Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Sechstes Kapitel.

Der Tod. – Das Gefängnis. – Eine Unterredung. – Ihr Erfolg.

Legt sie in den Grund,
Und ihrer schönen, unbefleckten Hülle
Entsprießen Veilchen.
In meiner Brust war eine Art von Kampf,
Der mich nicht schlafen ließ. –
Hamlet.

»Geduldet euch noch eine kurze Weile mit mir,« sagte Madeline. »Bald wird mir wohl, ganz wohl sein!«

Ellinor schob das Wagenfenster hinab, um frische Luft einzulassen, und hieß bei dieser Gelegenheit den Kutscher schneller fahren. Die Veränderung in Madelines Stimme hatte sie erschreckt.

»Wie edel war sein Blick! Ihr saht ihn lächeln,« fuhr Madeline, mit sich selbst redend, fort. »Und doch wollen sie ihn ermorden. Laßt sehen, auf diesen Tag in nächster Woche, ja noch vor diesem Tage werden wir beisammen sein.«

»Schneller, um Gottes willen, Ellinor, heiß ihn schneller fahren!« rief Lester, als er die an seine Brust gelehnte Gestalt schwerer und schwerer werden fühlte. Rasch flog der Wagen. Ihr Haus ward sichtbar, das einsame, freudlose Haus, nicht die süße Heimat in Grünthal mit dem Epheu um das Vordach und der stillen Kirche dahinter. Die Sonne sank langsam hinunter und Ellinor ließ den Fenstervorhang nieder, um der Schwester Auge vor der Glut zu schützen.

Madeline empfand die Freundlichkeit und lächelte. Ellinor trocknete die Augen und suchte wieder zu lächeln. Die Kutsche hielt und Madeline ward herausgehoben. Von Vater und Schwester gehalten, blieb sie einige Sekunden unter der Thür stehen. Sie sah auf die goldene Sonne und die stille Erde und die kleinen Mückchen, die im Abendstrahl tanzten – alles war zur Ruhe eingewiegt und voll von der Friedensstille einer ländlichen Umgebung. »Nein, nein,« flüsterte sie, indem sie des Vaters Hand ergriff. »Was ist das? es ist nicht seine Hand. O nein, nein! ich bin nicht bei ihm. – Vater,« fügte sie mit lauterer, tiefer Stimme hinzu, indem sie sich von seiner Brust erhob, »geben Sie mir dies Päckchen mit ins Grab; es sind seine Briefe. Erbrechen Sie das Siegel nicht, und – und sagen Sie ihm, daß ich nie gewußt, wie unendlich ich – ich ihn liebe – bis die ganze – Welt – ihn verlassen hatte!«

Ein schwacher Schmerzensschrei entfuhr ihr und sie stürzte plötzlich zu Boden. Einige Stunden lebte sie noch, gab aber weder Worte noch Zeichen mehr von sich und nur ihr Atem ließ merken, daß sie nicht bereits verschieden sei. Endlich starb auch dieser – unmerklich – dahin.

Am folgenden Abend erhielt Walter Zutritt in Arams Kerker. Am Morgen hatte der Gefangene Lester gesehen, hatte Madelines Tod vernommen. Keine Thräne war ihm entfallen; er hatte, nach dem erschütternden Ausdruck der heiligen Schrift, »sein Gesicht gegen die Mauer gewandt«. Niemand sah seine Rührung; gleichwohl fühlte Lester bei dieser bittern Unterredung, daß seine Tochter innig betrauert wurde. Aram erhob die Augen bei Walters Eintritt nicht, und der junge Mann mußte sich dicht vor ihn stellen, ehe er bemerkt wurde. Jetzt sah jener auf und beide blickten sich eine Weile schweigend an, bis endlich Walter mit hohler Stimme sagte:

»Eugen Aram!«

»Nun!«

»Madeline Lester ist nicht mehr.«

»Ich hab' es gehört. Ich bin damit ausgesöhnt. Besser jetzt als später.«

»Aram!« rief Walter jetzt mit zitternder Stimme und leidenschaftlich die Hände ringend, »ich bitte, ich beschwöre Sie in dieser furchtbaren Stunde, wenn es in Ihrer Macht steht, eine Last von meinem Herzen zu wälzen, die es in den Staub hinabdrückt, die, wenn sie bleibt, mich für mein ganzes Leben zu einem gedrückten, jammervollen Menschen machen muß – ich beschwöre Sie im Namen der Menschlichkeit, bei Ihren Hoffnungen auf den Himmel, diese Last von mir zu nehmen! Unwiderruflich ist die Zeit vorbei, wo Leugnen oder Geständnisse von Ihrer Seite Ihr Schicksal abändern können; Ihre Tage sind gezählt; keine Hoffnung auf Rettung; ich beschwöre Sie: sind Sie wirklich zu Ausübung des Verbrechens – ich frage nicht, wie oder warum – verleitet worden, unter dessen Anschuldigung Sie sterben, so sagen Sie mir, raunen Sie mir nur ein Wort des Geständnisses zu, und ich, das einzige Kind des Ermordeten, will Ihnen aus dem Grunde meiner Seele vergeben.«

Er hielt an, unfähig, weiter fortzufahren.

Auf Arams Stirn zuckte es; er wandte sich ab, er gab keine Antwort. Sein Haupt sank auf seine Brust und seine Augen waren unbeweglich auf den Boden geheftet.

»Erwägen Sie,« fuhr Walter, seine Fassung wieder gewinnend, fort, »erwägen Sie! ich war das stumme Werkzeug, durch das Sie in dieses furchtbare Schicksal geführt, durch das meines eigenen Hauses Glück zerstört – durch das – durch das dem Wesen das Herz gebrochen ward, das ich schon als Knabe anbetete. Sind Sie schuldlos – welch gräßliche Erinnerung bleibt mir! Seien Sie barmherzig, Aram, barmherzig! Ward diese That durch Ihre Hand vollbracht, so sagen Sie mir nur ein Wort, um die furchtbare Ungewißheit zu verbannen, die mein ganzes Wesen zerreißt. Was ist für Sie jetzt die Erde, die Menschheit, die allgemeine Meinung? Gott allein kann Sie richten. Gottes Auge liest in Ihrem Herzen, während ich spreche; haben Sie die Schuld wirklich auf sich geladen, so bedenken Sie, wie weit geringer Ihre Sünde in der ernsten Stunde auf Ihnen lasten wird, wo die Ewigkeit sich Ihnen öffnet, wenn Sie durch Bekämpfung eines störrischen Herzens ein menschliches Wesen von einem Zweifel befreien, welcher der Fluch, das Grauen seines ganzen Daseins werden müßte. Aram, Aram, wenn des Vaters Tod durch Sie kam, soll dem Sohne sein Leben ebenfalls durch Sie zur Bürde werden?«

»Was wollen Sie von mir? reden Sie!« sagte Aram, ohne das Gesicht von der Brust aufzuheben.

»Vieles in Ihrer Natur widerspricht einem solchen Verbrechen. – Sie sind weise, ruhig, gegen die Bedürftigen wohlthätig. Rache, Leidenschaft – vielleicht die scharfen Krallen des Hungers mögen Sie zu irgend einem Schritt getrieben haben; aber ganz verhärtet ist Ihre Seele nicht; ja so weit glaub' ich mein Vertrauen zu Ihnen ausdehnen zu dürfen, daß wenn Sie in diesem grauenvollen Augenblick – wo Madelines Hülle kaum erkaltet ist, wo Schmerz Ihre Brust durchwühlt und erweicht, wo der Sohn des Ermordeten vor Ihnen steht – wenn Sie in diesem Augenblick die Hand aufs Herz legen und sagen können: »bei Gott und so wahr ich selig werden will, ich bin unschuldig an dieser That«, – ich gehen, Ihnen glauben und so gut ich's vermag, den Gedanken ertragen will, daß ich einer der willenlosen Helfershelfer gewesen bin, um einen schuldlosen Menschen zu schrecklichem Tode zu verdammen! einen Menschen, der, wenn er hieran schuldlos, in allem übrigen vollends die Güte, die Vollkommenheit selbst war! Können Sie aber diesen Eid in der dunkeln Entscheidungsstunde nicht ablegen – dann, o dann seien Sie gerecht – seien Sie großmütig selbst bei Ihrer Schuld und lassen Sie mich nicht durchs ganze Leben von einem gespenstischen Zweifel ruhelos gejagt werden! Sprechen Sie, o sprechen Sie!«

Wohl können wir uns vorstellen, wie zermalmend ein solcher Zweifel in der Brust eines von Natur kühnen, feurigen Menschen gewesen sein muß, wenn er den eigenen Sohn des Ermordeten bis zum Vergessen seines Grimms und Rachegefühls, ja bis zur demütigen Bitte brachte! Aber Walter hatte Arams Verteidigung mit angehört und seine Miene genau beobachtet; keinen Blick hatte er während der Gerichtssitzung von ihm verwandt, und wie einen eiskalten Stachel durch sein Herz hatte er gefühlt, daß sein eigenes Urteil nicht im stande war, den über den Beklagten gefällten Spruch mit auszusprechen! Wie gräßlich muß daher sein Gemütszustand gewesen sein, als er nach Lesters Hause zurückkehrend ein Haus des Todes fand; – den reinen, schönen Geist entflohen; – den Vater um sein Kind jammernd, unzugänglich jedem Trost – und Ellinor!... Nein! ein Anblick wie dieser, Gedanken wie diese, zerknicken den Stolz in eines Mannes Brust.

»Walter Lester!« sagte Aram nach einer Pause, das Haupt mit Würde erhebend, obwohl in den Zügen nur ein Ausdruck – Weh, unsägliches Weh – lag, »Walter Lester! ich glaubte, ich würde aus der Welt scheiden, ohne meine Geschichte jemand erzählt zu haben; aber nicht umsonst haben Sie sich an mich gewandt! Ich reiße die Selbstsucht aus meinem Herzen! – ich entsage dem letzten stolzen Traum, in den ich mich gegen die Qualen um mich her hüllte. Sie sollen alles erfahren und hiernach urteilen. Aber kaum kann mein Mund diese Geschichte gegen Sie aussprechen: der Sohn kann das nicht ruhig mit anhören, was ich, wenn ich mich selbst nicht ungerecht, nicht über Gebühr verdammen will, von dem Toten sagen muß! Doch die Zeit,« fuhr er flüsternd fort, mit den Augen ins Leere starrend, »die Zeit drängt ja nicht allzusehr; so möge denn die Hand, nicht die Zunge sprechen: – ja; der Tag der Hinrichtung ist – ja, ja – noch zwei Tage bis dahin. – Morgen? nein! junger Mann,« sagte er plötzlich, sich zu Walter wendend, »übermorgen, um sieben Uhr abends, am Abend vor meinem letzten Morgen – kommen Sie zu mir. Dann will ich Ihren Händen ein Papier übergeben, welches die ganze Geschichte meines Verhältnisses zu Ihrem Vater enthält. Auf das Wort eines Mannes am Rande einer andern Welt! kein Umstand, welcher von Wert für Sie ist, soll darin übergangen sein! Aber lesen Sie's erst, wenn ich nicht mehr bin; und wenn Sie's gelesen, vertrauen Sie die Geschichte niemand an, bis Lesters graue Haare das Grab deckt. Darauf schwören Sie! ein solcher Eid ist vielleicht schwer zu halten, aber –«

»So wahr mein Erlöser lebt, ich will beide Bedingungen beschwören!« rief Walter mit feierlicher Inbrunst. »Aber jetzt sagen Sie mir endlich –«

»Fragen Sie mich nicht mehr!« unterbrach ihn Aram. »Die Zeit ist nahe, wo Sie alles erfahren werden! Erwarten Sie diese Zeit und verlassen Sie mich! Ja, verlassen Sie mich jetzt – sogleich – verlassen Sie mich!«

Länger bei Stellen zu verweilen, welche Schmerz erregen, ohne uns etwas Neues mitzuteilen, ist schon keine Aufgabe der dramatischen Kunst und dürfte ebensowenig Aufgabe jenes Darstellungsgebietes sein, das noch edler scheint als das Drama – denn es erfordert eine noch mehr ins einzelne gehende Sorgfalt – gefällt sich in noch vollendeterer Beschreibung – sucht die Beweggründe zu einer That noch mit mehr Anschaulichkeit zu erklären – schlägt noch verschiedenere Saiten in der Menschenbrust an; – jenes Gebiet, dem wir uns mit unzureichenden, schwachen Kräften für eine so hohe, obwohl so wenig gewürdigte Aufgabe widmen, und wenn wir insofern vermessen handeln, mindestens vom vollen Gefühl ihrer Erhabenheit durchdrungen sind!

Ohne einen Blick in die Totenkammer, – ohne einen Blick in Lesters gebrochenes Herz – in die zwiefache Todespein seines überlebenden Kindes – die Todespein, die im eigenen Schmerz die andern noch zu trösten sucht – in Walters durcheinanderstürmende Empfindungen, worin ein schlafloses Verlangen, das Schreckliche in seinem ganzen Umfange kennen zu lernen, als beherrschend und bleibend hervortritt – in den einsamen Kerker und das einsame Herz des Verurteilten – ohne einen Blick hierauf gehen wir sogleich zu dem Abend über, wo Aram Walter Lester wieder und zum letztenmal sah.

»Sie stellen sich pünktlich ein,« sprach jener mit leiser, klarer Stimme. »Ich habe meine Zusage nicht vergessen. Die Erfüllung dieses Versprechens war ein Sieg über mich selbst, den kein Mensch in seiner ganzen Tiefe zu fühlen vermag, aber ich war Ihnen denselben schuldig. Ich habe meine Schuld abgetragen. Genug! – Ich habe mehr gethan, als ich anfangs willens war. Ich habe meine Erzählung, wenn auch hie und da nur oberflächlich, über mein ganzes Leben ausgedehnt. Diese Weitschweifigkeit war ich vielleicht mir selbst schuldig. Gedenken Sie Ihres Versprechens: dieses Siegel wird nicht erbrochen, bis kein Puls mehr in der Hand schlägt, die Ihnen jetzt die Papiere übergiebt!«

Walter erneuerte seinen Schwur, worauf Aram nach kurzem Stillschweigen mit veränderter sanfter Stimme fortfuhr:

»Seien Sie liebevoll gegen Lester; mildern, trösten Sie seinen Gram: – geben Sie ihm selbst andeutungsweise keine andere Ansicht über mich, als die, welche er jetzt hat. Ich fordere das mehr um seinet- als um meinetwillen! Ehrwürdiger, gütiger alter Mann! Selten hat sich ein Menschenherz für mich erwärmt. Wie tief hab' ich den wenigen, die mich geliebt, diese Liebe zurückgegeben! Aber solche Worte gehören nicht zwischen Sie und mich. Leben Sie wohl! Doch bevor wir scheiden, sprechen Sie eins aus: Was ich immer in den Geständnissen, die ich Ihnen hiermit übergebe, enthüllt habe, was mein Unrecht gewesen sein mag, oder – um die minder lastende Unbill mit einzuschließen – welche Sprache ich dort zu meiner Rechtfertigung gegen – gegen Ihren Vater geführt haben mag: – sagen Sie, daß Sie mir dafür die Verzeihung gewähren, die ein Mensch dem andern gewähren kann.«

»Aus vollem tiefen Herzen,« erwiderte Walter.

»An dem Tage, der Sie in jene Welt ruft, die morgen auf mich wartet,« entgegnete Aram mit tiefer Stimme, »sei diese Vergebung Ihnen selbst gewährt. Leben Sie wohl. In jenem unbekannten Wechsel des Daseins, der über unser Leben hinausreicht, mögen vielleicht – wer weiß es? – unsere Seelen von Stufe zu Stufe, von Welt zu Welt vorschreitend, in fernen Zeiten wieder zusammentreffen – ein dämmerndes, trübes Gedächtnis an diese Stunde als Band zwischen uns! Leben Sie wohl – leben Sie wohl!«

Wir achten es dem Interesse des Lesers für angemessen (wie es denn wirklich dem unmittelbaren Gange der Geschichte, wenn auch nicht der einzelnen Begebenheiten, mehr entspricht), ihm das in Walters Hände gegebene Geständnis sogleich vorzulegen, ohne die Zeit abzuwarten, worin jener das Siegel von einem Berichte brach, der nicht nur von Thaten Rechenschaft giebt, sondern auch von wilden, verwirrenden Gedanken, – von wunderbaren, dunkeln Gefühlen; – von einer lichtverwandten Seele, die von ihrer stolzen Sonnenbahn zu so wirren und unheiligen Gefilden der Nacht und des Chaos herabsank! Was mich betrifft, so wollte ich die Teilnahme des Lesers nicht von den alltäglichen Quellen herleiten, welche eine solche Erzählung dargeboten hätte. Fast von Anfang an habe ich ihn in Arams Geheimnis eindringen lassen, ich habe ihn auf eine Schuld vorbereitet, welche von andern Erzählern dieser Geschichte vielleicht nur benutzt worden sein dürfte, um ihn zu überraschen.


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