Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Elftes Kapitel.

Trauer eines verwilderten Menschen. – Das Zimmer einer früh Verstorbenen. – Ein einfaches aber wichtiges Geständnis. – Das Geheimnis der Erde. – Die Höhle. – Die Anklage.

»Es taugt nicht alles; ich vermute was
Von argen Ränken.«

Verruchte That dringt auf zum Menschenauge,
Drückt auch die ganze Erde auf sie nieder.
Hamlet.

Indem sie durch die Straße hingingen, bemerkten sie einige Personen vor der Thür eines gewöhnlichen Hauses, dessen Läden zum Teil verschlossen waren.

»Es ist,« sagte der Pfarrer, »das Gebäude, worin Hausmans Tochter starb. Armes, armes Kind! Doch warum um die Jugend trauern? Besser, daß das lichte Wölkchen mit dem Morgenhauch in den Himmel verschwimme, als daß es sich durch den mühevollen Tag durcharbeitet, um zum finstern Gewölk zu verdichten und in Sturm zu enden!«

»Ach Herr!« sagte ein alter, auf seinen Stock gelehnter Mann, indem er den Hut ehrerbietig vor dem Pfarrer abzog, »drinnen ist der Vater und jammert bitterlich. Er treibt alles aus dem Zimmer und sitzt ächzend am Bett, als ob ihm der Verstand ausgehen wollte. Möchten Euer Ehrwürden nicht ein wenig zu ihm hineintreten?«

Der Pfarrer sah Walter fragend an.

»Vielleicht.« sagte letzterer, »ist es besser, wenn Sie allein hineingehen. Ich will hier außen warten.«

Während der Pfarrer noch zögerte, hörten sie eine Stimme im Gange und gleich darauf erschien Hausman am entfernten Ende desselben, wo er mit heftigen Gebärden einige Frauen vor sich hertrieb.

»Ich sag' euch, ihr Höllengezücht,« kreischte seine rauhe, jetzt besonders hoch angespannte Stimme, »ihr habt sie sterben lassen. Warum habt ihr nicht nach London um Ärzte geschickt? Bin ich nicht reich genug, meines Kindes Leben um jeden Preis zu erkaufen? Beim lebendigen Gott! Euren ganzen Leib wollt' ich in Gold verwandelt haben, wenn ihr mir sie gerettet hättet. Aber sie ist tot! Und ich – aus meinen Augen! – aus meinem Wege!« Und mit geballten Fäusten, gerunzelter Stirn und unbedecktem Kopf stürzte Hausman vor die Thür und Walter erkannte den Reisenden aus der vorigen Nacht. Dieser blieb beim Anblick des kleinen Menschentrupps plötzlich stehen und sah alle mit einem bösartigen, grimmigen Blick von der Seite an: »Recht brav – 's ist recht brav, Nachbarn!« rief er endlich mit wildem Gelächter. »Das heiß' ich gutherzig! Ihr seid gekommen, um Richard Hausman zu seiner Wiederkehr Glück zu wünschen, nicht wahr? Gut, gut! Nicht um seinen Jammer zu begaffen: behüt' der Herr! Nein! Ihr habt keine müßige Neugier – kein gaffender, spürender, schwatzender Teufel sitzt in euch, der euch triebe die Köpfe zusammenzustecken und Maulaffen feilzuhaben und zu plappern, wenn arme Menschen ins Elend kommen. Das alles ist pures Mitleid; und Hausman, der gute, sanfte, friedliche, ehrliche Hausman – ihr fühlt für ihn, ich weiß es! Hört ihr: packt euch – weg! – fort! lauft! – oder – ha ha! Da laufen sie – da laufen sie!« Damit lachte er von neuem wild auf, indem die Nachbarn entsetzt auseinanderstoben und bloß Walter und den Geistlichen bei dem kinderlosen Mann zurückließen.

»Trösten Sie sich, Hausman!« sagte Summers besänftigend. »Sie haben einen schweren Schlag erlitten. Ich kannte Ihr Kind wohl. Sie haben es vielleicht von mir sprechen hören. Gehen Sie mit uns hinein und versuchen Sie, welch himmlischer Trost im Gebet liegt.«

»Gebet! Pah! Ich bin Richard Hausman!«

»Giebt es irgend einen Menschen, für welchen das Gebet keinen Wert hätte?«

»Fort, Gleisner, fort! Mein hübsches Hannchen! – und sie legte ihre Hand auf meine Brust – und sah mir ins Gesicht – und so – starb sie!«

»Kommen Sie,« sagte der Pfarrer und faßte Hausmans Arm, »kommen Sie« –

Ehe er weiter fortfahren konnte, stieß ihn Hausman rauh auf die Seite und stürzte in sich hinein murmelnd die Straße hinab. Aber nach einigen Schritten kehrte er zurück, näherte sich dem Pfarrer und sprach in gefaßterem Ton: »Ich bitte Sie, Herr, da Sie ein Geistlicher sind (ich entsinne mich jetzt Ihres Gesichtes und erinnere mich, daß Hannchen mir gesagt, Sie seien gütig gegen sie gewesen) – ich bitte, gehen Sie hinein und sprechen ein paar Worte über der Leiche: aber halt: – bringen Sie meinen Namen nicht dazwischen; – Sie verstehen. Ich will nicht, daß Gott daran denkt, daß es einen Menschen giebt wie der, welcher jetzt mit Ihnen spricht. Holla!« (den Frauen zurufend): »Meinen Hut und Stock. Tralala! Trala! Warum sollen wir über so was thun, als ob wir von Sinnen kämen? Ein schöner Tag heut, Herr; werden einen späten Winter haben. Verdammt sei die Vettel, wie langsam sie ist. Ich hab' den Hut ja unten liegen lassen. Aber wenn ein Toter im Haus' ist, kommt gleich alles untereinander. Finden Sie das nicht auch?«

Hier brachte eines von den Weibern, blaß, zitternd und weinend, dem Elenden seinen Hut. Er setzte ihn bedächtig auf, verbeugte sich mit einem gräßlichen, krampfhaften Versuch zu lächeln, ging langsam fort und verschwand.

»Was für seltsame Verlarvungen der Schmerz wählt.« sagte der Pfarrer. »Es ist ein schauderhaftes Schauspiel, wenn er einem Mann dieses Schlages die Empfindungen des Herzens also abtrotzt! Aber verzeihen Sie, mein junger Freund, lassen Sie mich hier einen Augenblick verweilen.«

»Ich will mit Ihnen hineingehen,« sagte Walter. – Die beiden Männer traten in das Haus und nach wenigen Sekunden standen sie in dem Totenzimmer.

Das Gesicht der Verstorbenen hatte noch nicht die geringste Veränderung erlitten. Ihre kindlichen Züge waren still und heiter, und wäre der freundliche Mund nicht so gleichmäßig geblieben, so hätte man glauben mögen, sie bewege die Lippen zum Lächeln. So fein, schön und sanft war der Ausdruck dieses Antlitzes, daß man kaum begreifen konnte, wie ein solches Reis von solchem Stamme entsprossen sei, und nicht länger schien es ein Wunder, daß ein so junges, unschuldiges, liebenswürdiges und so früh verblichenes Wesen jene wilde, dunkle Natur gerührt hatte, die jedem andern sanften Gefühl den Zugang verwehrte. Der Pfarrer trocknete die Augen und bereitete sich mit zitternder, aber ernster Stimme, das Gebet für die Tote zu sprechen; und Walter, dessen Herz für weiche, liebevolle Empfindungen geöffnet war, kniete neben dem Bett nieder und fühlte, daß seine eigenen Augen naß wurden, als er die Hoffnung des Christen und die heilige Bitte nachsprach. Dieser Vorgang hatte in seiner Feierlichkeit noch etwas Eindringenderes und Ergreifenderes als das bloß äußere Pathos. Der Mensch, welcher jetzt neben Hausmaus totem Kinde kniete, war der Sohn des Mannes, als dessen Mörder Hausman vom Gerücht bezeichnet worden. – Der Kinderlose und der Vaterlose! Fand hier keine Wiedervergeltung statt?

Als die Zeremonie vorüber und der Pfarrer nebst Walter sich den unzusammenhängenden Segenswünschen und Wehklagen der Frauen des Hauses entzogen hatte, machten sich erstere, nur mit Mühe gegen den Eindruck ankämpfend, welchen der Auftritt in ihrem Gemüt zurückgelassen, von neuem an ihr Geschäft.

»Es ist jetzt der Augenblick nicht,« sagte Walter nachdenklich, »um Hausman zur Untersuchung zu ziehen. Gleichwohl darf dies nicht vergessen werden.«

Der Pfarrer schwieg eine zeitlang und entgegnete dann als Antwort auf Walters Bemerkung, daß die beabsichtigte Unterredung mit Arams ehemaliger Hauswirtin wohl einiges Licht auf den Gegenstand ihrer Nachforschungen werfen dürfte. So begaben sie sich denn nach einem andern Theil der Stadt, und langten bald vor einem vereinzelten Gebäude von verödetem Aussehen an. das schon in seinem Äußern etwas Ungewöhnliches, Trübes, ja Unheimliches zu tragen schien. Ich weiß nicht, worin es liegen mag, aber gewisse Häuser zeigen in ihrer äußeren Erscheinung einen Ausdruck, der geheimnisvoll aufs Herz fällt – sie reden eine schwere, beängstigende Sprache, die uns dunkel an die Seele greift. Wir sagen uns dann: irgend eine Geschichte muß an diesen Mauern kleben; irgend eine düstere Sage muß mit diesen stummen Steinen verkettet sein! Und im Hinschauen fühlen wir Grauen und Neugier zugleich uns überschleichen. Von solcher Gestalt war das Haus, auf welches der junge Wanderer jetzt blickte. Die Bauart entsprach einer frühern Zeit, wie man dies in alten Städten nicht selten findet. Giebelspitzen sprangen über das Dach empor; kleine, dumpfe, vergitterte Fenster senkten sich tief in die graue, verblichene Mauer, das Zaunwerk war zum großen Teil zerbrochen und angefressen und üppiges Unkraut schoß in dem vernachlässigten Garten auf, durch welchen sie dem Eingange zuschritten. Die Thür stand offen. Sie traten ein und fanden eine alte Frau gemeinen Aussehens neben dem Kamin, die mit jenem leeren Stieren in die Luft sah, welches Ruhe und Erholung des ungebildeten Armen so oft bezeichnet. Walter fühlte sich beim Anblick der einsamen Bewohnerin des einsamen Hauses durch einen unwillkürlichen Schauder zurückgestoßen.

»Heda, Herr!« rief sie mit schnarrender Stimme, »was giebt's? Oh! Herr Pfarrer, sind Sie's? Willkommen, Herr! Wollte, ich könnt' Ihnen 'n Gläschen von was anbieten, aber die Flasche ist zu End'; – hi, hi!« Damit wies sie mit widrigem Grinsen auf eine leere Flasche in einer Mauerwölbung des Kamins. »Weiß nicht, wie's kommt, nie hab' ich Lust zum Essen; aber so 'n Gläschen, das thut einem wohl!«

»Ihr wohnt schon lange in diesem Hause?« fragte der Pfarrer.

»Schon lange – einige dreißig Jahre und mehr.«

»Erinnert Ihr Euch an Euern Mieter, Herrn Aram?«

»O freilich – ja.«

»Ein trefflicher Mann!«

»Hm!«

»Ein wahres Wunder von einem Mann!«

»O – hm! er! – hm! Das ist, wie man's so nimmt.«

»Wie? Ihr scheint nicht so von ihm zu denken wie die ganze übrige Welt?«

»Ich weiß, was ich weiß.«

»Ach ja, ich entsinne mich; da habt Ihr, glaub' ich, so ein Ammenmärchen über ihn; aber Ihr konntet Euch niemals recht darüber ausweisen. Ihr erfandet es wohl nur, weil Ihr gern als gescheite Frau erscheinen möchtet; he?«

Die Alte schüttelte den Kopf und erwiderte, die Hände kreuzweis auf die Kniee gestützt, mit besonderem Nachdruck, aber mit leiser, flüsternder Stimme: »Ich könnt' ihn an den Galgen bringen!«

»Oho!«

»Sag' Ihnen, ich könnt's.«

»Nun, so laßt uns Euer Märchen hören!«

»Nein, nein! ich hab's noch niemandem anvertraut und möcht's auch nicht umsonst. Was wollen Sie mir geben? Machen Sie, daß es der Mühe wert ist.«

»Sagt uns alles ehrlich, unentstellt und ganz, und Ihr sollt fünf Guineen in Gold haben. Seht da, Frau.«

Durch diese Zusage aufgeregt, blickte die Alte fester um sich, als bisher der Fall gewesen, und murmelte, indem sie mit ihrem Stuhle hin und her rückte, in sich hinein: »Ei, ei! warum nicht? brauch' mich jetzt nicht zu fürchten? – beide fort; – können jetzt das alte arme Geschöpf nicht umbringen wie die Schurken mir mal drohten. Fünf goldne Guineen – fünf, sagen Sie, Herr – fünf?«

»Ja, und vielleicht daß unsere Freigebigkeit hierbei nicht stehenbleibt.«

Immer noch zögerte die Alte und immer noch murmelte sie in sich hinein; nach einigen weitern Vorbemerkungen und etwas weiterem Zuspruch von seiten des Pfarrers, was wir beides dem Leser ersparen, kam sie endlich zu folgendem Bericht:

»Es war am 7. Februar 44, ja 44, gegen sechs Uhr abends, denn ich wusch eben in der Küche, als Herr Aram rief und mich im obern Zimmer einheizen hieß, was ich that; drauf ging er aus. Mehrere Stunden nachher, es mochte so zwei Uhr morgens sein, lag ich wachend im Bett, denn ich hatte Zahnweh zum Erbarmen, und da hört' ich drunten einen Lärm und 'n paar Stimmen. Darüber erschrak ich jämmerlich und stand auf und sah Herrn Hausman und Herrn Clarke die Stiegen heraufkommen in Herrn Arams Stube, und Herr Aram kam hinterdrein. Sie schlossen sich ein und blieben wohl 'ne Stunde da. Nun konnt' ich mir nicht denken, was einen so scheuen und zurückhaltenden Herrn, wie Herrn Aram, bewegen konnte, zu so 'ner Stunde diese wilden Brausköpfe zu sich zu nehmen, und dacht', und dacht' hin und her, bis ich hörte, daß sie die Thür aufschlossen. Da horcht' ich durch mein Schlüsselloch, und Herr Clarke sagte: »Es wird bald hell, wir müssen fort.« Aber mit dem Schlaf war's bei mir aus, und ich stand vor fünf Uhr auf. Etwa um diese Stunde kamen Herr Aram und Herr Hausman zurück und stierten mich beide an, als wär's ihnen gar nicht recht, daß ich schon aus den Federn sei; und Herr Aram ging auf sein Zimmer, aber Herr Hausman wandte sich noch mal um und sah mich so schwarz an wie die Nacht. Der Herr erbarme sich meiner, noch seh' ich ihn vor mir! und ich fürchtete mich recht in die Seel' hinein und horchte am Schlüsselloch, und hörte wie Hausman sagte: ›Wenn das Weib hereinkommt, wird sie ausschwatzen.‹ ›Was kann sie ausschwatzen,‹ sagte Herr Aram, ›das arme, einfältige Ding weiß von nichts.‹ Drauf sagte Hausman wieder, sagt' er: ›Wenn sie auch nur angiebt, daß ich hier gewesen, so ist das schon genug. Aber‹ – und fluchte gotteslästerlich – ›wir wollen uns 'ne Gelegenheit aussehen, sie niederzuschießen.‹«

»Darüber erschrak ich so, daß ich wieder auf meine Stube schlich und mich nicht regte, bis sie wieder aus dem Haus waren, und dann –«

»Um welche Stunde war das?«

»Gegen sieben Uhr. Aber Sie bringen mich raus! wo blieb ich stehen? – Ja, da ging ich in Herrn Arams Zimmer, und sah, daß sie 'n Feuer angemacht hatten und daß alle Asche unterm Rost weggenommen war. Da schaut' ich nach 'm Auskehricht hinterm Haus, und fand dort die Asche richtig, und drunter etliche Fetzen Tuch und Linnen, die zu 'nem Anzug zu gehören schienen, und auch 'n Schnupftuch, das ich gar oft bei Hausmann gesehen (denn 's war 'n absonderliches Schnupftuch, ganz bunt gewürfelt) und in dem Schnupftuch war ein Blutfleck, so groß wie 'n Schilling. Und hernacher sah ich Hausman und zeigte ihm 's Schnupftuch und sagte: ›Was ist aus Clarke geworden?‹ und er runzelte die Stirn und schaute mich an und rief: ›Hört, ich versteh nicht, was Ihr damit meint, aber so gewiß der Teufel auf Seelen lauert, schieß ich Euch vor den Kopf, wenn Ihr noch ein einziges Wort über Clarke oder mich, oder Herrn Aram über Eure verdammte Zunge laßt. Seht Euch also vor!‹

»Da kam ich ganz außer mir und zitterte an jedem Glied und zwei ganze Jahre nachher (lange nachdem Hausman und Aram fort waren) war ich nicht imstande, auch nur die Lippen aufzuthun über die Geschichte. Und vor seiner Abreise sah mich Herr Aram bisweilen an, nicht so grimmwütig wie der Schurke Hausman, aber als wollt' er im Grund meines Herzens lesen. O, es war, als hätte man einen Berg von mir gewälzt, als er und Hausman die Stadt verließen, denn so wahr die Sonne scheint, ich glaub', nach dem, was ich eben gesagt, daß die beiden den Clarke in jener Februarnacht ermordet haben. Und jetzt, Herr Pfarrer, ist mir's leichter, als mir's in langer Zeit nicht war, und wenn ich früher nichts gesagt hab', so war's, weil ich an Hausmans Stirnrunzeln und an seine grausigen Worte dachte; aber so etwas schlüpfte mir dann und wann doch über die Zunge. denn es ist etwas Hartes, Herr, 'ne Heimlichkeit der Art auf 'm Herzen haben und dabei still zu bleiben, und gewiß und wahrhaftig ich war, nachdem ich's mal wußte, nicht derselbe Mensch wie vorher, denn ich wollt' mir die Gedanken auf alle Art aus 'm Kopf schlagen, und das ist der Grund, Herr, warum ich's gute Renommee verlor, das ich sonst hatte.«

Dies – etwas abgekürzt um die »Sagt' er« und »Sagt' ich,« um die Versetzungen und Wiederholungen – war die Geschichte, die Walter mit verhaltenem Atem anhörte. – Aber die Ereignisse drängen, die Fäden, die durch das Labyrinth führen, find nahe daran zusammenzulaufen.

»Jetzt sollten wir keinen Augenblick verlieren,« hob der Pfarrer an, als sie das Haus verließen. »Begeben wir uns gleich zu einem sehr tüchtigen Friedensrichter, bei welchem ich Sie einführen kann, und der eine kleine Strecke vor der Stadt wohnt.«

»Wie Sie wollen,« sagte Walter mit veränderter, hohler Stimme; »ich bin wie einer, der auf einem hohen Berge steht, von wo aus er den ganzen Schauplatz, den er zu durchwandern hat, vor sich ausgebreitet sieht, aber durch die erstiegene Höhe schwindlig und wirr ist. Ich weiß – ich fühle – daß ich am Rande furchtbarer, gräßlicher Entdeckungen stehe; – bitten Sie Gott ... aber achten Sie nicht auf meinen Zustand, mein Herr – achten Sie nicht auf mich – kommen Sie – kommen Sie!«

Es ging bereits gegen Abend; als sie sich in einiger Entfernung von der Stadt befanden, warf die Sonne ihre letzten Strahlen auf eine Gruppe Menschen, die sich hastig um einen Ort her zusammenzudrängen schienen, der in der Nachbarschaft von Knaresborough unter dem Namen »Distelhügel« wohl bekannt ist.

»Gehen wir dem Gedränge aus dem Wege,« sagte der Pfarrer; »übrigens wundere ich mich, was die Ursache davon sein mag.« Indem er noch sprach, eilten zwei Bauern an ihm vorüber dem Menschenhaufen zu.

»Was hat der Auflauf dort zu bedeuten?« fragte der Pfarrer.

»Kann nicht genau Auskunft geben, Euer Edeln, aber sie sagen, Jost Kinnings habe dort beim Steingraben für den Kalkofen eine große hölzerne Kiste aufgeschaufelt.« Ein Schrei aus der Gruppe unterbrach die Antwort des Landmanns; – ein plötzlicher allgemeiner Schrei, aber kein Schrei der Freude; etwas Entsetzliches, Grauenhaftes schien in dem Laut sich anzudeuten.

Walter sah den Pfarrer an; – es war. als zöge ein innerer Antrieb – ein plötzlicher Instinkt – beide unwillkürlich nach dem Ort, von wo sie den Ruf vernommen hatten; sie beeilten ihre Schritte – sie brachen sich Bahn durch das Gedränge. Eine hohe, gewaltsam aufgebrochene Kiste stand vor ihnen. Ihr Inhalt lag herausgeworfen auf dem Rasen: – ein verblichenes, moderndes Gerippe! Mehrere Knochen waren von dem Körper abgerissen. Ein allgemeines Durcheinanderreden der Zuschauer – Fragen – Vermuten – Besorgen – Verwundern lief wirr in der Runde. »Ja,« sagte ein alter Mann mit grauen Haaren, auf seine Hacke gelehnt, »'s ist jetzt vierzehn Jahre, seit der jüdische Krämer verschwand; – das sind wahrscheinlich seine Gebeine – es hieß damals, er sei totgeschlagen worden.«

»Nein,« kreischte ein Weib, indem sie ein Kind zurückriß, welches, allein von keinem Grauen erfaßt, die unheimlichen Überreste eben anrühren wollte– »nein, von dem Hausierer hat man nachher wieder gehört! Ich sag' euch, verlaßt euch drauf, das sind die Gebeine von Clarke – Daniel Clarke – nach welchem in unserer Kinderzeit hier herum so viel Suchens war!«

»Recht, Frau, recht! Es ist Clarkes Gerippe,« war der allgemeine Aufschrei. Walter drängte sich hervor, beugte sich über die Gebeine und winkte mit der Hand, als wollte er dieselben vor weiterer Entweihung schützen. Seine unvermutete Erscheinung – seine hohe Gestalt – seine wilden Gebärden – das Grauen – die Blässe – der Schmerz auf seinem Gesicht machten einen mächtigen Eindruck auf alle Anwesenden. Er blieb sprachlos und ein plötzliches Stillschweigen folgte auf den Lärm.

»Und was macht ihr Narren hier?« rief auf einmal eine Stimme. Die Zuschauer wandten sich – ein neuer Ankömmling hatte sich dem Haufen beigesellt; – es war Richard Hausman. Der lose an ihm hängende, unordentliche Anzug – die geröteten Wangen und rollenden Augen – deuteten auf die Trostquelle, zu welcher er gegen den Kummer seines Hauses Zuflucht genommen. »Was macht ihr hier?« rief er, indem er vorwärts taumelte. »Ha! Menschengebeine! Von wem glaubt ihr wohl, sind sie?«

»Von Clarke!« rief die Frau, welche diese Vermutung zuerst aufgebracht hatte. – »Ja, wir glauben, es sind Daniel Clarkes Gebeine, der vor vielen Jahren verschwunden ist!« schrieen mehrere durcheinander.

»Clarkes?« wiederholte Hausman, indem er sich niederbeugte und einen Schenkelknochen ergriff, der etwas entfernt von den übrigen lag; »Clarkes? – Ha! ha! es sind so wenig Clarkes Gebeine, als die meinigen!«

»Seht!« rief Walter mit einer über Hügel und Ebene hinschallenden Stimme und packte vorspringend Hausman mit übernatürlicher Gewalt: »Seht den Mörder!« Als hätte das rächende Wort des Himmels gesprochen, zuckte eine schaudernde blitzschnelle Überzeugung durch die Menge. Die ältern Zuschauer erinnerten sich auf einmal der Person Hausmans und des Verdachts, der sich an seinen Namen geknüpft hatte.

»Greift ihn, greift ihn!« brach es plötzlich aus zwanzig Kehlen hervor. »Hausman ist der Mörder.«

»Mörder?« stammelte Hausman, unter Walters eisernen Händen zitternd – »Mörder von wem? Ich sag' Euch, das sind nicht Clarkes Gebeine!«

»Und wo sind denn Clarkes Gebeine?« rief Walter.

Bleich – verwirrt – vom Gewissen geschlagen – halb vom Rausch, halb von Angst betäubt, warf Hausman einen geisterhaften Blick um sich her, und vor dem Auge eines jeden zurückfahrend, in dem Auge eines jeden seine Verdammung lesend, keuchte er hervor: – »Sucht in der St. Robertshöhle, in der Windung neben dem Eingänge.«

»Fort!« ertönte sogleich Walters tiefe Stimme – »fort! – Nach der Höhle – nach der Höhle!«

An den Ufern des Nidflusses, dessen Gewässer zu den überhängenden Felsen und Bäumen ewig hinaufmurmeln, ist eine tiefe, schaurige, in das Gestein eingesenkte Grotte, der Sage nach einst die Wohnung eines jener einsamen Schwärmer früherer Zeiten, die ihre öden Siedeleien in den rauhesten Winkeln der Erde aufschlugen und dem Vater der lieblichen Welt nur traurige Gedanken und bittere Büßungen zum freudlosen Opfer brachten. Zu diesem verlassenen Orte, der nach dem Namen seines einst berühmten Bewohners St. Robertshöhle heißt, eilte jetzt die Menge, indem ihre Zahl Schritt um Schritt anwuchs.

Der alte Mann, der Entdecker der unbekannten Überreste, die man zusammengelesen hatte und im Zuge mit forttrug, ging voran. Hausman, zwischen zwei starken, rüstigen Männern, kam unmittelbar nach ihm, und Walter, die Augen fest auf den Bösewicht geheftet, folgte ihm nach. Der Pfarrer hatte die Vorsicht gehabt, im voraus nach Fackeln zu schicken; denn schon dunkelte der Winterabend um sie her, und das Licht der Fackelträger, die sie an der Höhle erwarteten, warf seinen rötlichen, fahlen Schimmer in den Eingang der Kluft. Eine von den Leuchten ergriff sofort Walter selbst, und er war's, der den ersten Schritt in die düstere Grotte that. An diesem Ort und in diesem Augenblick wich Hausman, der, wie es geschienen, auf dem kurzen Wege eine Art verstockter Selbstbeherrschung gewonnen hatte, plötzlich zurück und dicke Tropfen der Angst und Todesqual fielen von seiner Stirn. Mit Gewalt wurde er in die Höhle hineingeschleppt; der Raum füllte sich sofort und die gegen die düstern Wände flackernden Fackeln beschienen Gesichter, welche von einer gemeinsamen Empfindung, wie von einer schnell ansteckenden Krankheit, tief und schaudernd durchdrungen, auch einen gemeinsamen Ausdruck darboten. Selbst für die wildeste Phantasie war es nicht möglich, einen Schauplatz zu denken, der dem unheimlichem Begräbnisorte eines ermordeten Menschen mehr entsprochen hätte.

Aller Augen wandten sich jetzt auf Hausman. Nachdem er' zweimal vergeblich zu sprechen versucht – denn die Worte starben in seinem Munde undeutlich und erstickt dahin – trat er einige Schritte vor und wies auf einen Fleck, auf welchen augenblicklich das gesammelte Licht aller Fackeln fiel. Ein unbeschreibbares allgemeines Gemurmel – und dann eine atemlose Stille folgte. An dem Fleck, welchen Hausman angezeigt, lagen – den Kopf nach der rechten Seite gewandt – die Überreste eines menschlichen Körpers.

»Können Sie schwören,« fragte der Geistliche feierlich, indem er sich zu Hausman wandte, »daß dies die Gebeine Clarkes sind?«

»Vor Gott kann ich es beschwören!« erwiderte Hausman, der endlich wieder eine Stimme fand.

»Mein Vater!« tönte es von Walters Lippen, indem er auf die Kniee sank; und dieser Ausruf vollendete das Entsetzen und Grauen, das in der Brust aller Anwesenden vorherrschte. Das Gefühl der Gefahr, in die er sich gebracht, durchfuhr Hausman; Verzweiflung und angespannte Kraft gaben ihm nicht nur einigermaßen seine natürliche Verhärtung, sondern auch seine natürliche Schlauheit zurück, so daß er seine Empfindungen zu bemeistern vermochte. Mit einer Selbstbeherrschung, der er auch später mächtig blieb und dadurch einen Vorteil gewann, an welchen er im Augenblick nicht dachte, rief er laut:

»Aber ich habe die That nicht gethan; ich bin nicht der Mörder.«

»Sprechen Sie! – Wen klagen Sie an?« sagte der Pfarrer.

Schwer atmend und die Zähne, wie bei einem gewaltsamen Entschluß, übereinander beißend, erwiderte Hausman:

»Der Mörder ist Eugen Aram.« »Aram!« rief Walter und sprang auf: »O Gott, deine Hand hat mich hierher geführt!« – Mit einem Mal schwanden ihm die Sinne, und als hätte eine Kugel sein Herz durchbohrt, stürzte er neben den Überresten seines Vater nieder, den er auf so geheimnisvolle Art entdeckt hatte.


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