Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Zwölftes Kapitel.

Eine seltsame Gewohnheit. – Walters Unterredung mit Madeline. – Ihre edle Denkart. – Walters Verdruß. – Das Abschiedsmahl. – Gespräch zwischen Oheim und Neffen. – Walter allein. – Der Schlaf, ein Segen für die Jugend.

Fall. Fort! fort! du darfst nicht sprechen, wo
er atmet...
Punt. Gut, mein Schicksal ruft, ich will mich
entschließen zu gehen.
Ben Johnson. Jedermann aus seiner Laune.

Am Abend vor der Abreise fand Walter, von einem letzten Spaziergang nach seinen Lieblingsplätzchen zurückkehrend, den Gelehrten, der während seiner Abwesenheit herübergekommen war und nun eben unter der Thür von Madeline und ihrem Vater sich verabschiedete. Nur zweimal hatten sich Aram und Walter seit jener bereits erzählten Unterredung getroffen, und jedesmal hatte Walter es so eingerichtet, daß das Beisammensein geringe Zeit dauerte. In diesen kurzen Gesprächen war Arams Benehmen noch zuvorkommender, Walters noch kälter und fremder als zuvor gewesen. Wie sie nun so unerwartet unter der Thür aufeinander stießen, sagte Aram, ihn mit Ernst anblickend:

»Leben Sie Wohl, mein Herr; Sie wollen uns auf einige Zeit verlassen, hör' ich. Der Himmel geleite Sie!« Und mit leiserer Stimme fügte er noch hinzu: »Wollen Sie jetzt beim Scheiden meine Hand annehmen?«

Damit reichte er ihm die Hand hin; – es war die Linke. »Lassen Sie's die Rechte sein,« bemerkte lächelnd der ältere Lester; »es bringt mehr Glück!«

»Ich dächte nicht«, erwiderte Aram obenhin. Dabei erinnerte sich Walter, daß er ihn die rechte Hand nie irgend jemandem, selbst Madeline nicht, hatte geben sehen. Indessen mochte diese wunderliche Sitte von irgend einer frühen falschen Angewöhnung herrühren und war jedenfalls kaum der Beachtung wert. Wirklich hatte der Jüngling die dargebotene Hand, obwohl ziemlich kalt, bereits berührt, als Lester noch einmal unbefangen auf die Sache zurückkam.

»Bewegt Sie,« fragte er heiter, »irgend ein Aberglaube, wie etwa bei den Alten, die rechte Hand für glücklicher als die Linke anzusehen?«

»Ja!« erwiderte Aram, »ein Aberglaube. Adieu!«

Er ging. Madeline wandelte langsam eine der Gartenalleen hinab, und Walter folgte ihr, nachdem er dem Oheim einige Worte zugeflüstert, dahin nach.

In jenem bittern Gefühl, das aus verschmähter Liebe entspringt, ja in der unerträglichen Qual begründeter Eifersucht selbst, liegt etwas, das, sobald nur der erste Schlag vorüber ist, den Charakter härtet, vielleicht sogar erhebt. Die angestrengtere Kraft, die wir zur Bekämpfung einer Leidenschaft aufbieten, der unsere Würde nicht länger nachhängen gestattet, geht nie wieder ganz verloren. Gleich den Verbündeten, die ein Volk zum Widerstand gegen einen auswärtigen Feind in seine Mitte ruft, vertreibt sie diesen nur, um sich selbst darin niederzulassen. Die Seele jedes Menschen, der eine unglückliche Neigung besiegt hat, wird stärker als zuvor, sei's zum Guten, sei's zum Schlimmen; zu beidem ist die Fähigkeit energischer, gesammelter geworden.

Die letzten wenigen Wochen hatten mehr für Walters Charakter gethan, als Jahre, unter gewöhnlichen oder unter glücklichen Empfindungen hingebracht, bewirkt haben würden. Aus einem Jüngling war ein Mann geworden, der mit dem Schmerz auch etwas von der Würde gereifterer Erfahrung verband. Nicht als wollten wir sagen, er habe seine Liebe bereits völlig bewältigt; aber er hatte den ersten Schritt dazu gethan. Er hatte beschlossen, sie solle auf jeden Fall überwältigt werden.

Als er Madeline eingeholt und diese ihn neben sich bemerkte, war ihre Verwirrung sichtbarer als die seinige. Sie fürchtete ein Bekenntnis und bei seinem Temperament vielleicht irgend einen unüberlegten Schritt. Gleichwohl war sie die erste, die das Gespräch begann, wie dies bei Frauen in solchen Fällen Regel ist.

»Ein schöner Abend,« hob sie an, »die untergehende Sonne verspricht dir einen schönen Tag für deine Reise auf morgen.«

Walter schritt schweigend weiter. Sein Herz war voll. »Madeline,« sprach er endlich, »liebe Madeline, gieb mir deine Hand. Nein, fürchte nichts; ich weiß, was du denkst, und wohl hast du recht: ich liebte dich und liebe dich noch immer! aber ich weiß, daß dieses Bekenntnis mich zu keiner Hoffnung berechtigen kann, und wenn ich dich um deine Hand bitte, so ist's nur, um dich zu überzeugen, daß von einem Drängen bei mir nicht mehr die Rede ist; wär's noch, so würd' ich nicht wagen, diese Hand zu berühren.«

Verwundert und verlegen gab ihm Madeline ihre Rechte; er hielt sie einen Augenblick zitternd umfaßt, drückte sie an seine Lippen, und ließ sie dann los.

»Ja, Madeline, teure, geliebte Cousine, ich habe dich aus voller Seele, obwohl schweigend geliebt, lang eh' mein Herz das Geheimnis der Empfindungen, die es durchglühten, zu entschleiern vermochte. Doch das – all' das – wär' jetzt unnütz zu wiederholen. Ich weiß, daß ich auf keine Erwiderung hoffen darf; daß das Herz, dessen Besitz mein ganzes Leben zu einem Traum des Entzückens gemacht haben würde, einem andern gehört. Ich habe dich jetzt nicht gesucht, um darüber zu jammern – dich etwa durch die Erzählung der Qualen, die ich leide, zu belästigen; ich kam bloß, um dir die Abschiedswünsche eines Menschen zu bringen, der, wo er auch sein und was ihm begegnen mag, deiner als des lieblichsten, holdesten aller Erdenwesen immer gedenken wird. Mögest du glücklich sein, selbst mit einem andern!«

»O, Walter!« sagte Madeline, zu Thränen gerührt, »wenn ich dich je ermutigt habe, dich je etwas mehr hoffen ließ, als die warme schwesterliche Neigung, die ich zu dir fühle, welche bittern Vorwürfe müßt' ich mir darüber machen.«

»Du hast es nie gethan, liebe Madeline; ich brauchte nicht erst eine Aufforderung, um dich zu lieben; es fiel mir nicht ein, erst eine Berechtigung zu suchen, erst zu forschen, ob ich Ursache zur Hoffnung hätte. Jetzt aber, da ich von dir scheide und du selbst sagst, du fühltest die Liebe einer Schwester zu mir – willst du mir jetzt gestatten, zu dir wie ein Bruder zu sprechen?«

Madeline reichte ihm die Hand mit zutraulicher Herzlichkeit. »Ja,« sagte sie. »sprich!«

»Sollte es dann,« entgegnete Walter und wandte sich mit einem Zartgefühl, das ihm Ehre machte, ab, »sollte es dann zu spät für mich sein, ein Wort der Vorsicht in Bezug auf – Eugen Aram laut werden zu lassen?«

»Vorsicht! Du erschreckst mich, Walter; sprich, ist ihm etwas begegnet? Hab' ich ihn doch noch so lange gesehen als du. Droht ihm etwas? Sprich, ich bitte dich! schnell!«

»Ich weiß von keiner Gefahr für ihn!« erwiderte Walter, dem die atemlose Angst, mit welcher Madeline gesprochen, zum schmerzlichen Stachel ward; »aber bedenke, liebe Cousine, kann nicht für dich Gefahr durch diesen Mann erwachsen?«

»Walter!«

»Ich bin von seinem Geist, von seiner Bildung, von seinem Edelmut überzeugt – ja, ich weiß, daß er einen überwältigenden Zauber an sich hat, vermöge dessen er nach seinem Gefallen Zuneigung oder Ehrfurcht für sich einflößt, einen Zauber, welchem selbst ich nicht zu widerstehen vermag. Gleichwohl geben mir sein menschenscheues Gemüt, seine düstere Lebensweise, einige Worte, die ihm unbedacht entfahren sind, bedeutungsvolle Bewegungen, die in ihm aufbrausten, als ich diese oder jene Äußerung ohne irgend eine Absicht hingeworfen hatte, all dies flößt mir – das Wort sei ausgesprochen – Furcht und Mißtrauen ein. Ich kann ihn nicht für das ruhige, fleckenlose Wesen halten, als welches er erscheint. Madeline, ich habe mich mehr als einmal gefragt: ist dieser Verdacht Wirkung der Eifersucht? mess' ich sein Benehmen mit dem gallsüchtigen Auge eines besiegten Nebenbuhlers? und ich bin mit meinem Gewissen darüber ins Reine gekommen, daß mein Urteil nicht durch diese Motive bestimmt wird. – Halt! hör' mich nur noch eine Minute an. Du hast einen hohen, denkenden Geist. Zeige ihn jetzt. Überlege, daß dein ganzes Glück von einem Schritt abhängt! Bedenke, prüfe, vergleiche! Erinnere dich, daß Aram nicht wie die andern, mit denen du bisher umgingst, sein Leben vor deinen Augen zugebracht hat! Von seiner wahren Gemütsbeschaffenheit, von seinen geheimen Eigenschaften kann dir nur wenig bekannt sein; noch weniger von der Richtung, die sein früheres Leben nahm. Das einzige, was ich von dir um deiner selbst willen, um meinetwillen, um deiner Schwester und deines guten Vaters willen bitte, ist, keinen zu raschen Entschluß zu fassen! Liebe ihn, wenn du willst, aber beobachte ihn!«

»Bist du fertig?« sagte Madeline, die sich bis jetzt nur mit Mühe beherrscht hatte, »dann höre mich. Bin ich es? Ist es Madeline Lester, von welcher du verlangst, daß sie die Wächterin, die Ausspäherin des Mannes mache, dessen Liebe sie mit Entzücken durchschauert? Ist es nicht genug, daß du dich erniedrigst, auf jeden absichtslosen Blick zu merken – jedes unbedachte Wort in deinem Gedächtnis festzuhalten – finstere Folgerungen aus dem arglosen Vertrauen des Freundes meines Vaters zu ziehen – mit der Böswilligkeit eines Feindes dich an alles zu hängen, was ihm im harmlosen Gespräch entschlüpfen mochte – die Sanftmut selbst zum Zorn zu bringen, damit du den Zorn zum Verbrechen verdrehen könntest! Schande, Schande über dich, über diese Niedrigkeit. Und kannst du glauben, daß ich, der er sein edles Herz anvertraut hat, dieses Pfand nur hingenommen habe, um die Erlauscherin seiner Geheimnisse zu machen? Hinweg!«

Ein edles Rot färbte Wangen und Stirn der hochgesinnten Jungfrau, während sie den bittern Vorwurf aussprach; ihre Augen funkelten, ihre Lippe zitterte, ihre ganze Gestalt schien größer geworden zu sein durch die Majestät der zürnenden Liebe.

»Grausame, Ungerechte, Undankbare!« rief Walter aus, blaß vor Wut und bebend im Kampf der aufwallenden verwundeten Gefühle; »so antwortest du auf die Warnung uneigennütziger, selbstvergessender Liebe?«

»Liebe!« rief Madeline. »gieb mir Geduld, o Gott! – Liebe! Noch vor wenigen Augenblicken fühlte ich mich geehrt durch die Zuneigung, die du, wie du sagtest, für mich empfindest. Jetzt schäm' ich mich, auch nur das kleinste Gefühl in einem Menschen erregt zu haben, der so wenig weiß was Liebe ist! – Liebe! mich dünkt, dieses Wort schließe alles in sich, was groß und edel in der Menschennatur ist – Vertrauen, Hoffnung, Hingebung, Preisgebung jedes Gedankens an uns selbst! Du aber willst es zum Abbild und Inbegriff alles desjenigen machen, was erniedrigt und entwürdigt! – Argwohn –Verdächtelei – Furcht – Selbstsucht in allen ihren Gestalten! Du weißt nichts von Liebe!«

»Genug, genug! Sprich nicht weiter, Madeline, nicht Weiter! Wir scheiden nicht, wie ich gehofft hatte; aber sei es so! Wahrlich, du bist umgewandelt, wenn dein Gewissen dich später für diese Ungerechtigkeit nicht anklagt. Lebe wohl und möge es dich niemals, weder um das Herz, das du verstoßen hast, noch um die Freundschaft, an welcher du jetzt einen Verrat begehst, gereuen.« Mit diesen Worten rannte Walter fort, von der Macht seiner Gefühle übermannt.

Er stürzte nach dem Hause in ein kleines Gemach neben seinem Schlafzimmer, das bisher bloß zu seinem Gebrauch bestimmt gewesen war. Jetzt standen Koffer und Kistchen darin umher, einige erst halb gepackt, andere bereits mit Stricken gebunden und mit der Adresse überschrieben, an welche sie nach London gesandt werden sollten. Der unvermutete Anblick all dieser stummen Zeichen seiner bevorstehenden Abreise überwältigte seine stürmende Seele.

»Soll ich so – so,« rief er laut aus, »zum erstenmal aus dem Hause meiner Kindheit scheiden?«

Er warf sich auf einen Stuhl und, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt, brach er gänzlich niedergedrückt und überwältigt in einen Strom von Thränen aus.

Als diese Erregung vorüber, war ihm, als ob die Liebe zu Madeline ebenfalls verschwunden wäre; eine wunde, bittere Empfindung war alles, was ihr Bild jetzt in ihm erregte. Dieser Gedanke gereichte ihm einigermaßen zum Trost. »Gott sei Dank,« murmelte er, »Gott sei Dank, wenigstens bin ich geheilt!«

Der Dank war kaum ausgesprochen, als sich die Thür leise öffnete. Ohne ihn gewahr zu werden, trat Ellinor herein und legte eine Börse, die sie ihm längst zu häkeln versprochen, und die jetzt zum Abschiedsgeschenk bestimmt schien, auf den Tisch.

Sie seufzte tief, und er bemerkte, daß ihre Augen wie vom Weinen rot waren.

Er regte sich nicht und Ellinor verließ das Zimmer wieder, ohne ihn bemerkt zu haben; er blieb bis zur Dunkelheit in Gedanken über ihr Erscheinen verloren; und eh' er endlich die Treppe hinabstieg, nahm er die kleine Börse, küßte sie und steckte sie sorgfältig in seinen Busen.

Bei Tisch setzte er sich diesen Abend an Ellinors Seite, und obwohl er nur wenig sprach, so waren seine letzten Worte doch mehr für sie, als ihr früher je ein Wort gewesen. Beim Gutenachtwünschen flüsterte er, indem er ihr die Wangen küßte: »Gott segne dich, teure, liebe Ellinor, trage Sorge für dich, bis ich wieder zurückkehre, um eines Menschen willen, der dich jetzt mehr als alles auf der Welt liebt.« –

Lester war eben aus dem Zimmer gegangen, um einige Briefe für Walter zu schreiben; Madeline, die bisher in sich versunken und still am Fenster gesessen, näherte sich ihm jetzt und bot ihm ihre Hand.

»Verzeih' mir, lieber Vetter,« sagte sie mit ihrem sanftesten Ton, »ich fühle, daß ich übereilt und tadelnswert gehandelt habe. Glaub' mir wenigstens, daß ich dankbar, von Herzen dankbar für die Liebe bin, welche dich zu deinen Worten vorhin veranlaßte.«

»Nicht so,« entgegnete Walter bitter, »der Rat eines Freundes ist nur eine Niedrigkeit.«

»So verzeih mir, ich bitt' dich. Laß uns nicht unfreundlich von einander scheiden. Wann hatten wir je vormals Streit? Ich that dir Unrecht, großes Unrecht, ich will jede Buße thun, die du mir auflegst,«

»Wohlan, so folge dem Wink, den ich dir gegeben.«

»Alles, nur dies nicht,« sagte Madeline feierlich, indem sie hoch errötete.

Walter sprach nichts weiter, er drückte ihre Hand leicht und wandte sich ab.

»Ist alles verziehen?« fragte sie mit so einschmeichelnder Stimme, so holdem Lächeln, daß Walter gegen sein Gewissen antwortete: »Ja.«

Die Schwestern verließen das Zimmer. Ich weiß nicht, welche von beiden den letzten Blick erhielt.

Jetzt kam Lester mit den Briefen zurück. »Noch habe ich einen Auftrag, mein lieber Junge,« fügte er am Schluß der moralischen Vorschriften und erprobten Regeln hinzu, womit junge Leute das elterliche Haus gewöhnlich verlassen (ob praktisch durch dieses Vermächtnis besser gestellt oder nicht, wollen wir hier nicht entscheiden): – »noch habe ich einen Auftrag, den ich deinem Verstand und deinem Eifer nicht erst anzuempfehlen brauche. Du kennst meinen festen Glauben, daß dein Vater, mein armer Bruder, noch lebt. Ist es nötig, dir erst noch einzuschärfen, daß du alle Mittel und Wege versuchst, eine Spur von seinem Schicksal zu entdecken? Wer weiß« – setzte er lächelnd hinzu – »ob du ihn nicht als einen reichen Nabob findest? Ich gestehe, daß ich nur wenig erstaunt wäre, wenn es sich wirklich so verhielte; auf jeden Fall wirst du jede mögliche Nachforschung anstellen. Auf diesem Papier hab' ich die wenigen nähern Umstände verzeichnet, die ich über ihn zu erfahren im stande war, seit er von uns geschieden ist; die Orte, wo man ihn zuletzt gesehen, die falschen Namen, die er angenommen. Ich bin höchst gespannt, ob deine Bemühungen zu einem weitern Ergebnis führen werden.«

»Sie hätten nicht nötig gehabt, lieber Oheim,« antwortete Walter ernst, »mit mir über diesen Gegenstand zu sprechen. Niemand, Sie selbst nicht, kann gefühlt haben, was ich fühlte; kann diese Angst, diese Hoffnung, in gleichem Grade genährt, sich so vielen Vermutungen hingegeben haben. Es ist wahr, ich habe in den letzten Jahren nur wenig mit Ihnen über einen Gegenstand gesprochen, der uns beide so nah' angeht, aber ganze Stunden Hab' ich unter Vorstellungen über das Schicksal meines Vaters und in dem Traum zugebracht, daß mir die stolze Aufgabe vorbehalten sei, diesem Schicksal auf die Spur zu kommen. Ich will nicht sagen, daß dasselbe im jetzigen Augenblick der Hauptgrund ist, warum ich zu reisen wünsche, aber auf der Reise wird es mein Hauptziel sein. Vielleicht find' ich ihn nicht nur reich – was für mich nur ein untergeordneter Wunsch ist – sondern auch ernüchtert und bekehrt von den Irrtümern und dem wilden Treiben seiner frühern Jahre. O! wie dankbar würde er Ihnen für all die Sorgfalt sein, womit Sie an seinem verlassenen Kinde Vaterstelle vertreten haben, und wohl nicht zum mindesten wäre er dafür erkenntlich, daß Sie, sein Benehmen in einem mildern Licht darstellend, mich gelehrt haben, seine Liebe immer noch hoch zu achten und zu suchen!«

»Du hast ein gütiges Herz, Walter,« sagte der gute Alte, indem er dem Neffen die Hand drückte, »und das hat mich für das wenige, was ich für dich gethan, mehr als belohnt; es ist besser, Güte in ein braves Herz zu säen, als Korn in ein Feld, denn die Ernte des Herzens dauert ewig.«

Mannigfach, scharf und ernst waren die Betrachtungen Walter Lesters in dieser Nacht, Er war daran, das Haus zu verlassen, in welchem er seine Jugend zugebracht, in welchem seine erste Liebe entstanden und erstorben war. Die Welt lag vor ihm, aber etwas Ernsteres als das bloße Vergnügen, etwas Bestimmteres als die bloße Lust seine Kraft zu versuchen, rief ihn hinaus. Die Enthüllung des tiefen Geheimnisses, das seit so vielen Jahren über dem Schicksal seines Vaters geschwebt, mochte vielleicht ihm vorbehalten sein, und mit einem unserer Natur häufig innewohnenden Eigensinn fühlte sich der Sohn in seinem dunkeln Drange eben deshalb lebhafter zu dem Vater hingezogen, weil er sich in nichts mehr seiner zu erinnern vermochte. Die kindliche Liebe hatte sich an Neugier und Phantasie genährt, und so war der treulose Vater auf diesem Wege fast glücklicher in der Gewinnung des Herzens von seinem Sohne gewesen, als wenn er sich dessen Liebe durch jahrelange Zärtlichkeit verdient hätte.

Bedrückt und fieberhaft aufgeregt öffnete Walter den Laden seines Zimmers. Der volle Herbstmond stand am Himmel und füllte die Luft wie mit einem milderen, heiligeren Tage. In der Entfernung ließ sein Schimmer die dunkeln Umrisse von Arams Wohnung eben hervortreten, während er unter dem Fenster hell und fest auf dem grünen stillen Kirchhof lag, der an das Haus stieß. Luft und Licht minderten die Beängstigung im Herzen des jungen Mannes, gaben aber dem Entschluß und Wunsch, in denen es schlug, etwas Feierliches. Noch hinausgelehnt, die Augen auf den stillen Schauplatz unter sich geheftet, sprach Walter ein flehendes Gebet aus, daß seinen Händen die Entdeckung des verlorenen Vaters gewährt werden möge. Das Gebet schien den Druck von seiner Brust fortzunehmen; er fühlte sich heiter und erleichtert, warf sich auf sein Bett und versank bald in den festen und gesunden Schlaf der Jugend. Und o! laßt die Jugend dieses beste aller Erdengüter genießen, solange es ihr noch zu Gebot steht, denn einst kommt der Tag für alle, wo »weder der Klang der Laute noch der Vögel«Non avium citharaeque etc. den süßen Schlummer zurückführt, der auf die jugendlichen Wimpern von selbst wie der Tau herabfiel.

Es ist eine finstere Zeit im Leben des Menschen, wenn der Schlaf ihn verlaßt: wenn er sich um und um wälzt, und die Gedanken doch nicht schweigen wollen; wenn Tropfen und Essenzen nur Betäubung, nicht Schlaf, herbeizuschmeicheln vermögen; wenn das Flaumkissen zum knotigen Holzblock wird; wenn die Augenlider sich nur mit Gewalt schließen, und Ziehen und Schwere und Schwindel am andern Morgen in den Augen liegen. Sehnsucht, Herzensnot, Liebe sind die Quälerinnen des Jünglings, aber sie sind Geschöpfe der Zeit; die Zeit bringt sie und nimmt sie wieder, und solange die Tage noch nicht gekommen, von welchen geschrieben steht: »Sie werden dir nicht gefallen« – sind die durchwachten Stunden zwar beschwerlich, aber kurz und ihrer wenige. Rückerinnerung, aber, Sorge, Ehrsucht. Geiz: das sind die Dämonen, an welchen ihre Mutter, die Zeit, erlahmt. Die niedrigern Leidenschaften sind das Ergebnis der reifern Jahre, und ihr Grab Wird nur mit unserem eigenen gegraben. Wie die dunkeln Geister in der nordischen Sage, die gegen jeden Ankömmling eines lichtern, heiligern Geschlechts Wache halten, damit er sie nicht in ungehüteter Stunde ergreife und in Fesseln schlage, wachen sie nachts über dem Eingang zu jener tiefen Höhle – dem Herzen des Menschen – und verscheuchen den Engel Schlaf.


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