
zu werden anfingen. Dieß war für sie der sicherste Weg, insofern die See ruhig war und das Schiff auch nicht leewärts abfiel. Doch schaute die Fregatte, wie man zu sagen pflegt, noch immer kaum nach dem Punkte, an dem man nothwendig vorüber mußte, und da die Schiffe fast niemals besser »segeln« als sie »schauen« Unter diesem Schauen eines Schiffes versteht man dessen Fähigkeit, eine gegebene Richtung unverändert beizubehalten.
D. U.
, so herrschte am Bord der Proserpina, je mehr dieselbe mit dem Vorgebirge in gleiche Höhe gelangte, noch immer der höchst bedenkliche Zweifel, ob man auch um dasselbe würde herumsteuern können.

»Ich fürchte, Kapitän Cuffe, wir werden nicht genug Fahrwasser haben, um gut vorbei zu kommen, Sir,« bemerkte der rastlose Griffin; »mir scheint, das Schiff fällt heute auf eine unerklärliche Weise leewärts ab!«

»Es hat sich noch niemals besser gehalten, Griffin. Ich hoffe im Gegentheil, daß hier herum eine leichte Strömung von der Küste abführt, denn dieses Vorgebirge steht mit den Hochlanden von Corsika in gleicher Höhe. Ihr seht, wie das Wrack der Divina Providenza um die Bai herumschwimmt und abermals windwärts in die See getrieben wird.«

» Das könnte uns in der That von Nutzen sein! Auf den Puttingen ist Alles in Bereitschaft, Sir! – sollen wir einmal das Loth auswerfen?«

Cuffe gab seine Zustimmung, und das Loth fing an zu arbeiten. In diesem Augenblicke segelte das Schiff mit acht Knoten Geschwindigkeit, und der Mann auf den Rusten berichtete, daß er mit fünfzehn Faden noch keinen Grund finde. Dieß war gut, und noch zwei- oder dreimal folgte dieselbe Meldung.

Nun wurde Befehl gegeben, alle Leinen anzuziehen, die Brassen steif zu schwiggen und sämmtliche Segel zu beschlagen. Selbst die Ziehfallen wurden gespannt, damit die Segel fest wie Mauern stehen möchten. Der Augenblick der Prüfung war nahe; in fünf Minuten mußte die Sache entschieden sein.

»Laßt sie nur sich ein wenig schütteln und in den Wind verbeißen, Mr. Yelverton,« bemerkte Cuffe gegen den Offizier von der Wache; »wir müssen hier alle unsere Kräfte aufbieten, denn stehen wir einmal den Riffen gegenüber, so muß Alles wie mit einem Schlage geschehen und das Schiff scharf unter Kommando gehalten werden. – Da – rasch mit dem Steuer entgegen, und gebt's ihr nur recht voll!«

Dieses Manöver wurde zweimal wiederholt, und jedesmal kam die Fregatte um ihre volle Länge windwärts, obwohl sie natürlicherweise mehr als dreimal so viel in der Geschwindigkeit einbüßte.

Endlich kam der Augenblick der Entscheidung; tiefe Stille herrschte auf dem Schiff: in der Brust der Männer mischte sich mit dem Bewußtsein der Kraft bei den Einen das Gefühl der Besorgniß, bei den Andern das der Hoffnung. Aller Augen wanderten von den Segeln zu den Riffen, von diesen wieder zu den Segeln, und von beiden nach dem Kielwasser des Schiffes.

In solchen Momenten übertönt die Stimme des Lothsmannes jedes andere Geräusch. Seinen warnenden Ruf hört man mit athemloser Erwartung, während der Klang einer Sirenenstimme wahrscheinlich unbeachtet bleiben würde. Ein Mal um's andere wurde das Loth ausgeworfen, und Cuffe erhielt auf seine Fragen regelmäßig zur Antwort: »Kein Grund, Sir, mit fünfzehn Faden.«

Da mit einem Male drang von den großen Puttingen der Luvseite der bekannte Ruf herüber:

»Mit dem Zeichen sieben!«

Diese Kunde kam Kapitän Cuffe so unerwartet zu Ohren, daß er auf den Hackbord sprang, wo er Alles, was er zu sehen wünschte, im Gesicht hatte.

»Noch einmal gelothet, Sir!« rief er mit einer Stentorstimme; – »aber rasch, mein Junge! nur rasch!«

»J-e-e-tzt h-a-a-t's n-o-ch sechs!« hörte man alsbald, nachdem der Kapitän kaum zu sprechen aufgehört hatte.

»Rasch herum!« rief Cuffe. »Laßt Alles klariren, ihr Herren. Munter, munter, ihr Leute; macht vorwärts.«

»Und j-e-e-tzt vierthalb.«

»Halt! Was Teufel macht Ihr da auf dem Vorkastell, Sir? – Seid Ihr fertig da vorn?«

»Alles fertig, Sir –«

»Nieder mit dem Steuer – hart niedergehalten –«

»J-e-tzt h-a-a-b' ich neun!«

»Beigedreht! – auf mit dem Steuer. – Segel eingehalt da vorn – Brodwinner aufgegeit – alle Boleinen losgelassen. – So – gut so – gut. – Sie ist ja gleich einem Kreisel herumgefahren: aber, beim Jupiter, wir haben sie gefaßt, ihr Herren. – Boleinen wieder eingezogen. – Was gibt's Neues auf den Rusten?«

»Keinen Grund, Sir, mit fünfzehn Faden – und das Loth geht so gut, Sir, als es nur jemals heute gegangen.«

»So – Ihr habt rasch gearbeitet – fallt mir nicht ab – so ist's recht – laßt sie so, wie Ihr jetzt seid. – Nun, beim Himmel, Griffin, das nenn' ich einmal dem Scheermesser entronnen; dieses Vierthalb wäre uns fast gefährlich geworden, besonders in einem Theile der See, wo ein Felsen sich gar nichts daraus macht, sein Maul fünfzehn- bis zwanzigmal hinter einander nach einem Seemanne aufzusperren. Jetzt haben wir's aber hinter uns – da drüben tritt das Land ganz unter unserem Lee gegen Süden zurück, gerade wie Einer, der die Auszehrung hat. Ein ganzes Dutzend dieser Raoul Yvard's würde mich nicht zum zweiten Male in eine solche verteufelte Falle locken!«

»Ist die Gefahr einmal vorüber, Sir, so hört sie ja auf, Gefahr zu sein,« gab Griffin lachend zur Antwort. »Meint Ihr nicht auch, Kapitän Cuffe, daß wir die Fregatte etwa um einen halben Punkt erleichtern könnten? Das würde sie dann gerade recht stellen; auch der Lugger hält sich etwas südwärts, wahrscheinlich um seinen Hauptmast nicht zu gefährden. Ich weiß gewiß, daß ich Splitter davon auffliegen sah, als wir ihnen unsere Dosis von zweiundzwanzig Pillen hinüberschickten.«

»Ihr mögt vielleicht recht haben, Griffin. Laßt die Fregatte mit dem Steuer ein klein wenig aus dem Wind, Mr. Yelverton. Wenn Meister Yvard seinen gegenwärtigen Kurs noch eine Stunde länger beibehält, so wird er Biguglia zu weit windwärts bekommen; von Bastia war ohnehin von Anfang an nicht die Rede. Da ist aber ein Fluß, mit Namen Golo, in welchen er einlaufen könnte, und der mag wohl sein nächstes Ziel sein. Uebrigens werden uns die nächsten vier Stunden schon hinter das Geheimniß führen.«

Und in der That waren die vier nun folgenden Stunden von dem spannendsten Interesse. Der Wind wehte in einem Grade, den die Seeleute eine »Mütze voll« nennen – eine tüchtige, frische Brise aus Westen, die nach einer wochenlangen anhaltenden Hitze wie aus dem Rachen eines Glutofens hervorzublasen und die Gewalt mehrerer Zephyre in einen einzigen zusammengedrängt zu haben schien. Der Wind erreichte zwar noch keineswegs die Höhe eines Sturmes; auch dachte keine der beiden Partien an ein Reffen des Segelwerks, denn unter den obwaltenden Umständen wäre dieß auch keine Kleinigkeit gewesen; aber die Brise nöthigte doch die Proserpina, ihre Fock- und Kreuzbramsegel zu beschlagen, und ließ Raoul den Verlust seines Bratspillsegels immer leichter verschmerzen.

In dem Augenblicke, da er die Landspitze völlig hinter sich hatte und die Fregatte zum Vieren genöthigt glaubte, hatte Letzterer die Gelegenheit benützt, um sein beschädigtes Focksegel einzuhissen, loszumachen und statt dessen ein neues einzusetzen – eine Operation, welche genau vier Minuten Zeit wegnahm. Er würde denselben Versuch auch mit dem großen Segel wiederholt haben, aber der Zustand des Mastes ließ das Wagstück kaum als räthlich erscheinen, und überdieß konnten ihm die Löcher in der Leinwand statt der Reffbänder dienen, um die Wucht des Windes zu vermindern.

Während dieser vier Stunden mochten die beiden Schiffe in ihrer seitherigen Entfernung kaum um einen halben Knoten differiren, was, trotzdem daß sie in dieser Zeit mehr als dreißig Meilen Wegs zurücklegten – seinen Grund in der mißlichen Lage des Irrwisches hatte. Sie hatten sich mittlerweile der Küste von Corsika in raschem Laufe genähert; die schneebedeckten Gebirgsspitzen dieser Insel, obwohl noch manche gute Meile im Innern des Landes gelegen, schimmerten im Strahle der Nachmittagssonne vor ihren Blicken. Eine Stunde vor Sonnenuntergang war auch die Gestaltung der Küste deutlich sichtbar geworden, und Raoul hatte sich seine Landmarken gemerkt, wornach er den Fluß auffinden konnte, in welchen er einzulaufen beabsichtigte.

Die östliche Küste von Corsika leidet in eben demselben Grade Mangel an guten Buchten und Häfen, als die westliche deren im Ueberfluß besitzt, und unter gewöhnlichen Umständen würde man den Golo, nach welchem der Lugger jetzt seinen Kurs hinlenkte, wohl schwerlich als einen schützenden Ort aufgesucht haben. Raoul war aber schon einmal in seiner Mündung vor Anker gelegen, und hielt gerade diesen Punkt für den passendsten, um seinem Feinde zu entschlüpfen. Der Fluß war an seiner Ausmündung voller Untiefen, welche, wie Raoul richtig schloß, Kapitän Cuffe wohl zur Vorsicht nöthigen würden.

Je mehr der Abend hereintrat, desto mehr verminderte sich die Stärke des Windes, und von diesem Augenblicke an verlor die Mannschaft des Luggers all' ihre Besorgnisse. Die Spieren hatten bis jetzt Stand gehalten, und Raoul zauderte nun auch nicht länger, seinen zerschossenen Hauptmast mit neuer Raa und frischem Segel zu versehen: beide waren alsbald eingesetzt, und ohne Verzug wurde mit der Ausbesserung angefangen.

Der Lugger entwickelte nun eine Ueberlegenheit im Segeln, welche es nicht länger in Frage stellte, daß er von der Fregatte nicht mehr eingeholt werden würde, und Raoul dachte sogar daran, sich nordwärts zu wenden und in Bastia einzulaufen, wo er sich nötigenfalls einen neuen Hauptmast verschaffen konnte. Bei reiflicherem Nachdenken gab er jedoch diesen allzukühnen Plan wieder auf, und steuerte in unverändertem Kurs nach der Mündung des Golo.

Die Proserpina hatte den ganzen Tag über keine Flagge gezeigt: nur während der Zeit, da ihre Boote im Kampf begriffen waren und so lange sie selbst ein Feuer gegen den Lugger unterhielt, hatte sie hierin eine Ausnahme gemacht. Derselbe Fall war's auch mit dem Irrwisch; er hatte in demselben Augenblick, da er auf die Felucke zu feuern begann, die dreifarbige Wimpel aufgezogen, und sie so lange flattern lassen, als noch weitere Feindseligkeiten in Aussicht standen.

Als die beiden Fahrzeuge dem Lande näher kamen, sah man mehrere Küstenfahrer theils gegen die westliche Brise ankämpfen, theils vor dem Winde hersegeln, doch schienen sie alle dermaßen vor dem Lugger zu scheuen, daß sie ihm so viel wie möglich auszuweichen suchten. Dieser Umstand war unserem Helden vollkommen gleichgültig, da er wohl wußte, daß es doch wahrscheinlich lauter Landsleute von ihm oder wenigstens bloße Schmuggler waren, bei denen sich's kaum der Mühe verlohnt haben würde, sie aufzutreiben und gefangen zu nehmen, selbst wenn er die Zeit dazu gehabt hätte. Corsika war damals wieder in den Händen der Franzosen; die vorübergehende, unvollständige Besitznahme des Landes durch die Engländer hatte schon drei bis vier Jahre früher ihr Ende erreicht, und Raoul wußte gewiß, daß er überall auf der ganzen Insel eine freundliche Aufnahme und allen nur denkbaren Schutz finden würde.

Dieß war die Lage der Dinge, als die Proserpina in dem Augenblick, da sich der Lugger zum Einlaufen zwischen den Untiefen anschickte, eine höchst unerwartete Wendung machte, und alle ihre Aufmerksamkeit auf die Küstenfahrer zu richten schien, von denen drei oder vier so nahe bei ihr waren, daß zwei derselben, fast ohne einen Versuch zur Flucht zu machen, in ihre Hände fielen.

Raoul und seine Gefährten glaubten, die Engländer hätten diese unbedeutenden Fahrzeuge aus bloßer Rachsucht genommen, da es sonst bei Schiffen von der Größe der Proserpina nicht gewöhnlich war, die armen Fischersleute und Küstenfahrer zu belästigen. Der junge Mann schickte nur, was höchst natürlich war, einige Verwünschungen zu seinem Feinde hinüber: dann aber richteten sich alle Gedanken des kühnen Kapersmannes auf die verwickelte Beschaffenheit des Kanals, denn jetzt galt es, die Augen offen zu behalten und mit der äußersten Sorgfalt auf die Sicherheit seines eigenen Schiffes bedacht zu sein.

Eben als die Sonne untersank, warf der Irrwisch den Anker aus. Er befand sich jetzt so weit rückwärts von den Untiefen, daß er vor den Kanonen der Fregatte sicher war, jedoch ohne in der Mitte des Flusses zu liegen, da die Tiefe des Strombettes dieß schwerlich erlaubt haben würde, wiewohl er auch hier all' den Schutz fand, welchen Jahreszeit und Witterung verlangten.

Die Proserpina zeigte sich übrigens keineswegs geneigt, ihre Verfolgung aufzugeben, denn auch sie legte sich vor die Mündung des Stromes und warf ungefähr zwei Meilen seewärts vom Lugger ihre Buganker aus. In Betreff der Küstenschiffe schien sie andern Sinnes geworden zu sein, denn sie ließ beide nach kurzer Gefangenschaft wieder abziehen, wiewohl dieselben bei der jetzt eben einfallenden Windstille nicht im Stande waren, einen bedeutenden Abstand von ihr zu gewinnen, was erst mit dem Eintritte der Landbrise geschehen konnte.

In dieser Stellung schickten sich die beiden kriegführenden Partien an, die Nacht zu verbringen; auf beiden wurde für die Ankertaue die gewohnte Sorge getragen, die Verdecke gereinigt und in Ordnung gebracht, und der tägliche Dienst ging mit derselben Regelmäßigkeit vor sich, wie wenn sie in einem befreundeten Hafen gelegen wären.


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