Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Viertes Kapitel.

Ein tieferer Blick in das Herz des Gelehrten. – Besuch auf dem gräflichen Schloß. – Die Philosophie auf die Probe gestellt.

Gleichviel, ob Glück mir zürnt, mir lacht.
Ich frage nicht nach Erdenlust,
Ich such' nicht Prunk. ich such' nicht Pracht.
Kein Flitterstaat reizt diese Brust.
Was ich besitze, ist mir genug;
Nach and'rem nie mein Busen schlug.
Josua Sylvester.

Der Leser möge mir verzeihen, wenn ich seiner Teilnahme an meiner Erzählung bis jetzt auch manches kleine Zwischengespräch aufgebürdet habe, und nun nochmals für kurze Zeit auf seine Nachsicht rechne. Nicht nur die Lebensgeschichte Arams, auch sein Charakter und die Färbung seines Geistes sind es, die ich diesen Blättern aufzuprägen wünschte. Glücklicherweise ist jedoch der Weg, den mein Bericht fortan nehmen wird, von der Art, daß ich zu Erreichung des eben angegebenen Zweckes von der geraden Bahn nicht mehr abzuweichen, ja kaum mich auf derselben aufzuhalten nötig haben werde.

Jedermann kennt die erhabene Idee, welche Goethes Faust zu Grunde liegt. Jedermann kennt jenen großartigen Mißmut – jenen Zorn über die Grenzen des menschlichen Wissens – jene Sehnsucht nach dem jenseits liegenden Paradies des Geistes, von welchem uns »der Engel mit dem feurigen Schwert« zurückhält – jenen kühnen und doch bänglichen Seelenzustand – jenes Gefühl des Unterliegens selbst im Siege, welches Goethe personifiziert hat: – eine Gemälde des erhabensten Schmerzes, dessen das Gemüt fähig ist, das uns an die tiefe göttliche Schwermut erinnern könnte, welche jener große Bildhauer in die Gestalt des edelsten Helden des Olymps einfließen ließ, als er die Ruhe des Gottes nach seiner Arbeit auf eine Weise darstellte, wie wenn er mehr von der Geringfügigkeit des Geleisteten durchdrungen als von dessen Größe erhoben wäre!

In diesem Bilde, dessen Erhabenheit die nachfolgenden wilden Scenen eben gedachten Schauspiels, so wundervoll sie sind, vielleicht doch nicht völlig aufrecht erhalten dürften, hat Goethe einer ruhigern, mehr praktischen Nachwelt den brennenden, ruhelosen Geist, das fieberhafte Verlangen, nicht sowohl nach einem nützlichen Wissen als nach einem Wissen überhaupt, hinterlassen, welches in der Bildungsgeschichte Deutschlands jene Epoche bezeichnet, in der die Idee des Gedichts gefaßt und ausgeführt wurde.

Von jenen bittern Wassern, dem Mara2. Mos. 15, 23: »Da kamen sie gen Mara, aber sie konnten des Wassers zu Mara nicht trinken, denn es war sehr bitter. Daher hieß man den Ort Mara« (Bitterkeit). D. Übers. unter den Strömen der Weisheit, hatte auch die Seele des Mannes, den wir zum Helden dieses Buches gemacht, mit vollen Zügen getrunken. Wohl mußte ihn ein mehr ruhiger und gehaltener Geist, als der, welcher jenen Schwärmern am Harz und an der Donau zuteil geworden war, vor dem Durst nach den Unmöglichkeiten des Wissens bewahren, welcher nicht nur der Poesie, sondern auch der Philosophie des deutschen Volkes eine so eigentümliche Romantik aufdrückt. Wenn er indessen dem Aberglauben fremd blieb, so blieb er doch gewissen Irrwegen des Gemüts nicht fremd. Er liebte, sich in die dunkeln, über unsere Natur hinausreichenden Rätsel zu vertiefen, welche der menschliche Geist keck aus der Wirklichkeit der Dinge heraufbeschworen hat. –

»Ein Totenkleid zu spinnen aus Gedanken,
Zum Schutze ihm vor dieses Lebens Licht,
Das scheint zu sein und ist doch nicht,
Und wenn es ist, nur ist ein bittrer Spott
Auf unsers Busens still geglaubten Gott;
Den Mißlaut schmähen dieser argen Welt,
Die uns in ew'gen Irrgewinden hält;
Zergliedernd Plan und Absicht zu durchspähen
Von Menschen, die die Sonne nicht mehr sehen;
Hinauszublicken nach des Spieles Ende,
Wo wir Gevattern gleichen, die, um sichre Wände
Der Stürme Kampf vernehmend, seufzen – Doch nicht zittern.«

Vieles in ihm war ein Typus oder vielmehr Vorbote jener geistigen Richtung, die sich unter unsern Landsleuten kundgab, als wir Kinder waren, und jetzt unter dem Geräusch der Ereignisse und den alles verschlingenden Kämpfen einer neu erwachten Welt allmählich dahinstirbt. Aber in einer Hinsicht stand er erhaben über dem ganzen Kreise seiner Genossen – in der starren Gleichgiltigkeit gegen äußere Ehren und in der Verachtung des Nachruhms. Wie einige Philosophen das Weltall für einen Traum und nur das Ich für die wahre Wirklichkeit zu halten schienen, so schien er in seinem strengen, gesammelten Vertrauen auf das eigene Gemüt, worin wirklich der Keim zu jeglicher Hilfsquelle lag, deren er zum Dasein bedurfte, den Prunk der Welt für ein Schattengebilde, und das Leben des eigenen Geistes für das einzig wahrhaft Seiende zu nehmen. Im SchinarSo hieß die Gegend, worin nach 1. Mos. 11, 2-4, die Stadt und der Turm Babel erbaut wurden, übrigens erst nach der großen Überschwemmung. D. Übers. seines Herzens hatte er eine Stadt und einen Turm gebaut, von wo aus er unverletzt und unerschüttert auf die Überschwemmung hinausblicken konnte, die über die übrige Erde hereinbrach.

Nur in einer einzigen Beziehung und, wie wir gesehen, erst nach manchem Kampfe, hatte er den Gefühlen, von welchen die übrige Menschheit bewegt wird, nachgegeben und sich der Übermacht eines fremden Wesens unterworfen. Dies geschah im Widerspruch mit seiner Theorie – aber welche Theorie wäre je der Liebe widerstanden? Indem er jedoch so weit das Feld geräumt, schien er mehr als je gegen ein weiteres Vordringen des Gegners auf seiner Hut zu sein. Er hatte einen »guten Geist« als »Begleiter« zugelassen, aber es war nur geschehen, um mit desto tieferer Inbrunst auf die »Wüste« als seinen »Wohnort« hinzuweisen. – Der Graf legte, wie die meisten praktischen Menschenbeurteiler, jedem einzelnen gern die Beweggründe unter, welche die ganze Masse leiten, und gestand Ausnahmen nur mit Widerstreben und nicht ohne einigen Unglauben zu, oder fühlte sich mindestens, wenn ihm ein Beispiel von Überspanntheit vorkam, gedrängt, dessen besondere Fäden zu entwickeln und es dadurch wieder zur allgemeinen Regel herabzuziehen. Zu seinem geheimen Triumph hatte er jetzt gefunden, daß Aram dem Eindringen einer Leidenschaft in seinen gerühmten Kreis der Gleichgiltigkeit nicht zu widerstehen vermocht, und sich eingebildet, er würde, da der Zauber nun einmal gebrochen, den Gelehrten leicht dazu vermögen, auch noch eine zweite und dritte Leidenschaft in jenen Kreis aufzunehmen. Mit Verwunderung und Verlegenheit sah er bis jetzt sich in dieser Voraussetzung getauscht.

Lord ... war vor kurzem ins Ministerium berufen worden, und ließ es sich besonders angelegen sein, sich die Hilfe jedes Talents zu sichern, das er für seinen Dienst anzuwerben vermochte. Es war die Zeit eines sehr lebhaften Parteikampfes, und vereinzelte politische Schriften hatten damals noch eine Wichtigkeit, welche jetzt der periodischen Presse fast als ausschließliches Eigentum zukommt. Von seiten der Opposition hatten Schriftsteller von großem Namen und Talent bedeutend gewirkt, und der Graf wünschte daher natürlich, daß denselben von der Seite, zu welcher er sich geschlagen, ein ebenso glänzender Geistesreichtum entgegengesetzt werden möge. Schon der Name Eugen Arams würde in jenen Tagen, wo die Gelehrsamkeit in so hohem Ansehen stand, kein gewöhnlicher Gewinn für die Partei des Grafen gewesen sein, aber dieser verständige, tiefblickende Mann begriff überdies, daß Arams Talente, seine vielseitige Bildung, sein umfassender Blick, die Schärfe und Leichtigkeit seiner Dialektik und die Kraft und Wärme seiner Beredsamkeit von einem Gewicht werden könnten, welches über das Maß, wozu der bloße, wenn auch noch so berühmte Name eines in der Zurückgezogenheit lebenden Gelehrten berechtigte, weit hinausging. Er handelte daher, wenn er demselben große Aufmerksamkeit bewies und neugierig war, seine Verachtung alles weltlichen Treibens und aller weltlichen Versuchung auf die Probe zu stellen, nicht ohne Gründe des eigenen Interesses. Er glaubte nicht anders, als daß für einen Mann von geringem Vermögen und kleinen äußern Verhältnissen, der, seiner höheren Fähigkeiten sich bewußt, eben daran war, seine Bedürfnisse durch eine Verbindung mit einem zweiten Wesen zu vermehren, und welcher das Alter erreicht hatte, wo Berechnungen des Eigennutzes und Einflüsterungen des Ehrgeizes in der Regel eine größere Macht üben – er glaubte nicht anders, als daß für einen solchen Mann die schlummernde Aussicht auf Erhöhung seiner gesellschaftlichen Stellung, die Hoffnung auf ein bedeutendes Vermögen und der mächtige, glänzende Einfluß, welchen die politische Laufbahn in England demjenigen darbietet, welcher darin Auszeichnung sucht, beinahe unwiderstehlich sein würden.

Im Verlauf der folgenden Woche nahm er mehrmals Gelegenheit, sein Gespräch mit Aram zu erneuern, und es geschickt nach der Seite hinzuwenden, die er zu Hervorbringung des gewünschten Eindrucks am geeignetsten hielt. Er fühlte sich in seinem Vorhaben etwas zurückgedrängt, aber keineswegs entmutigt; jedoch beschloß er sein schließliches Anerbieten zu verschieben, bis es unter den günstigsten Umständen gemacht werden könne. Er hatte den Lesters das Versprechen abgenommen, einen Tag in seinem Schlosse zuzubringen, und mit großer Schwierigkeit und nur, indem Madeline sich eifrigst ins Mittel legte, war Aram vermocht worden, sich ihnen anzuschließen. So außerordentlich war die Abneigung des letzteren gegen die Gesellschaft im allgemeinen, und so unabänderlich hatte er seit mehreren Jahren aus irgend einem Grunde, der denn doch erheblicher sein mußte als bloße Blödigkeit des Temperaments, jeder Versuchung dieser Art widerstanden, daß seine Zusage, so natürlich sie jetzt durch die bevorstehende Verheiratung mit einer Dame aus dem beim Grafen sich versammelnden Kreise erschien, ihn gleichwohl mit einer ordentlichen Bangigkeit, einer üblen Ahnung erfüllte. Es war, als sollte er die ihm von irgend einem Gesetz gezogenen Grenzen überschreiten, von dessen Beobachtung die freie Verfügung über sein ganzes Dasein abhing. Ein Zittern hatte ihn befallen, sobald er das Versprechen gegeben; hastig hatte er das Zimmer verlassen und bis zum Eintritt jenes Tages nahmen seine Freunde im Herrenhause eine größere Verdüsterung und Abgeschlossenheit seines Wesens wahr, als sie je früher, selbst in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, an ihm gesehen. Als sie endlich aufs Schloß fuhren, bemerkte Madeline mit schmerzlicher Reue über ihr Zureden, daß er kalt und in sich gekehrt neben ihr saß, und daß, als sein Auge einigemal längere Zeit auf ihr ruhte, ein Ausdruck des Vorwurfes und Mißtrauens in demselben lag.

Erst beim Eintreten in die große Halle des gräflichen Schlosses, wo eine gewöhnliche Schüchternheit sich am tiefsten herabgedrückt gefühlt haben würde, faßte sich Aram wieder. Der Graf stand, von einer größeren Gruppe umgeben, in der Vertiefung eines Saalfensters, das sich gegen eine geräumige, prachtvolle Terrasse hin öffnete. Er trat den Ankommenden mit jener feinen, Zutrauen erweckenden Zuvorkommenheit, die er gegen alle beobachtete, die niederen Ranges waren als er, entgegen, sagte den Schwestern einige Artigkeiten und hatte mit Lester seinen Spaß; nur gegen Aram zeigte er weniger die Höflichkeit bloßen Wohlwollens, als vielmehr wirklicher Ehrfurcht. Ihn am Arm nehmend und denselben sanft an sich drückend, führte er ihn zu der Gruppe am Fenster. Diese bestand aus Männern, die im öffentlichen Leben die ausgezeichnetsten Stellen einnahmen, unter ihnen (der Graf selbst war durch einen illegitimen Zweig mit dem regierenden Monarchen verwandt) ein Prinz von königlichem Geblüt.

Er hatte die Gesellschaft auf den Ankömmling vorbereitet und stellte nun Aram jedem einzelnen mit Gewandtheit und Grazie vor. Dann trat er einige Schritte zurück und beobachtete mit aufmerksamem wiewohl anscheinend gleichgültigem Blick die Wirkung, die ein so unvermutetes Zusammentreffen mit dem Königshause selbst auf den scheuen, vereinsamten Gelehrten hervorbringen würde, dem er geflissentlich imponieren, den er überwältigen wollte. Hier jedoch bewährte sich Arams angeborene Würde, die durch seine Studien, so geringen Bezug auf die Welt diese hatten, notwendig nur vermehrt worden sein konnte, in einer Probe, die, so armselig sie auf dem abstrakten Standpunkte eines Philosophen erscheinen mochte, in den Augen des klugen, weltgeübten Hofmannes keineswegs für unbedeutend galt. Mit gewohnter Bescheidenheit, nicht aber mit der bei dergleichen Anlassen an ihm sonst wohl gewöhnlichen Verblüfftheit und blöden Zurückhaltung nahm Aram die ihm dargebrachten Lobsprüche auf. Ein nicht ungefälliger Stolz gesellte sich zu der Einfachheit seines Wesens; keine Unsicherheit des Benehmens deutete an, daß er durch seine Umgebung irgendwie geblendet oder gedemütigt sei, und der Lord mußte zugestehen, daß ihm zur Vergleichung der Aristokratie des Geistes mit derjenigen der Geburt nie eine günstigere Gelegenheit vorgekommen. Es war einer von jenen sich unaufhörlich wiederholenden Triumphen des Verstandes, die uns mehr erfreuen, als es der einzelne Fall eigentlich verdient; denn im ganzen sind sie viel gewöhnlicher als Hofleute glauben wollen.

Gleichwohl überließ Lord ... den Gelehrten nicht lange ohne Unterstützung der eigenen Geistesgegenwart und Gemütsruhe. Hinzutretend, leitete er das Gespräch mit seinem gewöhnlichen Takt auf einen Gegenstand, der jenem zugleich angenehm sein und Gelegenheit geben mußte, sich in einem glänzenden Lichte zu zeigen. Er hatte aus Italien einige der schönsten Meisterwerke des antiken Meißels mitgebracht, die England gegenwärtig besitzt. Sie standen in Nischen um das prächtige Gemach her, worin die Gäste versammelt waren; indem der Graf sie zeigte und ein jedes mit irgend einer schönen Anekdote oder sinnvollen Anspielung aus dem Altertum erläuterte, hoffte er Aram einen zuvor nie erlebten Genuß zu gewähren, in dessen Ausdruck dieser sofort die ganze Anmut und Fülle seiner Geistesbildung niederlegen könnte. Wirklich täuschte er sich keineswegs. Die Wange, die bisher ihre stete Blässe bewahrt hatte, erglühte von Begeisterung, und nach wenigen Augenblicken fand sich niemand in der Gesellschaft, der nicht gefühlt und mit Vergnügen gefühlt hätte, wie erhaben über alle der eine dastand, der nach Geburt und Reichtum ohne Vergleich der geringste war.

Der englische Adel, was auch die Fehler seiner Erziehung sein mögen – und allerdings ist die Zahl dieser Fehler Legion! – hat mindestens das Verdienst, für den Besitz klassischer Bildung empfänglich zu sein und sich für den Besitzer leicht eingenommen zu fühlen. Ja, es wäre möglich, daß eben aus diesem Verdienst viele der vorerwähnten Fehler entsprängen: die Aristokratie ist zu bereitwillig, jedes Talent nach dem klassischen Maßstab und jede Theorie nach der Erfahrung der Alten zu beurteilen. Ohne – (einige wenige Beispiele ausgenommen) – sich irgend einer tieferen Bildung rühmen zu können, ist der englische Edelmann bei weitem empfänglicher für den Spiritus Camoenae, als derjenige irgend einer andern Nation. Mit Luft und Leichtigkeit denkt er sich in jene Studien zurück, die, wenn er sie in der Jugend auch mit keinem sonderlichen Fleiß betrieben hat, doch noch mit all den lieblichen Erinnerungen aus der Kinderzeit verflochten sind – mit jenem Preis, den er als Schulknabe gewann; mit jenem Lob, das der Lehrer spendete; mit dem ersten Ehrgeiz und mit dessen ersten Belohnung. Eine glücklich angeführte Stelle, eine zarte Anspielung ist vor seinem Ohr niemals verloren, und die Ehrfurcht, welche er zu Eton vor dem besten Versekünstler in der Schule hatte, giebt fürs ganze Leben seinem Urteil über andere die Färbung, und fügt seiner Bewunderung desjenigen, der klassische Bildung mit der Gewandtheit eines Gelehrten, nicht der Ungelenkheit eines Pedanten anzuwenden versteht, eine gewisse persönliche Zuneigung und Hochachtung bei. Es liegt eine Art anmutiger Begriffsverwirrung in seinem Respekt vor einem solchen Mann; unwillkürlich ist er geneigt, ihn sich als einen Menschen von hoher Geburt – und noch obendrein »als einen ganzen Kerl« – zu denken.

So hätte denn Aram auf keinen Gegenstand geraten können, der geeigneter gewesen wäre, das unwillkürliche Interesse derjenigen anzuregen, mit welchen er sich unterhielt, Männern, die von gebildeterem Geist als gewöhnlich, und (durch jene Schärfung des Gefühls für wirkliches Talent, welche infolge langer politischer Kämpfe sich bildet) mehr im stände waren, nicht nur seine Gaben, sondern auch die Leichtigkeit, womit dieselben in Anwendung gebracht wurden, zu würdigen.

»Sie haben recht, mein Lord,« sagte Sir – der Einpeitscher der ...schen Partei – indem er den Grafen beiseite nahm, »er würde unschätzbare Flugschriften verfassen.«

»Könnten Sie ihn drankriegen, uns einen kurzen Abriß des Standes der Parteien zu schreiben – hell, beredt?« flüsterte ein Kammerherr.

Der Lord antwortete mit einem Bonmot und wandte sich zu einer Büste Caracallas.

Die Stunden des geselligen Verkehrs waren damals (wenigstens auf dem Lande) noch nicht spät hinausgerückt und der Graf hatte zu den ersten gehört, welche die feinere Sitte Frankreichs einführten, wonach wir der Gesellschaft der Frauen einen Vorzug vor derjenigen unseres eigenen Geschlechts einräumen. So war es denn, als man sich vom Essen erhob, noch zeitig genug, daß der größere Teil der Gäste auf die Terrasse hinausgehen und die ausgedehnte Fernsicht bewundern konnte, über welche der dünne Schleier des Zwielichts jetzt eben hinzuziehen anfing.

Nachdem der Graf seinen königlichen Gast glücklich an einen Whisttisch gebracht und sich dadurch die Hände frei gemacht hatte, lud er Aram ein, ihm zu folgen. Noch schlenderte er einige Minuten unter den auf der Terrasse Versammelten umher und stieg dann mit jenem eine breite Treppe hinab, welche sie in einen versteckteren, dunkleren Gang brachte. Auf beiden Seiten hauchten Reihen von Orangenbäumen ihren Wohlgeruch aus, während zur Rechten auf überraschende Art zahlreiche Lücken in das dichte, mehr regelmäßige Laubwerk geschnitten waren, durch welche man bald eine ländliche Statue, bald einen einsamen Tempel, bald einen zierlichen Springbrunnen gewahrte, in dessen Strahlen eben die ersten Sterne zu zittern begannen.

Es war einer der prachtvollen, in dem imposanten Geschmack von Versailles angelegten Gärten, die zu verschreien jetzt an der Tagesordnung ist, welche aber so ganz im Geist eines Palastes gedacht sind. Ich gebe zu, daß sie die Natur mit zu verschwenderischem Reiz überfüllen; aber zeigt sich die Schönheit gerade immer am besten im Hauskleide? Und welche heitere Erinnerungen und Anspielungen gesellen sich, Hand in Hand mit dem unmittelbaren Eindruck der Natur, ihrer etwas üppigen Anmut bei! Müssen wir denn just die Malaria Roms atmen, um das Interesse fühlen zu dürfen, das sich an Fontänen und Bildsäulen knüpft?

»Es freut mich,« sagte der Graf, »daß Sie meine Büste Ciceros bewundert haben; sie ist einem erst neuester Zeit entdeckten Urbilde entnommen. Welche Größe in der Stirn! welche Kraft im Munde und dem abwärts gesenkten Kopfe! Schon die Vorstellung, die Hülle eines so glänzenden Geistes vor Augen zu haben, gewährt Vergnügen; und gestehen Sie immerhin, mindestens in Bezug auf Cicero, daß Sie beim Lesen der Ergüsse und Bestrebungen seines Gemütes Ihre Unempfindlichkeit gegen den Ruhm dahinschmelzen fühlten, daß Sie mit ihm den Wunsch, für die Zukunft zu leben, – die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, geteilt haben?«

»War es nicht diese Sehnsucht,« entgegnete Aram, »welche dem Charakter Ciceros seine ärmlichste und unmännlichste Schwäche aufdrückte? Hat sie ihn nicht bei allem Ruhm, den er trotz dieser Schwäche behauptet, zum Sprichwort im Munde jedes Schulknaben gemacht? Hören Sie nicht, sobald Sie sein Genie erwähnen, auch einen Zusatz über seine Eitelkeit?«

»Würde er aber ohne diese Eitelkeit, ohne dieses Verlangen nach einem Namen bei der Nachwelt ebenso groß gewesen sein, sein Genie in gleichem Maß ausgebildet haben!«

»Sein Genie, mein Lord, würde er wahrscheinlich minder ausgebildet haben, könnte aber in der That dennoch ebenso groß gewesen sein. Oft thut ein Mann durch das, was sein Genie steigert, seinem Geiste Schmach an. Sie halten das für eine Paradoxie? prüfen Sie dieselbe. Wie viele Männer von Genie sind nur gewöhnliche Menschen, sobald der besondere Gegenstand, worin sie glänzen, von ihnen genommen wird. Was beweist dies sonst, als daß, indem sie einen Zweig ihres Geistes ausbildeten, sie die übrigen Zweige vernachlässigten? Ja, sogar Hemmungen der Vernunft haben mitunter die Phantasie entzündet. Lukrez hat sein erhabenes Gedicht unter dem Einflusse des Wahnsinns abgefaßt. Die besonderen Neigungen, die wir bei Verfolgung eines vereinzelten Gegenstandes in uns erschaffen oder ausbilden, schwächen unsere allgemeine Vernunft, und mit einigem Recht möcht' ich wohl die Fähigkeiten des Geistes mit den Kräften des Körpers vergleichen, in welchem z.B. durch ungleiche Stärke der Augen ein Schielen, und durch dieselbe Ungleichheit des Gehörs Mißtönigkeit der Stimme hervorgebracht wird.«

»Ich glaube, Sie haben recht,« sagte der Graf, »aber ich gestehe, daß ich dem Cicero seine Eitelkeit mit Freuden nachsehe, wenn sie zur Hervorbringung seiner Reden und Abhandlungen beitrug. Wie sehr auch die Eitelkeit ihn übermeistert, ist er mir darum doch ein größerer Mann, als wenn er die Schwäche bemeistert, dadurch aber seinem Genie den Anreiz genommen hätte.«

»Ein größerer Mann in den Augen der Welt, mein Lord, aber schwerlich in der Wirklichkeit. Wenn Homer seine Ilias, nachdem er sie geschrieben, verbrannt hätte, wäre deshalb sein Genie minder groß gewesen? Die Welt würde nichts von ihm erfahren haben, aber würd' er darum ein weniger außerordentlicher Mann gewesen sein? Wir sind gar zu sehr geneigt, Mylord, Größe und Ruhm zu verwechseln.«

»Ein Umstand sollte unsere Ehrfurcht vor großen Namen bedeutend vermindern,« setzte Aram nach einer Pause hinzu. »Verirrungen im Leben wie Schwächen des Charakters sind oft die eigentlichen Hebel der Berühmtheit. Ich zweifle, ob Heinrich IV. ohne seine Verirrungen der Abgott seines Volkes geworden wäre. Wie viele Whartons hat die Welt gesehen, die, hätte man sie ihrer Schwächen beraubt, auch ihr Ansehen verloren haben würden! – Das Licht, das diesen angenehmen Eindruck auf Sie macht, fällt nur wegen der Winkel und Unebenheiten des Körpers, von dem es ausströmt, nach einiger Zeit in Ihr Auge. Wäre die Oberfläche des Mondes glatt, so würd' er für uns unsichtbar sein.«

»Ich bewundere Ihre Beweisführung,« sagte der Graf, »aber nur mit Widerstreben unterwerf' ich mich Ihren Schlüssen. Sie wollten also Ihre Fähigkeiten vernachlässigen, damit Sie durch dieselben nicht zu Verirrungen verlockt werden?«

»Verzeihen Sie, mein Lord: weil ich glaube, alle Fähigkeiten sollten ausgebildet werden, bin ich gegen die ausschließliche Ausbildung einer einzigen, und nur weil ich den ganzen Geist kräftigen möchte, weiche ich von der Meinung derjenigen ab, die da raten, nur dem Genius zu folgen.«

»Aber könnte nicht gerade Ihr Genius der Menschheit größeren Nutzen bringen, als die von Ihnen bezweckte allgemeine Ausbildung des Geistes?«

»Mylord,« erwiderte Aram mit einer düstern Wolke auf der Stirn, »dieser Beweggrund dürfte Gewicht für diejenigen haben, welche, wenn sie auch über diese oder jene persönliche Wirksamkeit häufig genug sich täuschen mögen, wenigstens glauben, man könne sich wirklich dem Dienst der Menschheit widmen. Aber wahrhaftig, dieses ewige Gerede von »Menschheit« will nichts sagen: jeder von uns hat sein eigenes Glück im Auge, und wir betrachten denjenigen als einen Wahnsinnigen, der den Frieden des eigenen Gemüts um philanthropischer Grillen willen zerstört.«

Das war eine Behauptung, welche dem Lord halb gefiel, halb mißfiel: – sie ließ die höchst gefährlichen Überzeugungen durchschimmern, welche Aram nährte.

»Gut, gut,« sagte der vornehme Wirt, als nach kurzem Kampf über die Richtigkeit der letzten Bemerkung des Gastes beide wieder auf dem Punkte ankamen, von welchem sie ausgegangen waren; – »lassen Sie uns diese allgemeinen Erörterungen abbrechen, ich habe Ihnen einen besondern Vorschlag zu machen. Wir haben, hoff' ich, genug von einander gesehen, um die Überzeugung zu nähren, daß wir die Grundlage gegenseitiger Achtung mit Sicherheit legen können. Was mich betrifft, so bekenn' ich frei, daß mir nie jemand vorgekommen, der mir eine aufrichtigere Bewunderung eingeflößt hätte. Ich wünschte. Ihre Talente und umfassenden Kenntnisse möchten im ausgedehntesten Kreise bekannt werden. Mögen Sie den Ruhm verachten, so müssen Sie doch Ihren Freunden die Schwäche gestatten, Ihnen Anerkennung, sich selbst einen Triumph zu wünschen. Meine Stellung im gegenwärtigen Ministerium ist Ihnen bekannt; das Amt meines Sekretärs verschafft Ihnen von seiten der Regierung großes Zutrauen, einen gewissen persönlichen Einfluß und eine sehr bedeutende Besoldung. Ich biete es Ihnen an – willigen Sie ein, und Sie werden mich dadurch ehren und verbinden. Sie werden Ihr eigenes Haus oder eine Zimmerreihe in dem meinigen erhalten, die lediglich zu Ihrem Gebrauch dienen soll. Nie soll dieses Heiligtum Ihres Privatlebens irgend einer Störung unterworfen sein. Jede Einrichtung für Sie und Ihre Braut soll getroffen werden, welche das eine oder andere von Ihnen immer wünschen mag. Muße zu ihren eigenen Studien sollen Sie dabei im Überfluß haben, – es sind andere da, die alles ausführen werden, was Ihnen bei Ihrem Amt unbequem sein dürfte. In London werden Sie die ausgezeichnetsten Männer aller Nationen und jeden Berufs um sich sehen. Sollten Sie (was, glauben Sie mir, wohl möglich wäre – es ist ein verführerisches Spiel), sollten Sie Neigung zur politischen Laufbahn gewinnen, so bietet sich Ihnen dazu die glänzendste Gelegenheit dar, und ich sage Ihnen den ausgezeichnetsten Erfolg voraus. – Warten Sie noch einen Augenblick: – Sie sind mir hierfür keinen Dank schuldig. Fühlte ich auch nicht, daß ich bei diesem Vorschlag in meinem eigenen Interesse handelte, so wäre ich schon Hofmann genug, Ihnen eine solche Äußerung nicht zu gestatten.«

»Mylord,« erwiderte Aram mit einem Ton, der trotz seiner Ruhe seine innere Bewegung deutlich verriet, »selten wird ein Mann von meiner abgeschlossenen Lebensweise und unscheinbaren Beschäftigung in den Fall kommen, daß seine Philosophie auf eine so strenge Probe gestellt wird. Ich bin Ihnen dankbar, aufs innigste dankbar für ein so glänzendes, so unverdientes Anerbieten. Ich bin Ihnen noch dankbarer, daß mir dasselbe Gelegenheit gab, die Stärke des eigenen Herzens zu prüfen und zu finden, daß ich diese nicht zu hoch angeschlagen hatte. Blicken Sie, Mylord, von hier aus (der Mond war aufgegangen und das Paar auf die Terrasse zurückgekehrt) in das Thal hinab; fern unter jenen Bäumen liegt mein Haus. Vor etwas über zwei Jahren kam ich dorthin, hier den Ruheplatz eines müden, abgequälten Geistes aufzuschlagen. All' meine Wünsche und Hoffnungen sind in jenen Raum zusammengedrängt, und dort möchte ich meinen letzten Atem aushauchen! Mein Lord, nicht für undankbar werden Sie mich halten, daß meine Wahl bereits getroffen ist, und wenigstens werden Sie meinen Beweggrund nicht tadeln, wenn Sie auch von meiner Lebensklugheit sehr gering denken dürften.«

»Aber,« erwiderte der Lord, nicht wenig überrascht, »Sie können nicht all die Vorteile vorhersehen, auf die Sie Verzicht leisten wollen. In Ihrem Alter, bei Ihrer Geisteskraft das lebendige Grab einer Einsiedelei wählen – es war weise, ein solches ertragen zu können, nicht aber es vorzuziehen! Nein! nein! überlegen Sie – nehmen Sie sich Zeit. Ich bedarf keines schnellen Entschlusses. Und welche Vorteile hätten Sie endlich in Ihrer Abgeschiedenheit, die Sie nicht in noch höherem Grade bei mir fänden? Stille? ich verbürg' sie Ihnen unter meinem Dach. – Einsamkeit? – Sie sollen sie haben, so oft Sie wollen. Bücher? – was sind die, welche Sie, welche überhaupt irgend ein einzelner Mensch besitzt, gegen die öffentlichen Anstalten, die prachtvollen Sammlungen der Hauptstadt? Was haben Sie sonst noch dort drüben, das sie nicht auch bei mir haben könnten?«

»Freiheit!« sagte Aram mit kraftvollem Ton, »Freiheit! das wohlthuende Gefühl der Unabhängigkeit. Könnt' ich die einsamen Sterne und die freie Luft gegen die armen Lichter, den krankhaften Dunstkreis des Weltlebens vertauschen? Könnt' ich meine Seele mit ihrer tausendfachen Schwärmerei und Launenhaftigkeit – ihren Wolken und Schatten – dem Auge des Fremden bloßstellen, oder durch die Bürde einer ewigen Heuchelei vor seinem Blick verhüllen? Nein, mein Lord! ich bin zu alt, um noch in die Schule der Welt zu gehen! Sie sagen mir Einsamkeit, Stille zu. Welchen Reiz würden diese Güter für mich haben, wenn ich fühlte, daß ich sie der Großmut eines andern verdanke? Nur in ihrer Unabhängigkeit liegt das Anziehende der Stille. Sie bieten mir den Kreis, aber nicht mit ihm den Zauber, der ihm seine Weihe giebt. Bücher! Vor Jahren würden diese mich verlockt haben, aber die, deren Weisheit ich bereits eingesogen, haben mich jetzt beinah genug gelehrt und jene zwei, die nie erschöpft werden können – die Natur und das eigene Herz – werden ausreichen für den Rest meines Lebens. Mylord, ich fordere keine Bedenkzeit.«

»Und Sie weisen also mein Anerbieten wirklich zurück?«

»Weise es zurück mit dem tiefsten Dank!«

Der Graf ging im Augenblick unmutig ein paar Schritte weiter; aber es lag nicht in seiner Natur, länger die Herrschaft über sich zu verlieren.

»Herr Aram,« sagte er mit offenem Ton und reichte ihm die Hand, »Sie haben, wenn nicht klug, doch edel gewählt, und kann ich Ihnen nicht verzeihen, daß Sie mich eines solchen Gefährten berauben, so dank' ich Ihnen doch für die Lehre, die Sie mir gegeben. Von nun an will ich glauben, daß die Philosophie auch in der Ausübung vorkommen mag, und daß Verachtung des Reichtums und der Ehre nicht bloß ein Bekenntnis des Mißmutes ist. In einem wechselvollen, erfahrungsreichen Leben hab' ich heut' zum erstenmal einen Mann gefunden, der gegen die Verlockungen der Welt wirklich taub ist – und einen Mann von welchen Fähigkeiten! Sollten Sie je Ursache haben, eine Ansicht, die ich her aller Erhabenheit stets noch für irrtümlich halte, zu ändern, so erinnern Sie sich meiner: und zu jeder Zeit und bei jeder Gelegenheit,« setzte er lächelnd hinzu, »wo ein Freund ein notwendiges Übel wird, gedenken Sie unseres Mondscheinspazierganges auf der Schloßterrasse.«

Aram erwähnte das eben berichtete Gespräch weder gegen Lester, noch selbst gegen Madeline. Den ganzen folgenden Tag schloß er sich zu Hause ein, und als er wieder bei Lesters erschien, hörte er mit sichtbarem Vergnügen, daß der Graf in. Staatsgeschäften plötzlich nach London berufen worden sei.

Es war eine unerklärliche Reizbarkeit in Arams Gemüt;, die ihn unmutig – argwöhnisch gegen jeden machte, der ihn seiner Einsamkeit zu entreißen suchte. »Dem Himmel sei Dank,« dachte er, wie er die Abreise des Grafen vernahm, »wir werden uns in einem Jahr nicht wieder zu Gesicht bekommen.« Er verrechnete sich. – Ein Jahr! –


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