Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Rückzug in das Innere des Landes.

Wir haben den freiwilligen Rückzug in das Innere des Landes als eine eigene, mittelbare Widerstandsart angesehen, bei welcher der Feind nicht sowohl durch das Schwert als durch seine eigenen Anstrengungen zugrunde gehen soll. Es wird also hierbei entweder gar keine Hauptschlacht vorausgesetzt, oder der Zeitpunkt derselben so spät angenommen, daß die feindlichen Kräfte schon beträchtlich geschwächt sind.

Jeder im Angriff Vorschreitende wird in seiner Streitkraft durch dieses Vorschreiten geschwächt; dies werden wir im siebenten Buche ausführlicher betrachten; hier müssen wir das Resultat vorausnehmen, was wir um so eher können, als in der Kriegsgeschichte jeder Feldzug, in welchem ein merkliches Vorschreiten stattgefunden hat, dies deutlich zeigt.

Diese Schwächung im Vorgehen wird gesteigert, wenn der Gegner unbesiegt ist, sich mit einer ungebrochenen, frischen Streitkraft freiwillig zurückzieht, aber durch einen beständigen, abgemessenen Widerstand jeden Schritt Landes mit Blut erkaufen läßt, so daß das Vorschreiten ein beständiges Vordringen und nicht ein bloßes Verfolgen ist.

Von der andern Seite werden die Verluste, welche ein zurückgehender Verteidiger erleidet, viel größer sein, wenn er nach einer verlorenen Schlacht zurückgeht, als wenn er es freiwillig tut. Denn wäre er auch imstande, dem Verfolgenden den täglichen Widerstand zu leisten, den wir bei einem freiwilligen Rückzug erwarten, so würde er dabei wenigstens dieselben Verluste erleiden, also der Verlust in der Schlacht noch hinzukommen. Aber welche Voraussetzung gegen die Natur der Sache würde das sein! Das beste Heer von der Welt wird, wenn es nach einer verlorenen Schlacht genötigt ist, sich tief ins Innere des Landes zurückzuziehen, dabei unverhältnismäßige Verluste erleiden, und ist der Feind beträchtlich überlegen, wie wir es in den Fällen, von denen wir sprechen, voraussetzen, dringt er mit großer Energie nach, wie es in den neuesten Kriegen fast immer geschehen ist, so wird die höchste Wahrscheinlichkeit einer wirklichen Flucht entstehen, durch welche gewöhnlich die Streitkraft ganz zugrunde gerichtet wird.

Ein abgemessener täglicher Widerstand, d. h. einer, der jedesmal nur so lange dauert, als das Gleichgewicht des Kampfes noch schwebend erhalten werden kann, und in welchem wir uns vor der Niederlage sichern, indem wir den Boden zur rechten Zeit aufgeben, um den wir uns schlugen, ein solcher Kampf wird den Angreifenden wenigstens ebenso viele Menschen kosten als den Verteidiger, denn was dieser beim Abzuge hin und wieder unvermeidlicherweise an Gefangenen verliert, wird der andere im Feuer mehr einbüßen, da er beständig gegen die Vorteile des Bodens ankämpfen muß. Nun gehen zwar dem Zurückgehenden die Schwerverwundeten ganz verloren, allein diese gehen dem Angreifenden vorderhand gleichfalls ab, da sie gewöhnlich mehrere Monate in den Hospitälern bleiben.

Das Resultat wird also sein, daß beide Heere sich ungefähr in gleichem Grade in dieser beständigen Reibung aneinander verzehren.

Ganz anders ist es beim Verfolgen eines geschlagenen Heeres. Hier machen die in der Schlacht verlorene Streitkraft, die zerstörte Ordnung, der gebrochene Mut, die Sorge um den Rückzug bei dem Zurückgehenden einen solchen Widerstand sehr schwer, in manchen Fällen unmöglich; und der Verfolger, der im ersten Fall höchst behutsam, ja zaghaft, wie ein Blinder immer um sich her tastend, vorwärtsschreitet, geht im zweiten Fall mit dem festen Schritt eines Siegers, mit dem Übermut eines Glücklichen, mit der Sicherheit eines Halbgottes immer drauf, und je dreister er draufgeht, desto mehr beschleunigt er die Dinge in der Richtung, welche sie einmal genommen haben, weil hier das rechte Feld der moralischen Kräfte ist, die sich steigern und vervielfältigen, ohne an die engen Zahlen und Maße der physischen Welt gebunden zu sein.

Es ist also wohl klar, wie verschieden das Verhältnis beider Heere sein wird, je nachdem sie auf die eine oder die andere Weise den Punkt erreichen, der als das Ende der Bahn des Angreifenden betrachtet werden kann.

Dies ist bloß das Resultat der gegenseitigen Zerstörung; an dieses Resultat knüpft sich nun die Schwächung an, welche der Vorschreitende noch sonst erleidet, und worüber wir, wie schon gesagt, auf das siebente Buch verweisen; auf der andern Seite aber die Verstärkung, welche der Zurückgehende in der großen Mehrheit der Fälle durch diejenigen Streitkräfte erhält, die später herbeikommen, sei es durch äußere Hilfe oder durch nachhaltige Anstrengungen.

Endlich besteht zwischen dem Zurückgehenden und dem Vorschreitenden ein solches Mißverhältnis in den Verpflegungsmitteln, daß der erstere nicht selten im Überfluß lebt, wenn der andere im Mangel verkommt.

Der Zurückgehende hat die Mittel, überall Vorräte aufzuhäufen, denen er entgegengeht, während der Verfolgende alles nachfahren lassen muß, was, so lange er in Bewegung bleibt, auch bei der kürzesten Verbindungslinie schwierig ist und deshalb gleich von vornherein Mangel erzeugt.

Alles, was die Gegend selbst darbietet, wird von dem Zurückgehenden zuerst benutzt und meistens erschöpft. Es bleiben nur ausgezehrte Dörfer und Städte, abgemähte und zertretene Felder, ausgeschöpfte Brunnen, getrübte Bäche zurück.

Das vorgehende Heer kämpft also nicht selten vom ersten Tag an mit den dringendsten Bedürfnissen. Auf feindliche Vorräte kann es dabei gar nicht rechnen, es wäre bloßer Zufall oder ein unverzeihlicher Fehler des Gegners, wenn ihm hin und wieder einer in die Hände fiele.

So ist es denn nicht zweifelhaft, daß bei beträchtlichen Dimensionen und nicht zu ungleicher Macht der Kriegführenden auf diese Weise ein Verhältnis der Streitkräfte entstehen wird, welches dem Verteidiger unendlich mehr Wahrscheinlichkeit des Erfolgs verspricht, als er bei einer Entscheidung an der Grenze gehabt hätte. Aber nicht bloß die Wahrscheinlichkeit, zu siegen, wird durch das veränderte Machtverhältnis größer, sondern auch durch die veränderte Lage der Erfolg des Sieges. Welch ein Unterschied besteht zwischen einer verlorenen Schlacht an der eigenen Grenze und einer mitten im feindlichen Lande! Ja, der Zustand des Angreifenden ist am Ende seiner Bahn oft von der Art, daß selbst eine gewonnene Schlacht ihn zum Rückzug bewegen kann, weil er weder Stoßkraft genug hat, seinen Sieg zu vervollständigen und zu benutzen, noch imstande ist, die verlorenen Kräfte zu ersetzen.

Es ist also ein gewaltiger Unterschied, ob die Entscheidung am Anfang oder am Ende des Angriffs gegeben wird.

Den großen Vorteilen dieser Verteidigungsart stehen zwei Gegengewichte zur Seite; das erste ist der Verlust, welchen das Land durch das Vordringen des Feindes erleidet, das andere der moralische Eindruck.

Das Land vor Verlust zu bewahren, kann zwar niemals als ein Zweck der gesamten Verteidigung angesehen werden, sondern dieser Zweck ist ein vorteilhafter Friede. Diesen so sicher als möglich zu erhalten, ist das Bestreben, und dazu muß kein augenblickliches Opfer zu groß erachtet werden. Allein jener Verlust, wenn er auch nicht entscheiden soll, muß doch in die Wagschale gelegt werden, denn er ist immer ein Gegenstand unseres Interesses.

Dieser Verlust trifft nicht unmittelbar unsere Streitkraft, sondern wirkt nur mit einem mehr oder weniger großen Umwege auf dieselbe, während der Rückzug selbst die Streitkraft unmittelbar verstärkt. Es ist also schwer, diesen Vorteil und jenen Nachteil aneinander abzumessen; es sind Dinge verschiedener Art, die keinen nahen gemeinschaftlichen Wirkungspunkt haben. Wir müssen also dabei stehen bleiben, zu sagen, daß dieser Verlust größer ist, wenn eine fruchtbare und bevölkerte Provinz und große Handelsstädte aufgeopfert werden sollen, daß er aber am größten ist, wenn ganz- oder halbfertige Streitmittel zugleich mit verloren gehen.

Das zweite Gegengewicht ist der moralische Eindruck. Es gibt Fälle, in denen sich der Feldherr über ihn hinwegsetzen, seinen Plan ruhig verfolgen und sich den Nachteilen aussetzen muß, welche ein kurzsichtiger Kleinmut hervorbringt; aber darum ist dieser Eindruck doch kein Phantom, welches Geringschätzung verdient. Er ist nicht einer Kraft zu vergleichen, die auf einen Punkt wirkt, sondern einer, die mit Blitzesschnelle alle Fibern durchläuft und alle Tätigkeiten lähmt, die in Volk und Heer wirksam sein sollen. Es gibt wohl Fälle, in denen der Rückzug in das Innere des Landes von Volk und Heer schnell verstanden wird und das Vertrauen und die Erwartungen sogar steigern könnte, aber sie sind sehr selten. Gewöhnlich wird Volk und Heer nicht einmal unterscheiden, ob es eine freie Bewegung oder ein Zurückstolpern ist, und noch weniger, ob der Plan aus Klugheit in Aussicht sicherer Vorteile oder aus Furcht vor dem feindlichen Schwert befolgt wird. Das Volk wird Mitleiden und Unwillen fühlen, wenn es das Schicksal der aufgeopferten Provinzen sieht, das Heer wird leicht sein Vertrauen zu seinem Führer oder gar zu sich selbst verlieren, und die beständigen Gefechte der Nachhut während des Rückzuges werden seine Befürchtungen stets aufs neue bestätigen. Über diese Folgen des Rückzugs darf man sich nicht täuschen. Und allerdings ist es – an und für sich betrachtet – natürlicher, einfacher, edler, dem moralischen Dasein des Volkes entsprechender, offen in die Schranken zu treten, damit der Angreifende die Grenzen eines Volkes nicht überschreiten könne, ohne seinem Genius zu begegnen, der ihm blutige Rechenschaft abfordert.

Dies sind die Vorteile und Nachteile einer solchen Verteidigungsart; jetzt ein paar Worte über die Bedingungen und die dieselben begünstigenden Umstände.

Eine weite Oberfläche oder wenigstens eine lange Rückzugslinie ist die Haupt- und Grundbedingung; denn ein paar Märsche vorwärts werden den Feind natürlich nicht merklich schwächen. Bonapartes Zentrum im Jahre 1812 war bei Witebsk 250 000 Mann, bei Smolensk 182 000 Mann stark, und erst bei Borodino war es auf 130 000 heruntergekommen, d. h. mit dem russischen Zentrum ins Gleichgewicht der Zahl getreten. Borodino ist 90 Meilen von der Grenze; aber erst bei Moskau war ein entschiedenes Übergewicht für die Russen eingetreten, das den Umschlag von selbst so sicher herbeiführte, daß der französische Sieg bei Malo-Jaroslawetz nichts Wesentliches daran änderte.

Solche Dimensionen wie Rußland hat kein anderes europäisches Reich, und bei den wenigsten ist eine Rückzugslinie von 100 Meilen denkbar. Allein eine Macht wie die französische 1812 wird auch nicht leicht in andern Verhältnissen vorkommen, und noch weniger ein solches Übergewicht, wie es im Anfang des Feldzuges zwischen beiden Teilen bestand, wo die Franzosen mehr als das Doppelte der Zahl und außerdem ein entschiedenes moralisches Übergewicht hatten. Was also hier nur nach 100 Meilen erreicht wurde, kann in andern Fällen vielleicht mit 50 oder 30 erreicht werden.

Zu den begünstigenden Umständen gehören:

  1. eine wenig bebaute Gegend,
  2. ein treues, kriegerisches Volk,
  3. die schlechte Jahreszeit.

Alle diese Dinge machen die Erhaltung des feindlichen Heeres schwieriger, nötigen zu großen Zufuhren, vielen Entsendungen, beschwerlichem Dienst, verursachen Krankheiten und erleichtern dem Verteidiger die Flankenwirkung.

Endlich müssen wir noch von der absoluten Masse der Streitkräfte sprechen, welche darauf Einfluß hat.

An und für sich liegt es in der Natur der Dinge, daß, abgesehen von dem Verhältnis der gegenseitigen Streitkräfte, eine kleine Streitkraft überhaupt sich früher erschöpft als eine größere, und daß ihre Bahn also nicht so lang, der Umfang ihres Kriegstheaters nicht so groß sein kann. Es findet also gewissermaßen ein konstantes Verhältnis zwischen der absoluten Größe der Macht und denjenigen Räumen statt, welche diese Macht einnehmen kann. Es kann nicht die Rede davon sein, dies Verhältnis durch eine Zahl auszudrücken, auch wird es immer durch andere Umstände modifiziert werden, es genügt uns aber, zu sagen, daß die Dinge im tiefsten Grunde ihres Wesens diesen Zusammenhang haben. Man kann mit 500 000 Mann auf Moskau ziehen, aber nicht mit 50 000, wenn das Verhältnis zur feindlichen Macht im letzten Fall auch viel günstiger wäre als im ersten.

Nehmen wir nun dieses Verhältnis der absoluten Macht zum Raum in zwei verschiedenen Fällen als dasselbe an, so ist nicht zu bezweifeln, daß die Wirksamkeit unseres Rückzuges in bezug auf die Schwächung des Feindes mit den Massen steigen wird.

1. Unterhalt und Unterkommen des Feindes werden schwieriger; denn wenn auch die Räume, welche die Heere einnehmen, in demselben Verhältnis wachsen sollten wie die Heere selbst, so wird doch der Unterhalt niemals allein aus diesem Raum bestritten, und alles, was nachgeführt werden muß, unterliegt größeren Verlusten; auch zum Unterkommen wird niemals der ganze Raum benutzt, sondern nur ein sehr kleiner Teil desselben, der nicht verhältnismäßig mit den Massen wächst.

2. Das Vordringen wird in demselben Maß langsamer, als die Massen größer werden, folglich dauert die Zeit, bis die Angriffsbahn durchlaufen ist, länger, und die Summe der täglich vorkommenden Verluste wird größer.

Dreitausend Mann, welche zweitausend vor sich hertreiben, werden ihnen in gewöhnlicher Gegend nicht erlauben, sich in kleinen Märschen von 1, 2, höchstens 3 Meilen zurückzuziehen, und von Zeit zu Zeit einige Tage Halt zu machen. Sie erreichen, sie angreifen und vertreiben ist das Werk von einigen Stunden. Multiplizieren wir aber diese Massen mit der Zahl 100, so sieht es anders aus. Wirkungen, zu denen im ersten Fall wenige Stunden hinreichten, erfordern nun vielleicht einen ganzen Tag oder auch zwei. Beide Teile können nun nicht mehr auf einem Punkt beisammenbleiben, damit wächst also die Mannigfaltigkeit aller Bewegungen und Kombinationen, und folglich die Zeit, welche sie erfordern. Der Angreifende aber ist hierbei in dem Nachteil, daß er wegen der schwierigeren Verpflegung sich noch mehr ausbreiten muß, als der Zurückgehende, folglich immer in einiger Gefahr ist, daß dieser mit überlegener Macht auf einen Punkt falle, wie die Russen bei Witebsk es wollten.

3. Je größer die Massen werden, um so größer wird für jeden einzelnen der Kraftaufwand, den der tägliche strategische und taktische Dienst erfordert. Hunderttausend Mann, die täglich einmal ab- und aufmarschieren, jetzt Halt machen, dann wieder in Marsch gesetzt werden, jetzt zu den Waffen greifen, dann wieder kochen oder Lebensmittel empfangen, hunderttausend Mann, die nicht eher ins Lager rücken sollen, als bis von allen Seiten die nötigen Meldungen eingegangen sind – diese brauchen zu allen diesen Nebenanstrengungen des eigentlichen Zuges in der Regel doppelt so viel Zeit als 50 000 brauchen würden, der Tag aber hat für beide nur 24 Stunden. Wie sehr verschieden aber nach der Masse der Truppen die Zeit und Anstrengung eines Marsches ist, haben wir im neunten Kapitel des vorigen Buches gezeigt. Diese Anstrengungen teilt nun freilich der Zurückgehende mit dem Vorrückenden, aber sie sind bei dem letzteren merklich größer:

  1. weil seine Massen größer sind, wegen der Überlegenheit, die wir voraussetzen,
  2. weil der Verteidiger, da er immer den Boden räumt, mit diesem Opfer sich das Recht erkauft, immer der Bestimmende zu bleiben, stets dem andern das Gesetz zu geben. Er macht seinen Plan vorher, und in den meisten Fällen wird dieser durch nichts gestört, der Vorschreitende aber kann seinen Plan nur nach der feindlichen Aufstellung machen, die er immer erst zu erforschen suchen muß.
    Wir müssen aber daran erinnern, daß hier von dem Verfolgen des Gegners die Rede ist, der keine Niederlage erlitten, nicht einmal eine Schlacht verloren hat, damit man nicht glaube, wir widersprächen unserm zwölften Kapitel des vierten Buches.
    Jenes Vorrecht aber, dem Feinde das Gesetz zu geben, macht für Zeit- und Kraftgewinn und für mancherlei Nebenvorteile einen Unterschied, der auf die Dauer sehr wesentlich wird.
  3. Weil der Zurückgehende von der einen Seite alles tut, seinen Rückweg zu erleichtern, Wege und Brücken ausbessern läßt, die bequemsten Lagerplätze aussucht u. s. w. und von der andern Seite wieder ebensoviel tut, dem Nachfolgenden das Vorgehen zu erschweren, indem er die Brücken zerstört, schon durch seinen bloßen Marsch schlechte Wege noch mehr verdirbt, dem Feinde die besten Lager- und Wasserplätze entzieht, indem er sie selbst einnimmt u. s. w.

Endlich müssen wir noch als einen besonders begünstigenden Umstand den Volkskrieg anführen. Dieser bedarf hier um so weniger einer weiteren Auseinandersetzung, als wir von demselben noch in einem besonderen Kapitel sprechen werden.

Wir haben bisher von den Vorteilen gesprochen, die ein solcher Rückzug gewährt, von den Opfern, die er fordert, von den Bedingungen, die vorhanden sein müssen; jetzt wollen wir noch etwas über die Ausführung sagen.

Die erste Frage, welche wir aufzuwerfen haben, ist die hinsichtlich der Richtung des Rückzuges.

Er soll in das Innere des Landes geschehen, also womöglich auf einen Punkt führen, wo der Feind auf beiden Seiten von unseren Provinzen umgeben ist; dann wird er ihrer Einwirkung ausgesetzt sein, und wir werden nicht in Gefahr geraten, von der Hauptmasse unseres Landes abgedrängt zu werden, was geschehen könnte, wenn wir eine Rückzugslinie wählten, die zu nahe an der Grenze hinliefe, wie die Russen im Jahre 1812, wenn sie südlich statt östlich hätten zurückgehen wollen.

Dies ist die Bedingung, welche in dem Zweck der Maßregel selbst liegt. Welcher Punkt des Landes der beste ist, wie weit sich damit die Absicht verbinden läßt, die Hauptstadt oder einen andern wichtigen Punkt unmittelbar zu decken oder den Feind von der Richtung dahin abzubringen, hangt von den Verhältnissen ab.

Hätten die Russen 1812 den Rückzug vorher überlegt gehabt und also vollkommen planmäßig gemacht, so hätten sie füglich von Smolensk die Richtung auf Kaluga nehmen können, die sie erst von Moskau aus einschlugen; es ist sehr möglich, daß unter diesen Umständen Moskau ganz verschont geblieben wäre.

Die Franzosen waren nämlich bei Borodino etwa 130 000 Mann stark; es ist kein Grund zur Annahme vorhanden, daß sie, wenn diese Schlacht von den Russen auf dem halben Wege von Kaluga angenommen worden wäre, dort hätten stärker sein sollen; wieviel hätten sie aber von dieser Macht entbehren und gegen Moskau entsenden können? Offenbar sehr wenig: mit wenig Truppen aber kann man nicht auf 50 Meilen (dies ist die Entfernung von Smolensk nach Moskau) eine Entsendung gegen einen Ort wie Moskau machen.

Gesetzt, Bonaparte hätte bei Smolensk, wo er nach den Gefechten etwa noch 160 000 Mann stark war, geglaubt, eine Entsendung auf Moskau wagen zu dürfen, ehe noch eine Hauptschlacht erfolgt war, und dazu 40 000 Mann genommen, während 120 000 Mann der russischen Hauptarmee gegenüber geblieben wären, so würden diese 120 000 Mann in der Schlacht etwa nur 90 000 betragen haben, also um 40 000 schwächer gewesen sein als bei Borodino; die Russen würden also ein Übergewicht von 30 000 Mann gehabt haben. Wenn man den Verlauf der Schlacht von Borodino als Maßstab nimmt, so ist wohl zu glauben, daß sie damit Sieger geblieben wären. In jedem Fall wäre das Verhältnis ein für sie günstigeres gewesen, als bei Borodino. Aber der Rückzug der Russen war kein Werk überdachten Planes; man ging so weit zurück, weil man, so oft man die Schlacht annehmen wollte, sich noch immer nicht stark genug für die Hauptschlacht fand; alle Erhaltungs- und Verstärkungsmittel waren auf die Straße von Moskau nach Smolensk dirigiert, und es konnte in Smolensk niemandem einfallen, diese Straße zu verlassen. Außerdem aber würde ein Sieg zwischen Smolensk und Kaluga in den Augen der Russen das Unrecht niemals gutgemacht haben, Moskau nicht zu decken und es einer möglichen Besitznahme preiszugeben.

Noch gewisser hätte Bonaparte 1813 Paris vor einem Anfall schützen können, wenn er seine Aufstellung merklich seitwärts, etwa hinter dem Kanal von Bourgogne, genommen und in Paris nur einige Tausend Mann mit seinen zahlreichen Nationalgarden gelassen hätte. Niemals hätten die Verbündeten den Mut gehabt, ein Korps von 50 000 bis 60 000 Mann auf Paris gehen zu lassen, während sie Bonaparte mit 100 000 Mann bei Auxerre wußten. Umgekehrt würde wohl niemand einem verbündeten Heere in Bonapartes Lage geraten haben, den Weg zur eigenen Hauptstadt zu verlassen, wenn er der Gegner war. Mit solcher Überlegenheit würde er nicht einen Augenblick angestanden haben, auf die Hauptstadt loszugehen. So verschieden wird sogar unter denselben Umständen, aber bei andern moralischen Verhältnissen, das Resultat sein.

Wir wollen nur noch bemerken, daß bei einer solchen Seitenrichtung in jedem Fall die Hauptstadt oder der Ort, welchen man dadurch außer Spiel bringen will, einige Widerstandsfähigkeit haben muß, um nicht von jedem Streifzuge besetzt und gebrandschatzt zu werden, und dann diesen Gegenstand hier fallen lassen, weil wir in der Folge bei dem Kriegsplan doch noch einmal darauf zurückkommen werden.

Aber noch eine andere Eigentümlichkeit in der Richtung einer solchen Rückzugslinie müssen wir betrachten, nämlich die einer plötzlichen Wendung. Nachdem die Russen bis Moskau dieselbe Richtung behalten hatten, verließen sie diese, die sie nach Wladimir geführt haben würde, gingen zuerst in der auf Riazan weiter und dann in die von Kaluga über. Hätten sie ihren Rückzug fortsetzen müssen, so konnte solcher füglich in dieser neuen Richtung geschehen, welche sie nach Kiew geführt haben würde, also der feindlichen Grenze wieder viel näher. Daß die Franzosen, wenn sie den Russen in dieser Zeit auch noch merklich überlegen gewesen wären, ihre Verbindungslinie über Moskau nicht hätten behaupten können, ist wohl an sich klar; sie hätten nicht allein Moskau, sondern höchstwahrscheinlich auch Smolensk aufgeben, also die mühsam gemachten Eroberungen wieder verlassen und sich mit dem Kriegstheater diesseits der Beresina begnügen müssen.

Nun wäre freilich das russische Heer in denselben Nachteil geraten, dem es sich ausgesetzt hätte, wenn es gleich anfangs die Richtung auf Kiew hätte einschlagen wollen, nämlich von der Hauptmasse seiner Staaten getrennt zu sein; aber dieser Nachteil wurde nun fast illusorisch, denn in welcher ganz andern Verfassung würde das feindliche Heer bei Kiew angekommen sein, wenn es nicht den Umweg über Moskau gemacht hätte.

Es ist klar, daß eine solche plötzliche Wendung der Rückzugslinie, die bei großen Dimensionen sehr tunlich ist, eminente Vorteile gewährt:

  1. macht sie es dem Gegner (dem Vordringenden) unmöglich, seine alten Verbindungslinien beizubehalten; die Einrichtung neuer ist aber stets eine schwierige Sache, wozu noch kommt, daß er seine Richtung nach und nach verändert, also wahrscheinlich mehr als einmal eine neue Verbindungslinie suchen muß;
  2. nähern sich beide Teile auf diese Weise wieder der Grenze; der Angreifende deckt seine gemachten Eroberungen nicht mehr durch seine Stellung und muß sie höchstwahrscheinlich aufgeben.

Rußland mit seinen ungeheuren Dimensionen ist ein Reich, in dem sich zwei Heere auf diese Weise förmlich Zweck jagen können.

Aber auch bei kleineren Länderflächen ist eine solche Wendung der Rückzugslinie möglich, wenn die übrigen Umstände sie begünstigen, was nur aus allen Verhältnissen des einzelnen Falles entnommen werden kann.

Ist die Richtung einmal bestimmt, in welcher der Feind ins Land hineingezogen werden soll, so folgt von selbst, daß unsere Hauptmacht dieselbe Richtung nimmt, denn sonst würde der Feind mit der seinigen nicht in derselben vorgehen, und täte er es auch, so würden wir nicht imstande sein, ihm dabei alle die Bedingungen aufzulegen, die wir oben vorausgesetzt haben. Es kann also nur noch die Frage sein, ob man mit ungeteilter Macht dieselbe Richtung halten, oder mit bedeutenden Teilen derselben nach der Seite hin ausweichen und also seinen Rückzug exzentrisch machen soll.

Auf diese Frage müssen wir antworten, daß diese Form an sich verwerflich ist,

  1. weil die Kräfte dadurch mehr geteilt werden, das Zusammenziehen derselben auf einen Punkt aber gerade eine Hauptschwierigkeit für den Angreifenden ist;
  2. weil der Angreifende die Vorteile der inneren Linien erlangt, mehr vereinigt als wir, und folglich auf einzelnen Punkten um so mehr überlegen sein kann. Nun ist freilich diese Überlegenheit bei einem System, welches vorderhand in fortwährendem Ausweichen besteht, weniger zu fürchten, allein die Bedingung dieses Ausweichens ist immer: dem Gegner furchtbar zu bleiben und sich nicht vereinzelt schlagen zu lassen, was leicht geschehen kann. Ferner ist Bedingung solchen Rückzuges: allmählich mit der Hauptmacht zu einer Überlegenheit zu gelangen, um mit ihr die Entscheidung geben zu können, was aber bei der Teilung der Kräfte ungewiß bleiben würde;
  3. weil überhaupt konzentrisches Wirken gegen den Feind dem Schwächeren nicht ziemt;
  4. weil den getrennten Streitkräften des Verteidigers gegenüber manche Nachteile der Schwächen des Angreifenden verschwinden.

Die Hauptschwächen eines weit vorgehenden Angriffs sind nämlich: die langen Verbindungslinien und die offenen strategischen Flanken. Durch die exzentrische Form des Rückzuges wird der Angreifende genötigt, einen Teil seiner Macht nach der Seite Front machen zu lassen, und dieser Teil, welcher eigentlich nur bestimmt war, unsere ihm entgegenstehende Streitkraft zu neutralisieren, tut gewissermaßen nebenher noch etwas anderes, nämlich einen Teil der Verbindungslinie zu schützen.

Für die bloße strategische Wirkung des Rückzuges ist also die exzentrische Form nicht vorteilhaft; soll sie aber eine spätere Wirkung auf die feindliche Rückzugslinie vorbereiten, so müssen wir an das im vorigen Kapitel Gesagte erinnern.

Nur ein Zweck kann zu einem exzentrischen Rückzuge veranlassen: wenn wir nämlich durch ihn Provinzen sichern können, die der Feind sonst besetzen würde.

Welche Landstriche der Vorgehende rechts und links besetzen wird, läßt sich meistens mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit aus der Sammlung und Richtung seiner Kräfte, aus der Lage seiner Provinzen, Festungen u. s. w. gegen die unsrigen vorhersehen; diejenigen Landstriche, welche er wahrscheinlich unbesetzt lassen wird, mit Streitkräften zu versehen, wäre eine gefährliche Kraftverschwendung. Ob man aber in denjenigen Landstrichen, welche der Angreifende wahrscheinlich besetzen wird, imstande sein wird, ihn durch eine aufgestellte Streitkraft daran zu verhindern, ist schon schwieriger zu übersehen, und es hängt also dabei viel von dem Takt des Urteils ab.

Als die Russen 1812 zurückgingen, ließen sie unter Tormassow 30 000 Mann in Volhynien gegen die österreichische Macht, die in diese Provinz einbrechen sollte. Die Größe der Provinz, die mancherlei Schwierigkeiten ihres Bodens, die nicht überlegene Macht, mit welcher sie angegriffen werden sollte, berechtigten die Russen zu der Hoffnung, daß sie auf dieser Seite die Oberhand behalten oder sich wenigstens in der Nähe der Grenze behaupten würden. Hierdurch konnten in der Folge sehr wichtige Vorteile erlangt werden, bei denen wir uns hier nicht aufhalten wollen; außerdem war es fast unmöglich, diese Truppen noch zur rechten Zeit an das Hauptheer heranzuziehen, wenn man es auch gewollt hätte. Aus diesen Gründen entschloß man sich mit Recht, das Heer in Volhynien zu lassen, um dort seinen abgesonderten Krieg zu führen. Wenn dagegen in dem Plan, welchen der General Phul zum Feldzug entworfen hatte, bloß das Heer von Barclay (80 000 Mann) nach Drissa zurückgehen, und das Heer von Bagration (40 000 Mann) den Franzosen in der rechten Flanke bleiben sollte, um ihnen dann in den Rücken zu fallen, so sieht man auf den ersten Blick, daß es diesem Heerteile unmöglich gewesen wäre, sich im südlichen Litauen, im Rücken der nahen französischen Hauptmacht, zu behaupten, deren überwältigende Massen ihn bald zugrunde gerichtet haben würden.

Daß der Verteidiger an sich das Interesse habe, dem Angreifenden so wenige Provinzen als möglich zu überlassen, versteht sich von selbst, aber dies bleibt immer ein untergeordneter Zweck; daß der Angriff auch um so schwieriger wird, je kleiner oder vielmehr schmaler das Kriegstheater ist, auf welches man den Feind einschränken kann, ist gleichfalls an sich klar; aber dies alles unterliegt doch der Bedingung, daß man bei diesem Beginnen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges für sich habe, und daß dadurch die Hauptmacht des Verteidigers nicht zu sehr geschwächt werde; denn sie muß vorzugsweise die endliche Entscheidung geben, weil die Verlegenheiten, die bei der feindlichen Hauptmacht entstehen, den Entschluß zum Rückzuge am ersten hervorrufen und den damit verbundenen Verlust physischer und moralischer Kräfte am meisten steigern.

Der Rückzug in das Innere des Landes soll also in der Regel mit unbesiegter und ungeteilter Macht gerade vor der feindlichen Hauptmacht so langsam als möglich stattfinden und durch fortwährenden Widerstand den Gegner zu einer beständigen Schlagfertigkeit, zu einem verderblichen Aufwand taktischer und strategischer Vorsichtsmaßregeln zwingen.

Sind beide Teile auf diese Weise am Ende der Angriffsbahn angelangt, so wird der Verteidiger seine Aufstellung, wenn es irgend sein kann, schief gegen die Richtung dieser Bahn nehmen und nun durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen, auf den Rücken des Feindes wirken.

Der Feldzug von 1812 in Rußland zeigt alle diese Erscheinungen in einem hohen Grade und die Wirkungen derselben wie im Vergrößerungsspiegel. Obgleich er nicht ein freiwilliger Rückzug war, so kann er doch füglich unter diesem Gesichtspunkte betrachtet werden. Wenn die Russen ihn mit der Kenntnis des Erfolges, die sie jetzt davon haben, noch einmal genau unter denselben Verhältnissen zu unternehmen hätten, so würden sie freiwillig und mit Plan tun, was 1812 größtenteils absichtslos geschehen ist. Allein man würde sehr unrecht haben, zu glauben, daß es sonst kein Beispiel einer ähnlichen Verfahrungsweise gebe, noch geben könne, wo die russischen Dimensionen fehlen.

Überall, wo ein strategischer Angriff ohne Schlachtentscheidung an den bloßen Schwierigkeiten scheitert, und der Vorgedrungene zu einem bald mehr, bald weniger zerstörenden Rückzug gezwungen wird, da findet die Hauptbedingung und Hauptwirkung dieser Widerstandsart statt, von welchen modifizierenden Umständen sie auch sonst begleitet sein mag. Friedrichs des Großen Feldzug von 1742 in Mähren, von 1744 in Böhmen, der französische Feldzug von 1743 in Österreich und Böhmen, des Herzogs von Braunschweig Feldzug von 1792 in Frankreich, Massenas Winterfeldzug von 1810–11 in Portugal, sind Beispiele, die ähnliche Fälle, aber in viel geringeren Dimensionen und Verhältnissen zeigen; außerdem aber gibt es noch unzählige fragmentarische Wirkungen der Art, wo nicht der ganze Erfolg, aber wohl ein Teil desselben dem Prinzip, welches wir hier geltend machen, zugeschrieben werden muß, die wir aber nicht anführen, weil eine Entwickelung der Verhältnisse dabei nötig wäre, die uns hier zu weit führen würde.

In Rußland und den andern angeführten Fällen ist der Umschwung erfolgt, ohne daß eine glückliche Schlacht am Kulminationspunkt die Entscheidung gab; aber wo eine solche Wirkung auch nicht zu erwarten ist, bleibt es schon ein Gegenstand von hinreichender Wichtigkeit, durch diese Widerstandsart ein Machtverhältnis herbeizuführen, welches den Sieg möglich macht, und durch diesen Sieg, wie durch einen ernsten Stoß, eine Bewegung zu veranlassen, die sich dann in ihren verderblichen Wirkungen nach den Gesetzen des Falles zu vergrößern pflegt.


 << zurück weiter >>