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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Verteidigung eines Kriegstheaters.

Wir könnten uns vielleicht begnügen, von den wichtigsten Verteidigungsmitteln gesprochen zu haben, und die Art, wie sich dieselben an den ganzen Verteidigungsplan anknüpfen, erst im letzten Buch berühren, in dem wir von dem Kriegsplan sprechen werden; denn von diesem wird nicht nur jeder untergeordnete Plan von Angriff und Verteidigung ausgehen und in seinen Hauptlineamenten bestimmt werden, sondern in vielen Fällen wird der Kriegsplan selbst nichts anderes sein als der Entwurf des Angriffs oder der Verteidigung des Hauptkriegstheaters. Allein wir haben überhaupt nicht mit der Gesamtheit des Krieges beginnen können, obgleich im Kriege mehr als irgendwo die Teile durch das Ganze bestimmt und von dem Charakter desselben durchdrungen und wesentlich verändert werden, sondern wir haben uns erst der einzelnen Gegenstände, als abgesonderter Teile, deutlicher bewußt werden müssen. Ohne dieses Fortschreiten von dem Einfachen zum Zusammengesetzten würde uns eine Menge unbestimmter Vorstellungen überwältigt, und besonders würden die im Kriege so vielfältigen Wechselwirkungen unsere Vorstellungen beständig verwirrt haben. Wir wollen uns also dem Ganzen erst noch um einen Schritt nähern, d. h. wir wollen die Verteidigung eines Kriegstheaters an und für sich betrachten und den Faden suchen, an den sich die abgehandelten Gegenstände anreihen lassen.

Die Verteidigung ist nach unserer Vorstellungsweise nichts als die stärkere Form des Kampfes. Die Erhaltung der eigenen Streitkräfte und die Vernichtung der feindlichen, mit einem Wort: der Sieg ist der Gegenstand dieses Kampfes, aber freilich nicht dessen letzter Zweck.

Die Erhaltung des eigenen Staates und das Niederwerfen des feindlichen ist dieser Zweck, und wieder mit einem Wort: der beabsichtigte Friede, weil erst in ihm sich dieser Konflikt ausgleicht und in einem Gesamtresultat endigt.

Was ist aber der feindliche Staat in Beziehung auf den Krieg? Vor allen Dingen ist seine Streitkraft, dann seine Oberfläche wichtig, aber freilich auch noch vieles andere, was durch besondere Umstände eine vorherrschende Wichtigkeit bekommen kann; hierzu gehören vorzüglich äußere und innere politische Verhältnisse, die zuweilen mehr entscheiden als alles übrige. Aber wenn auch die Streitkraft und die Oberfläche des feindlichen Staates allein noch nicht der Staat selbst sind, und auch nicht alle Beziehungen damit erschöpft sind, die der Staat zum Kriege haben kann, so bleiben jene beiden Gegenstände doch stets die vorherrschenden, an Wichtigkeit allen andern Beziehungen meistens unendlich überlegen. Die Streitkraft soll die eigene Landesfläche des Staates beschützen oder die feindliche erobern; die Landesfläche hingegen ernährt und regeneriert unaufhörlich die Streitkraft. Beide hängen also voneinander ab, tragen sich gegenseitig, sind einander gleich wichtig. Aber es besteht doch in ihrem Wechselverhältnis ein Unterschied. Wenn die Streitkraft vernichtet, d. h. niedergeworfen, zu fernerem Widerstande unfähig gemacht ist, so folgt der Verlust des Landes von selbst; aber nicht umgekehrt folgt aus der Eroberung des Landes die Vernichtung der Streitkraft, denn diese kann das Land freiwillig räumen, um es nachher um so leichter zu erobern. Ja, nicht bloß das gänzliche Niederwerfen der Streitkraft entscheidet über das Schicksal des Landes, sondern schon jede beträchtliche Schwächung derselben führt regelmäßig einen Verlust an Land herbei; dagegen bewirkt nicht jeder beträchtliche Verlust an Land eine gleiche Schwächung der Streitkraft; für die Dauer freilich, aber nicht immer innerhalb des Zeitraumes, in welchen die Kriegsentscheidung fällt.

Hieraus folgt, daß die Erhaltung der eigenen und die Schwächung oder Vernichtung der feindlichen Streitkraft an Wichtigkeit dem Besitz des Landes vorangeht, also vom Feldherrn zunächst erstrebt werden soll. Der Besitz des Landes drängt sich erst dann als Zweck hervor, wenn jenes Mittel (Schwächung oder Vernichtung der feindlichen Streitkraft) ihn noch nicht bewirkt hat.

Wäre die ganze feindliche Streitkraft in einem Heer vereinigt und bestände der ganze Krieg aus einem Gefecht, so würde der Besitz des Landes von dem Ausgang dieses Gefechts abhängen; Vernichtung der feindlichen Streitkräfte, Eroberung des feindlichen Landes und Sicherung des eigenen würden daraus folgen und gewissermaßen identisch damit sein. Es fragt sich nun: was kann den Verteidiger zuerst bewegen, von dieser einfachsten Form des kriegerischen Aktes abzuweichen und seine Macht im Raum zu verteilen? Die Antwort ist: die Unzulänglichkeit des Sieges, den er mit vereinter Macht erringen könnte. Jeder Sieg hat seinen Wirkungskreis. Reicht dieser über den ganzen feindlichen Staat, also über seine ganze Streitkraft und Länderfläche hin, d. h. werden alle Teile in dieselbe Bewegung mit fortgerissen, welche wir dem Kern seiner Macht gegeben haben, so ist ein solcher Sieg alles, was wir brauchen, und eine Teilung unserer Macht würde ohne zureichenden Grund sein. Gibt es aber Teile der feindlichen Kriegsmacht und der beiderseitigen Länder, über die unser Sieg keine Gewalt mehr haben würde, so müssen wir auf diese Teile besonders Rücksicht nehmen, und da wir die Länderfläche nicht wie die Kriegsmacht in einem Punkt sammeln können, so müssen wir diese zum Angriff oder zur Verteidigung jener teilen.

Nur bei kleinen und abgerundeten Staaten ist eine solche Einheit der Kriegsmacht möglich, und wahrscheinlich, daß von dem Sieg über diese alles abhängt. Bei großen Ländermassen, die uns in weiter Ausdehnung berühren, oder bei einem Bündnis solcher Staaten gegen uns, die uns von mehreren Seiten umgeben, ist eine solche Einheit praktisch ganz unmöglich. Hier werden also notwendig Teilungen der Macht stattfinden müssen und damit verschiedene Kriegstheater.

Der Wirkungskreis eines Sieges wird natürlich von der Größe desselben, und diese von der Masse der besiegten Truppen abhängen. Also gegen den Teil des Landes, in welchem die meisten feindlichen Streitkräfte beisammen sind, wird derjenige Stoß geschehen können, dessen glückliche Wirkungen am weitesten reichen, und wir werden dieses Erfolges um so gewisser sein, je größer die Masse der eigenen Streitkräfte ist, die wir zu diesem Stoß verwenden. Diese natürliche Vorstellungsreihe führt uns auf ein Bild, in welchem wir sie klarer feststellen können: es ist die Natur und Wirkung des Schwerpunktes in der Mechanik.

So wie sich der Schwerpunkt immer da findet, wo die meiste Masse beisammen ist, und wie jeder Stoß gegen den Schwerpunkt der Last am wirksamsten ist, wie ferner der stärkste Stoß mit dem Schwerpunkt der Kraft erhalten wird, so ist es auch im Kriege. Die Streitkräfte jedes Kriegführenden, eines einzelnen Staates wie eines Bündnisses von Staaten haben eine gewisse Einheit und durch diese Zusammenhang; wo aber Zusammenhang ist, da treten die Analogien des Schwerpunktes ein. Es gibt also in diesen Streitkräften gewisse Schwerpunkte, deren Bewegung und Richtung über die andern Punkte entscheiden, und diese Schwerpunkte finden sich da, wo die meisten Streitkräfte beisammen sind. So wie aber in der toten Körperwelt die Wirkung gegen den Schwerpunkt in dem Zusammenhang der Teile ihr Maß und ihre Grenze hat, so ist es auch im Kriege, und es kann hier wie dort ein Stoß leicht größer werden, als der Widerstand verträgt, und damit ein Luftstoß, eine Kraftverschwendung entstehen.

Wie verschieden ist der Zusammenhang des Heeres unter einer Fahne, welches durch den persönlichen Befehl eines Feldherrn in die Schlacht geführt wird, und der einer verbündeten Kriegsmacht, die auf 50 oder 100 Meilen ausgedehnt oder gar nach ganz verschiedenen Seiten hin basiert ist! Dort ist der Zusammenhang als der stärkste, die Einheit als die nächste zu betrachten; hier ist die Einheit sehr entfernt, oft nur noch in der gemeinschaftlichen politischen Absicht, und da auch nur dürftig und unvollkommen vorhanden, und der Zusammenhang der Teile meistens sehr schwach, oft ganz illusorisch.

Gebietet also von der einen Seite die Gewalt, welche wir dem Stoß zu geben wünschen, die größte Vereinigung der Macht, so müssen wir von der andern Seite jede Übertreibung als einen wirklichen Nachteil fürchten, weil sie eine Kraftverschwendung mit sich führt, und diese wieder den Mangel an Kraft auf andern Punkten.

Diese Centra gravitatis in der feindlichen Kriegsmacht zu unterscheiden, ihre Wirkungskreise zu erkennen, ist also ein Hauptakt des strategischen Urteils. Man wird sich nämlich jedesmal fragen müssen, welche Wirkungen das Vorgehen und Zurückgehen des einen Teils der gegenseitigen Streitkräfte auf die übrigen hervorbringen wird.

Wir glauben hiermit keineswegs ein neues Verfahren erfunden zu haben, sondern wir haben nur dem Verfahren aller Zeiten und Feldherren Vorstellungen zugrunde gelegt, die den Zusammenhang desselben mit der Natur der Dinge klarer machen sollen.

Wie diese Vorstellung von dem Schwerpunkt der feindlichen Macht bei dem ganzen Kriegsplan wirksam wird, werden wir im letzten Buche betrachten, denn dahin gehört der Gegenstand überhaupt, und wir haben ihn von daher nur entlehnt, um keine Lücke in der Vorstellungsreihe zu lassen. Wir haben in dieser Betrachtung gesehen, was die Verteilung der Streitkräfte überhaupt bedingt. Es sind im Grunde zwei einander entgegentretende Interessen; das eine, der Besitz des Landes, strebt, die Streitkräfte zu verteilen; das andere, der Stoß gegen den Schwerpunkt der feindlichen Macht, vereinigt sie wieder bis zu einem gewissen Grade.

So entstehen die Kriegstheater oder einzelnen Heergebiete. Sie sind nämlich solche Abgrenzungen der Oberfläche des Landes und der auf ihr verteilten Streitkraft, innerhalb welcher jede von der Hauptmacht dieses Gebietes gegebene Entscheidung sich unmittelbar über das Ganze ausdehnt und dieses in ihre Richtung mit fortreißt. Wir sagen unmittelbar, denn einen mehr oder weniger entfernten Einfluß muß natürlich die Entscheidung eines Kriegstheaters auch auf die ihm benachbarten haben.

Daß wir auch hier wie überall in unseren Definitionen nur die Mittelpunkte gewisser Vorstellungsgebiete treffen, nicht durch scharfe Linien die Grenzen umziehen wollen und können, müssen wir ausdrücklich wieder erinnern, obgleich es schon in der Natur der Sache liegt.

Wir glauben also, daß ein Kriegstheater, wie groß oder klein es auch sei, mit seiner Streitkraft, welchen Umfang diese auch habe, eine solche Einheit darstellt, die sich auf einen Schwerpunkt zurückführen läßt. In diesem Schwerpunkt soll die Entscheidung gegeben werden; und hier Sieger zu sein heißt im weitesten Sinne das Kriegstheater verteidigen.


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