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Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Schlüssel des Landes.

Es gibt in der Kriegskunst keine theoretische Vorstellung, welche in der Kritik eine solche Rolle gespielt hat als diejenige, mit welcher wir uns hier beschäftigen. Sie ist das Paradepferd aller Schlacht- und Feldzugsbeschreibungen, der häufigste Standpunkt alles Räsonnements und eines von jenen Fragmenten wissenschaftlicher Form, mit denen die Kritik sich viel weiß. Und doch steht der damit verbundene Begriff weder fest, noch ist er je deutlich ausgesprochen worden.

Wir wollen versuchen, ihn deutlich zu entwickeln, und sehen, welchen Wert er dann noch für das praktische Handeln behalten wird.

Wir behandeln ihn hier, weil die Gebirgs- und Flußverteidigung sowie die Begriffe von festen und verschanzten Stellungen, an die er sich zunächst anschließt, vorausgegangen sein mußten.

Der unbestimmte, verworrene Begriff, welcher sich hinter dieser uralten militärischen Metapher versteckt, hat bald die Gegend bedeutet, wo ein Land am offensten, bald die, wo es am stärksten ist.

Wenn es eine Gegend gibt, ohne deren Besitz man es nicht wagen darf, in das feindliche Land einzudringen, so wird sie mit Recht der Schlüssel des Landes genannt werden. Allein diese einfache, aber freilich auch nicht sehr fruchtbare Vorstellung hat den Theoretikern nicht genügt, sie haben sie potenziert und sich unter Schlüssel des Landes Punkte gedacht, welche über den Besitz des Ganzen entscheiden.

Wenn die Russen in die Halbinsel der Krim vordringen wollten, so mußten sie sich zu Herren von Perekop und seinen Linien machen, nicht sowohl, um dadurch überhaupt den Eingang zu gewinnen, denn Lasch hat sie zweimal (1737 und 1738) umgangen, sondern um in der Krim sich mit leidlicher Sicherheit festsetzen zu können. Das ist sehr einfach, aber freilich gewinnt man dabei durch den Begriff eines Schlüsselpunktes eben nicht viel. Wenn man aber sagen könnte: wer die Gegend von Langres inne hat, der besitzt oder beherrscht ganz Frankreich bis Paris hin, d. h. es hängt dann nur von ihm ab, es in Besitz zu nehmen, so wäre das offenbar etwas ganz anderes, etwas von einer viel höheren Wichtigkeit. Nach der ersten Vorstellungsart kann der Besitz des Landes nicht ohne den Besitz des Punktes, den wir Schlüssel nennen, gedacht werden, das begreift sich mit bloßem gemeinen Verstande; nach der zweiten Vorstellungsart aber kann der Besitz des Punktes, den man Schlüssel nennen will, nicht gedacht werden, ohne daß der Besitz des Landes daraus folgt, das ist offenbar etwas Wunderbares; um es zu begreifen, reicht gemeiner Verstand nicht mehr hin; es ist dazu die Magie geheimer Wissenschaft nötig. Diese Kabbala ist wirklich vor etwa fünfzig Jahren in Büchern entstanden, hat am Ende des vorigen Jahrhunderts ihren Kulminationspunkt erreicht und trotz der überwältigenden Kraft, Sicherheit und Klarheit, mit der die Kriegsführung Bonapartes die Überzeugungen fortriß, wir sagen, jene Kabbala hat demungeachtet ihr zähes Leben noch in Büchern an einem dünnen Faden fortzuspinnen gewußt.

Daß es in jedem Lande (wenn wir unsern Begriff des Schlüsselpunktes verlassen wollen), auch noch Punkte von vorherrschender Wichtigkeit gibt, in welchen sich viele Straßen vereinigen, in welchen man seine Unterhaltsmittel bequem beziehen, von welchen aus man sich bequem hier- oder dorthin wenden kann, kurz, durch deren Besitz man mancherlei Bedürfnisse befriedigt, mancherlei Vorteile gewinnt, das versteht sich von selbst. Wenn nun die Feldherren die Wichtigkeit eines solchen Punktes mit einem Worte haben bezeichnen wollen und ihn deshalb Schlüssel des Landes genannt haben, so wäre es eine Pedanterie, daran Anstoß zu nehmen, vielmehr hat der Ausdruck dann viel Bezeichnendes und Gefälliges. Wenn man aber aus dieser bloßen Blume des Stils einen Kern machen will, aus dem sich ein ganzes System mit mannigfaltigen Verzweigungen wie ein Baum entwickeln soll, so fordert man den gesunden Menschenverstand heraus, den Ausdruck auf seinen wahren Wert zurückzuführen.

Von der praktischen, aber freilich sehr unbestimmten Bedeutung, welche der Begriff eines Schlüssels des Landes in den Erzählungen der Feldherren hat, wenn sie von ihren Kriegsunternehmungen sprechen, mußte man zu einer bestimmteren, also einseitigeren übergehen, wenn man ein System daraus entwickeln wollte. Man wählte unter allen Beziehungen die der hohen Gegend.

Wenn eine Straße einen Gebirgsrücken durchschneidet, so dankt man dem Himmel, wenn man auf dem höchsten Punkt angelangt ist und es nun an das Hinabsteigen geht. Dies ist schon beim einzelnen Reisenden der Fall, noch mehr bei einem Heere. Alle Schwierigkeiten scheinen überwunden und sind es auch meistens wirklich; das Hinuntersteigen ist ein Leichtes, man fühlt sein Übergewicht über jeden, der es uns verwehren wollte; man übersieht das Land vor sich und beherrscht es mit dem Blick im voraus. So ist stets der höchste Punkt, den eine Straße beim Durchzug eines Gebirges erreicht, als der entscheidende betrachtet worden; er ist es auch in der Mehrheit der Fälle, aber keineswegs in allen. Solche Punkte sind sehr häufig von den Feldherren in ihren Geschichtserzählungen mit dem Namen von Schlüsselpunkten, freilich wieder in einem etwas andern Sinn und meistens in beschränkter Beziehung, bezeichnet worden. An diese Vorstellung hat die falsche Theorie (als deren Gründer vielleicht Lloyd zu betrachten ist) vorzugsweise angeknüpft und deshalb diejenigen hohen Punkte, von welchen mehrere Straßen in das zu betretende Land hinabführen, als die Schlüsselpunkte dieses Landes angesehen, als Punkte, welche das Land beherrschen. Es war natürlich, daß diese Vorstellungsart mit einer ihr nahe verwandten, mit der einer systematischen Gebirgsverteidigung, zusammenfloß, und daß die Sache dadurch noch weiter in das Illusorische hineingetrieben wurde; hierzu kamen noch manche taktische Elemente, auf welche es bei der Gebirgsverteidigung ankommt, ins Spiel, und so wurde denn bald der Begriff des höchsten Straßenpunktes verlassen und überhaupt der höchste Punkt des ganzen Gebirgssystems, also der Wasserteilungspunkt, als der Schlüssel des Landes angesehen.

Da nun gerade um jene Zeit, nämlich in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, bestimmtere Vorstellungen über die Bildung der Erdoberfläche durch den Spülungsprozeß verbreitet wurden, so bot die Naturwissenschaft in diesem geologischen System der Kriegstheorie die Hand, und nun war jeder Damm praktischer Wahrheit durchbrochen, und alles Räsonnement schwamm in dem illusorischen System einer geologischen Analogie. Daher hörte man Ende des achtzehnten Jahrhunderts, oder vielmehr man las von nichts als den Quellen des Rheins und der Donau. Freilich hat dieser Unfug meistens nur in Büchern geherrscht, wie denn immer nur ein kleiner Teil von der Bücherweisheit in die wirkliche Welt übergeht, und zwar um so weniger, je törichter ihre Theorien sind; allein die, von welcher wir sprechen, ist zum Schaden Deutschlands nicht ohne Einfluß auf das Handeln geblieben, wir kämpfen also nicht mit Windmühlen, und um dies zu zeigen, wollen wir an zwei Begebenheiten erinnern: erstens, an die wichtigen, aber sehr gelehrten Feldzüge des preußischen Heeres 1793 und 1794 in den Vogesen, zu denen die Bücher Graverts und Massenbachs den theoretischen Schlüssel geben; zweitens an den Feldzug von 1814, wo ein Heer von 200 000 Mann sich am Narrenseil derselben Theorie durch die Schweiz auf das sogenannte Plateau von Langres führen ließ.

Ein hoher Punkt einer Gegend, von dem alle Wasser abfließen, ist aber meistens nichts als ein hoher Punkt, und alles, was man von seinem Einfluß auf die kriegerischen Ereignisse in Übertreibung und falscher Anwendung an sich wahrer Vorstellungen am Ende des achtzehnten und im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat, ist völlig phantastisch. Wenn Rhein und Donau und alle sechs Ströme Deutschlands auf einem Berg ihren gemeinschaftlichen Ursprung hätten, so würde dieser darum doch auf keinen größeren militärischen Wert Anspruch haben, als etwa ein trigonometrisches Signal auf ihm zu errichten. Zu einem Fanal würde er schon weniger tauglich sein, für eine Vedette noch weniger und für ein Heer ganz und gar nicht.

Die Schlüsselstellung des Landes also in der sogenannten Schlüsselgegend, nämlich da zu suchen, wo die verschiedenen Gebirgsarme von einem gemeinschaftlichen Punkt ausgehen und die höchsten Quellen liegen, ist eine bloße Bücheridee, welche schon die Natur selbst widerlegt, indem sie die Rücken und Täler von oben herab nicht so zugänglich macht, wie die bisherige sogenannte Terrainlehre annimmt, sondern Kuppen und Einschnitte nach Gefallen ausstreut und nicht selten den niedrigsten Wasserspiegel mit den höchsten Massen umgibt. Wenn man die Kriegsgeschichte hierüber befragt, so wird man sich überzeugen, wie wenig regelmäßigen Einfluß die geologischen Schlußpunkte einer Gegend auf deren kriegerische Benutzung haben, und wie sehr dagegen andere Örtlichkeiten und andere Bedürfnisse überwiegen, so daß die Stellungslinien oft ganz nahe an jenen Punkten hinlaufen und doch nicht von ihnen angezogen werden.

Wir verlassen diese falsche Vorstellung, bei der wir nur deshalb so lange verweilt haben, weil sich ein ganzes – sehr vornehm tuendes – System darauf gestützt hat, und kehren zu unserer Ansicht zurück.

Wir sagen also: Wenn der Ausdruck Schlüsselstellung in der Strategie einem selbständigen Begriff entsprechen soll, so kann es nur der einer Gegend sein, ohne deren Besitz man nicht wagen darf, in ein Land einzudringen. Will man aber damit auch jeden bequemen Eingang in ein Land oder jeden bequemen Zentralpunkt in demselben bezeichnen, so verliert die Benennung ihren eigentümlichen Begriff (d. h. ihren Wert) und bezeichnet etwas, was sich mehr oder weniger überall finden muß; sie wird dann bloß eine gefällige Redefigur.

Jene Stellungen aber, welche wir uns dabei denken, sind dann freilich selten genug zu finden. Meistens liegt der beste Schlüssel zum Lande im feindlichen Heer, und wo der Begriff der Gegend über den Begriff der Streitkraft vorherrschen soll, müssen schon besonders günstige Bedingungen obwalten; diese lassen sich nach unserer Meinung in zwei Hauptwirkungen erkennen: erstens, daß die darin aufgestellte Streitkraft durch den Beistand des Boden eines starken taktischen Widerstandes fähig sei; zweitens, daß die Stellung früher die Verbindungslinie des Feindes wirksam bedrohe, als die eigene von ihm bedroht wird.


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