Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Zweites Kapitel.

Ein erfreuliches Beispiel von einem Edelmann und Hofmann. – Ein Mann von einigen Schwächen und vielen Vorzügen.

Titinius Capito wird sprechen. Er ist ein Mann von einem trefflichen Charakter und gehört zu den Hauptzierden seiner Zeit. Er beschäftigt sich mit Litteratur, liebt Gelehrte u.s.w.
Lord Orrerys Plinius.

Um jene Zeit hatte der Graf von ..., der erste Edelmann des Bezirks, dessen Landsitz etwa anderthalb Stunden von Grünthal entfernt lag, seine Besitzung, wie er dies in jedem Jahre gewohnt war, wieder auf einige Zeit bezogen. Dieser Mann kommt in der Geschichte jener Tage sehr häufig vor, mehrfache Gründe bestimmen mich jedoch, seinen Namen hier zu verschweigen. Er war ein Hofmann – durchdringend, schlau, von vollendeter Schule; aber edler Gefühle, eines umfassenden Gesichtskreises fähig. Obwohl er in Bezug auf seine Angelegenheiten nur für den Augenblick zu leben schien, so drang sein heller Geist doch weit darüber hinaus. Ihm gebührt das Verdienst, unter allen seinen Zeitgenossen (Lord Chesterfield ausgenommen) der einzige gewesen zu sein, der mit klarer Voraussicht jenen düstern, furchtbaren Sturm verkündete, welcher gegen das Ende des Jahrhunderts über Frankreichs Laster ausbrach, um – ein grauenvoller Rächer wie ein heilsamer Reiniger – Frankreichs Elend hinwegzufegen.

Aus dem beschränkten Bereich geräuschvoller Nichtigkeiten, worin zu leben Hofleute verdammt sind, und in welchem er ebensosehr durch den Glanz seines Geistes als die Anmut seines Benehmens hervorstach, umfaßte der scharfe, weitsichtige Blick des Grafen ... vollkommen das außerhalb liegende weite Gebiet, welches Männern seines Standes und seiner Lebensgewohnheiten gewöhnlich verhüllt bleibt. Männer, die jenen kleinen Kern, den man Welt nennt, am besten kennen, sind nichtsdestoweniger oft gänzlich unbekannt mit dem Menschen; es gehörte aber zu den charakteristischen Zügen des Grafen, daß er sich nicht nur über die ganze äußere Erscheinung seines Geschlechtes höchst klar war, sondern auch dessen tieferes, verborgenes Wesen und Wollen durchschaute.

Seine hinterlassenen Werke und Briefe, so wenig bändereich sie sind, zeugen von einer vollendeten Kenntnis der menschlichen Natur durch all' ihre Abstufungen. Die Feinheit des Geschmacks erscheint in diesen Schriften noch als das geringere Verdienst im Vergleich mit der Kraft des Verstandes. Vielleicht mochte er die Schlechtigkeit der Menschen besser kennen, als ihre Tugenden, aber er war weit entfernt von einem seichten Unglauben an letztere; er las mit zu hellem Blick in dem Herzen, als daß ihm hätte unbekannt sein sollen, wie dieses ebenso oft durch Liebe als durch Selbstsucht geleitet wird. In seinem frühern Leben hatte man ihm nicht ohne Grund ungeregelte Sitten vorgeworfen, aber selbst in jenem Hang zum Vergnügen war er von Schwäche wie von Roheit gleich entfernt geblieben, weder ein unbesonnener Thor noch ein verhärteter Lüstling gewesen. Doch hatten ihm seine Anmut, sein Rang, sein Reichtum den Sieg allenthalben zu wohlfeil erkauft und so erfuhr er das Schicksal aller Lebemänner: derjenige Teil seiner Weltkenntnis, welcher noch am ehesten Täuschungen unterlag, bezog sich auf das weibliche Geschlecht Er urteilte über die Frauen nach einem Maßstab, der zu sehr von demjenigen abwich, welchen er auf Männer anwandte, und betrachtete Schwächen, welche im Wesen des Menschen überhaupt liegen, als ausschließlich nur dem Weibe zukommend.

Von Natur war er ernsthaft und nachdenklich, und obwohl es ihm keineswegs an Witz fehlte, brachte er denselben nur selten in Anwendung. Er war gezwungen, mit oberflächlichen, auf Äußerlichkeit gerichteten Menschen zu leben, ihm selbst aber konnte man leeres Schaugepränge oder Frivolität niemals vorwerfen. Als Diplomat und Staatsmann gehörte er zwar der alten, auf einer falschen Ansicht beruhenden Schule der politischen Ränkeschmiede an; seine Lieblingspolitik blieb indessen, allenthalben die Versöhnung zu versuchen. Trefflich würde er für die jetzige Zeit insofern gepaßt haben, als niemand besser verstanden hätte, eine Nation geschickt an allen Möglichkeiten eines Krieges vorüberzusteuern. Jakob I. konnte nicht stärker für den Frieden eingenommen sein als er; aber die Gewandtheit des Ministers würde diesen Frieden ebenso ehrenvoll gemacht haben, als ihn die Schwäche des Königs schimpflich zu machen nur immer im stande gewesen wäre. Bis auf einen gewissen Grad nicht ohne Ehrgeiz, aber nie zudringlich noch niedrig, gewann er für seine Fähigkeiten nie ganz das ausgedehnte Feld, welches sie wahrscheinlich verdienten. Er liebte ein angenehmes Leben über alles und wußte, daß, wie Thätigkeit die Seele des Wohlbehagens, so Ermüdung das Gift für dasselbe ist.

Seiner Zeit erfreute er sich in bedeutendem Maße jener Aufmerksamkeit des Publikums, welche in der Regel in Nachruhm übergeht, allein aus verschiedenen Ursachen (unter welchen seine eigene Mäßigung nicht zuletzt zu rechnen ist) steht gegenwärtig sein Ruf bei weitem nicht so hoch, als das Urteil seiner ausgezeichnetsten Zeitgenossen es erwarten ließ.

Für Männer von hohem Range ist es viel schwieriger, bei der Nachwelt glänzenden Ruhm zu genießen, als für Personen von untergeordneteren, sozusagen gesünderen, Lebensverhältnissen. Selbst die Größten unter den ausgezeichneten Menschen patrizischen Standes büßen in den Augen der Nachwelt gerade für diejenigen Eigenschaften – meistens blendende Fehler oder glänzende Excentricitäten – die zu ihrer Zeit die Aufmerksamkeit am stärksten auf sie gezogen hatten. Man vergiebt einem Burns seine Liebeshändel, sein wildes Treiben eher, als einem Bolingbroke oder Byron ähnlicher Anstoß nachgesehen wird.

Unser Graf liebte die Gesellschaft wissenschaftlicher Männer; er selbst besaß eine umfassende, vielleicht sogar gründliche Belesenheit. Jedenfalls war seine Bildung tiefer, als man in der Regel dafür hielt, wenn er es auch mit der gewöhnlichen Geläufigkeit eines gewandten Kopfes verstand, eine noch eben erworbene Notiz so hinzuwerfen, daß die Erwähnung als Durchbruch einer ausgebreiteten Gelehrsamkeit erschien. Er war ein Mann, der das Verdienst anderer augenblicklich erkannte und edelsinnig anerkannte. Kein Kenner erschien in seinem Urteil über die Künste glücklicher, oder war in der Wahl der Gegenstände, denen er seine Gönnerschaft zuwandte, gerechter. Kurz, nach all seinen Vorzügen gehörte er zu denjenigen, auf welche eine Aristokratie stolz sein kann, wenn auch das Volk sie vergißt; und wenn kein großer Mann, war er mindestens ein sehr merkwürdiger Lord.

Bei der letzten Anwesenheit auf seinen Gütern hatte er nicht vergessen, den ausgezeichneten Gelehrten zu besuchen, der so hellen Glanz auf jene Gegend warf. Arams Benehmen und Gespräch hatten einen großen Eindruck auf ihn gemacht, und mit dem gewohnten Glück, womit der gewandte Weltmann seine Natur denjenigen anzupassen verstand, mit welchen das Ungefähr ihn zusammenführte, war es ihm gelungen, sich seinerseits bei jenem in Gunst zu setzen. Zwar vermochte er den stolzen, menschenscheuen Gelehrten nicht zu einem Besuch, auf dem gräflichen Schloß zu überreden, aber der Lord verschmähte es nicht, jeden, von welchem er Belehrung erhalten konnte, seinerseits selbst aufzusuchen. So war er denn absichtlich zwei bis dreimal mit Aram zusammengetroffen und hatte dessen Zurückhaltung jedesmal zu überwinden gewußt. Mit Vergnügen und noch mehr mit Verwunderung hörte er jetzt, der strenge Einsiedler sei daran, sich mit der schönsten Blume der Grafschaft zu verbinden, und er beschloß die erste Gelegenheit zu benutzen, um im Lesterschen Hause vorzusprechen und dessen Bewohnern Besuch und Glückwunsch abzustatten.

Von einem verständigen vornehmen Mann, welcher von Geburt an die seinem Stande zukommende Ehre genossen hat, kann man mit Recht erwarten, daß er derselben gelegentlich überdrüssig sein müsse; daß er oft ein Vergnügen am Umgang gerade mit denjenigen finden werde, welchen er durch solche Herablassung am wenigsten imponiert. Nicht als wollte ich sagen, er werde die Gesellschaft jener gemeinen Emporkömmlinge suchen, welche Ungeschliffenheit für Selbstgefühl halten; – kein Mensch, der sich selbst achtet, wird einem andern Achtung versagen! – aber diese Achtung soll sich auf eine ungezwungene Weise äußern: – nicht jeder Große ist, wie Ludwig XIV., bloß dann zufrieden, wenn er die, welche er anredet, außer Fassung bringt.

Eben in der Einfachheit Lesters und seiner Tochter lag daher mitunter der Grund, welcher diese Familie dem Grafen besonders angenehm machte; und die reichern, aber von ihm weniger bevorzugten Squires der Grafschaft, steif in ihrem ungelenken Stolz und emsigst bemüht, ihre noch ungelenkere Ehrerbietung an den Tag zu legen, hörten mit Erstaunen und Ärger von den zahlreichen Besuchen, welche Seine Herrlichkeit während ihres kurzen Aufenthaltes im großen Schloß den Lesters jedesmal abzustatten pflegte, sowie von den fortwährenden Einladungen, welche letztere sogar zu den Festen des vertrauteren Kreises dorthin erhielten.

Lord ... liebte die Jagd nicht, und als eines Morgens alle seine Gäste über die Stoppeln des Septembers her waren, bestieg er einen ruhigen Klepper und machte sich heitern Muts auf den Weg zu Lesters Hause.

Es war gegen Ende des Monats, und einer der frühesten Herbstnebel hing dünn über der Landschaft. Wie sich der Graf um den Hügel wandte, worauf sein Schloß lag, bot die Gegend, die sich unter ihm ausdehnte, durch die grauen, in wunderlicher Gestalt darüberschwebenden Dünste einen düstern, schwermütigen Anblick. Ein breiterer, weißerer Duft, der sich in der Niederung des Thales hinzog, deutete den Lauf des Baches an, und jenseits desselben, zur Linken, erhob sich undeutlich und geisterhaft die Turmspitze der kleinen Kirche neben Lesters Wohnung. Indem sich das Auge des Reiters eben nach jenem Fleck hinrichtete, brach die Sonne plötzlich durch und enthüllte wie mit einem Zauberschlag das liebliche stille Dörfchen unten – die Bauernhäuser mit ihren freundlichen Gärten und jasminumrankten Thorwegen, den Bach noch halb in Nebel, halb in Licht, während da und dort eine Dunstsäule, wie ein Wagen der Wassergötter, über seinem Spiegel sich erhob und unter dem Lächeln der unerwarteten Sonne in tausend Farben zerfloß. Aber fern zur Rechten, noch dichte Nebel um sich her und kaum den äußern Umrissen nach erkennbar, stand das einsame Haus des Gelehrten, als wollten die dunklern Geister der Luft ihre zertrümmerte Rüstung von Qualm und Schatten dort noch einmal sammeln.

Der Graf war nicht besonders empfänglich für landschaftliche Eindrücke, aber unwillkürlich hielt er jetzt sein Pferd an und verweilte ein paar Augenblicke auf der reizenden eigentümlichen Gestaltung, welche die Gegend so plötzlich angenommen hatte. Indem er so vor sich schaute, nahm er feldeinwärts in geringer Entfernung drei bis vier Personen um einen kleinen Hügel her wahr, und glaubte unter ihnen Rowland Lesters angenehme Gestalt zu bemerken. Ein zweiter Blick überzeugte ihn, daß seine Vermutung richtig war, und von der Straße durch eine Heckenöffnung abbiegend, ritt er auf die Gruppe zu. Bald konnte er bemerken, daß der Rest der Gesellschaft aus Lesters Töchtern, dem Verlobten der ältern und noch einem vierten bestand, in welchem er sofort einen berühmten französischen Botaniker erkannte, der vor einiger Zeit in England angekommen war und jetzt einen Streifzug durch die anziehenderen Gegenden der Insel machte.

Mit Recht vermutete der Graf, Herr N. werde nicht versäumt haben, sich Arams Beistand in einem Geschäft zu erbitten, worin letzterer als ausgezeichneter Kenner berühmt war, und möge sofort von diesem hieher geführt worden sein, indem hier vielleicht die eine oder andere merkwürdige Pflanze wuchs. Er gab das Pferd an den Reitknecht und gesellte sich den übrigen zu.


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