Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Zehntes Kapitel.

Walters Betrachtungen. – Der Wirt. – Ein sanfter Charakter und ein heiteres Greisenalter. – Der Garten und was derselbe lehrt. – Ein Gespräch, worin neue Winke zu der gewünschten Entdeckung gegeben werden. – Der Geistliche. – Besuch an einem Orte von großem Interesse für den Reisenden.

Von Blumen wand am Tag ich einen Strauß,
Hier schlürf' ich jetzt des Duftes Neige aus,
Und bind' mein Leben dann in dieses Band.
Georg Heibert.

– es naht die Zeit heran,
Die uns mit Sicherheit wird offenbaren,
Was –
Shakespeare. Macbeth.

Am nächsten Morgen stand Walter früh auf und traf, als er sich sofort in den Hof des Gasthauses verfügt hatte, den Wirt, der eine Hacke in der Hand, eben in ein Pförtchen trat, das nach dem Garten führte. Er behielt das Thürchen für den Gast offen.

»Ein schöner Morgen, Herr; gefällt's Ihnen vielleicht, einen Blick in den Garten zu thun?« fragte er mit einladender Freundlichkeit.

Walter nahm das Erbieten an und fand einen großen, wohlausgestatteten Garten, der mit vieler Regelmäßigkeit und einigem Geschmack angelegt war. Der Wirt blieb bei einem Beet stehen, das seine besondere Sorgfalt in Anspruch nahm, und Walter ging in einsamen Betrachtungen weiter.

Der Morgen war heiter und klar, aber eine scharfe, durchdringende Frostluft gesellte sich der Frische bei, und unwillkürlich beeilte Walter seinen Schritt, als er mit gesenkten Augen und tief in die Stirn gedrücktem Hut die geraden Wege auf und nieder ging, welche den Garten durchschnitten.

So hatte er also den Ort erreicht, an welchem die letzte Spur von seinem Vater auf so Ungewisse, seltsame Weise zu verschwinden schien! Konnte durch die Nachforschungen, die er beabsichtigte, hier kein weiterer Faden entdeckt werden, so mußte in diesem Städtchen sein Suchen und Hoffen ein Ende nehmen. Aber das junge Herz des Reisenden schwoll von neuen Erwartungen. Beim Zurückblick auf die Ereignisse der letzten wenigen Wochen glaubte er den Finger des Schicksals zu erkennen, der ihn von Schritt zu Schritt leitend nun an dem Orte still hielt, zu dem er geführt hatte. In welchem wunderbaren Zusammenhang hatte die Reihenfolge der Umstände gestanden, die scheinbar ganz geringfügige – ganz unähnliche Dinge verknüpfend, sich zu einer fortlaufenden Kette von Beweisen ausdehnte! Der unbedeutende Zufall, der ihn in den Laden des Sattlers treten ließ; das Ungefähr, das ihm seines Vaters Peitsche vor die Augen gebracht; der Bericht Courtlands, der ihn in diesen entfernten Teil des Landes gewiesen hatte, und endlich die Erzählung Elmores, die ihn nach dem Ort leitete, an welchem alle Nachforschungen für jetzt stillzustehen schienen! Sollte er bloß hierher geführt worden sein, um abermals die seltsame Geschichte des plötzlichen, neckischen Verschwindens zu vernehmen? – um eine steile Mauer, eine ungefüge, unübersteigliche Schranke für einen Lauf zu finden, der bis hierher so stetig weitergeführt hatte? War er das Spielzeug des Schicksals, nicht sein Wertzeug gewesen? Nein, ihn erfüllte ein ernster, tiefer Glaube, daß eine Entdeckung, zu welcher unter allen Menschen er durch die unveräußerlichen Ansprüche des Bluts und der Geburt am meisten berechtigt war, ihm vorbehalten sei, und daß dieser hohe Traum, dieses still genährte Ziel seiner Kindheit jetzt verwirklicht und erreicht werden solle. Zudem konnte ihm nicht entgehen, daß auf dem Wege zu seinem hohen Unternehmen sein Charakter einen gediegenen, gedankenvollen Ernst angenommen hatte, welcher mehr dem Wesen eines solchen Vorhabens angemessen war, als er seiner früheren Gemütsbeschaffenheit entsprach. Dieses Bewußtsein schwellte seine Brust mit tiefer, zuverlässiger Hoffnung. Wenn das Schicksal seine Diener unter den Menschen auswählt, so schafft sein dunkler, geheimnisvoller Geist in ihnen; es formt ihre Herzen, erhöht ihre Kraft, bildet sie zu der Rolle, die es ihnen angewiesen, und macht das sterbliche Werkzeug würdig für den erhabenen Zweck.

So seinen tiefen Betrachtungen im Innern geschäftig hingegeben, blieb der junge Reisende endlich vor dem Wirt stehen, der immer noch bei seinem heiteren Geschäft war, und hie und da durch die Arbeit und die frische Morgenluft aufgeregt, in einzelne Verse alter ländlicher Lieder ausbrach. Der Gegensatz zwischen ihm selbst und diesem

»mühlosen Waller durch die grüne Erde«

machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Auch paßte die Miene des Alten wirklich mehr zu seiner gegenwärtigen Beschäftigung, als zu seinem eigentlichen Beruf. Er mochte seine dreiundsechzig Jahre zählen, aber ein fröhliches, frisches Greisenalter schien ihre Folge. Die Wange war fest und rot, nicht von nächtlichen Gelagen, sondern als muntere Zeugin der Morgenluft, die sie täglich begrüßte. Die Gestalt war kräftig, nicht fleischig; das lange graue, fast auf die Schultern hinabreichende Haar, die klaren blauen Augen und ein angenehmer Schwung des Mundes, der auf fortwährende Heiterkeit des Gemüts deutete, gaben zusammen ein Bild, auf welchem selbst ein minder empfänglicher Beobachter längere Zeit verweilt haben dürfte. Und in der That genoß der gute Mann einen gewissen Ruf wegen seines freundlichen Aussehens und frohsinnigen Benehmens. Ein junger Künstler in der Nachbarschaft hatte sogar ein Bild von ihm entworfen; ja dieses war durch Stiche vervielfältigt worden, die, immerhin ein wenig roh und unähnlich, keinen unbeachteten oder staubigen Winkel im ersten Bilderladen des Städtchens einnahmen. Dabei widersprach der Charakter des Wirtes seinem Äußern keineswegs. Er hatte genug vom Leben gesehen, um zur Einsicht zu gelangen, und hatte es richtig genug beurteilt, um wohlwollend zu bleiben. Hinausgeschritten war er über jene Linie, die für alle Gesetzbücher der Menschen so richtig in dem bewundernswürdigen Blatte gezogen ist, das der körnigen Weise englischer Darstellung zuerst Feinheit des Geschmacks beigesellte. »Wir haben gerade Religion genug,« heißt es irgendwo im »Zuschauer,« »damit wir einander hassen, aber nicht genug, damit wir einander lieben.« Unser guter Gasthalter, Friede sei seiner Asche! war an dieser Grenze nie stehen geblieben. Dieser Wirt auf dem Lande hätte Goldsmith ein Gegenbild zu seinem Landpfarrer liefern können. Sein Haus war ebenso gastlich gegen den Armen – sein Herz, mehr durch Natur als durch Erfahrung weise, ebenso wohlwollend gegen Irrende, und in seiner warmen Einfalt ebenso offen für Notleidende. Friede sei mit dir ****+! Unser Großvater war dein Gönner – doch brauchtest du keinen Gönner. Auf der Stufe, die du einnahmst, bleibt das Verdienst selten ohne Lohn. Auf ein Haus, wie das deinige, braucht man die Leute nicht erst aufmerksam zu machen. Wer braucht einen dritten, um ihn über die Wertschätzung eines liebevollen Gemüts und eines guten Tisches erst aufzuklären?

Wie Walter so stand, den alten, über die duftige frische Erde gebeugten Mann betrachtete und sofort mit einem weitern Blick den ruhigen Garten übersah, dessen Grenzen sich auf beiden Seiten in dickes Immergrün verloren, ward sein Herz von jener lieblichen, unser Selbst erhebenden Stille beschlichen, die uns eine ländliche Scene (rura et silentium) in der Regel zuhaucht, wenn wir zu ihrem klaren Bewußtsein vom wirren Traum dunkler, unruhiger Gedanken erwachen. Ein paar alte Verse, die ihn sein Oheim, ein Liebhaber der sanften, kunstlosen Sittenlehre bei den frühern englischen Volkssängern, in seinen Kinderjahren gelehrt, stiegen auf anmutige Weise in seiner Erinnerung auf:

Hier malt sich, wie in seltnem Bilderbuch,
Von Gottes heil'gem Willen mancher Spruch.
Das Tausendschön lehrt zarte Liebeshuld,
Kamillen auszuharren in Geduld,
Die Raute Haß vor Lasters gift'ger Schuld,
Das Geißblatt fest an Freundestreue halten,
Der Winterkohl in Hoffnung nie erkalten.Henry Peacham.

Der Alte hielt, als die nachdenkliche Gestalt seines Gastes ihren Schatten über ihn hinwarf, in der Arbeit inne, und sagte:

»Eine liebliche Zeit, Herr, für einen Gärtner.«

»Ja, meinen Sie? – Sie müssen jetzt die Blumen und Früchte des Sommers missen.«

»Schon recht, Herr – aber wir zahlen jetzt dem Garten das Gute zurück, das er uns gegeben hat. Es ist, als sorgten wir in seinen alten Tagen für einen Freund, der in seiner Jugend gütig gegen uns gewesen ist.«

Walter lächelte über die eigentümliche Liebenswürdigkeit des Gedankens.

»'s ist was gar Einnehmendes um einen Garten, Herr! – jeden Tag giebt er uns was zu thun und so, mein ich, müss' ein Mensch es haben, wenn er ein glücklich Leben führen will.«

»Das ist wahr,« entgegnete Walter: und der Wirt, der in seiner Art ein Physiognomiker war, wurde durch die Aufmerksamkeit und die freundlichen Züge des Fremden zum Fortfahren ermutigt.

»Und dann, Herr, werden wir bei dergleichen Geschäften nie in unsern Aussichten getäuscht. Der Boden ist nicht undankbar, wie, heißt es, die Menschen sind – obwohl ich sie, beiläufig gesagt, selten so gefunden habe. Was wir säen, ernten wir. Ich hab' ein altes Buch im kleinen Wohnzimmer liegen, Herr, durchweg übers Fischen und voll so viel schöner, erbaulicher Gedanken über Landleben und stille Betrachtung und dergleichen, daß man so großen Nutzen draus zieht wie aus einer Predigt. Aber meinem Dafürhalten nach lassen sich alle diese Gedanken noch mehr aufs Leben eines Gärtners als eines Fischers anwenden.«

»Es ist allerdings ein weniger grausamer Beruf,« antwortete Walter.

»Ja, Herr; und dann hat einer an dem Schönen, das er selbst macht, an den Blumen, die er mit eigener Hand pflanzt, größere Freude, als an aller Pracht, die unserem eigenen Thun nichts verdankt; wenigstens scheint es mir so. Immer bin ich für den Zufall dankbar gewesen, der mich aufs Gartenwesen brachte.«

»Und worin bestand der?«

»Ja, Herr, da, müssen's wissen, lebte vor mehreren Jahren ein Herr in unserem Städtchen, der war Ihnen bei all seiner Jugend ein großer Gelehrter und erstaunlich auf Pflanzen und Blumen und so weiter aus. Ich hörte den Pfarrer sagen, er verstände von solchen unschuldigen Dingen mehr, als irgend ein anderer in der Grafschaft. Damals war ich noch nicht in so guten Umständen wie jetzt. Ich hielt ein kleines Wirtshaus in der Vorstadt, und da ich früher Wildhüter bei Lord – – gewesen, so pflegte ich mir durch Begleitung von Herrschaften aufs Fischen oder Schnepfenschießen einen kleinen Nebengewinn zu verschaffen. So ging ich einst mit einem fremden Herrn aus London fischen. An einem stillen, abgelegenen Ort, etwas über eine Stunde von hier, blieb der plötzlich stehen und pflückte ein paar Kräuter, die mir was ganz Gewöhnliches dünkten, die aber seiner Versicherung nach höchst merkwürdig und selten waren. Hörte nachher, er sei ein großer Herbalist, wie man's, glaub' ich, nennt; aber ein kläglicher Fischer war er. Na, Herr, da fiel mir am andern Morgen unser großer Gelehrter und Botanikus, Herr Aram, ein, und ich dachte, es würd' ihm wohl Freude machen, diese Gräserchen auch kennen zu lernen. Lief also zu ihm und bat ihn, ihm den Ort zeigen zu dürfen. So gingen wir denn hin und wahrhaftig, Herr, von allen Menschen, die ich je gesehen, schlich sich Ihnen keiner so ins Herz, wie dieser Eugen Aram. Er war damals ausnehmend arm, klagte aber niemals und war viel zu stolz, als daß irgend jemand gewagt hatte, ihm Hilfe anzubieten. Dabei lebte er ganz allein und ging in der Regel jedermann auf seinen Spaziergängen aus dem Wege: aber es war etwas so Einnehmendes und Geduldiges in seinen Manieren und seiner Stimme und seinem bleichen, sanften Gesicht, worauf, so jung er war, denn er zählte kaum ein oder zweiundzwanzig Jahre, Trauer und Schwermut standen, daß es Ihnen gleich ans Herz ging, wenn Sie ihn sahen oder mit ihm sprachen. – Na, Herr, wir machten uns nach dem Ort auf den Weg, und er schien sehr erfreut über die grünen Dinger, die ich ihm da zeigte, und da ich allezeit von mitteilsamem Temperament – ein rechter Gevatter sagen meine Nachbarn! gewesen, so bracht' ich ihn durch meine Fragen mitunter zum Lächeln. Er schien Gefallen an mir zu finden und schwatzte aus dem Heimweg mit mir von Blumen und Gärtnerei und so fort; und gewiß, es war besser als ein Buch, wenn man ihn so anhörte. Und wenn wir darauf einander wieder in den Weg kamen, wich er mir nicht aus wie den andern, sondern ließ mich stillstehen und mit ihm plaudern. Da frug ich ihn auch um Rat wegen einer kleinen Pacht, die ich eingehen wollte, und er sagte mir allerhand unbekannte, gar merkwürdige Dinge, die ich nachher als ganz wahr erfand und die mir ein Stück Geld eintrugen. Absonderlich aber sprachen wir viel über Gärtnerei, denn ich hörte ihn gar gern über dergleichen Sachen reden und so, Herr, machte mir alles einen tiefen Eindruck, was er sagte, und ich hatte keine Ruhe, bis ich mich selbst auf die Gärtnerei geworfen, und seit der Zeit hat mir's jeden Tag meines Lebens immer mehr und mehr gefallen. In der That, Herr, ich meine, so ein unschuldiges Geschäft mache ein Menschenherz besser und liebevoller gegen seine Mitkreaturen, und immer hab' ich größere Freude am Bibellesen, besonders am neuen Testament, wenn ich den Tag im Garten zugebracht. Ja, möcht' wohl wissen, was aus dem armen Herrn geworden ist.«

»Ich kann Ihr Herz über ihn beruhigen, guter Mann; Herr Aram lebt in – – –, hat sein behagliches Auskommen und ist allgemein beliebt, obwohl er seine alte Zurückgezogenheit noch immer beibehält.«

»Was Sie sagen! in langer Zeit hat mich nichts so gefreut!«

»Sagen Sie mir doch,« begann Walter nach einer kleinen Pause von neuem, »erinnern Sie sich des Umstandes, daß ein gewisser Herr Clarke in dieser Stadt erschien und sie dann wieder auf eine sehr unerwartete und geheimnisvolle Art verließ?«

»Ob ich dran denke? Ja freilich, Herr! Machte einen großen Lärm in Knaresbro' – war ziemlicher Verdacht, daß es dabei nicht richtig hergegangen. Was mich betrifft, so hatt' auch ich meine Gedanken darüber, aber was weiter.« Damit begann der Alte sein Ausjäten wieder mit großem Eifer.

»Mein Freund,« sagte Walter, seine Empfindung bemeisternd, »Sie würden mir einen größern Dienst erweisen, als ich sagen, kann, wenn Sie mir irgend eine Nachweisung, eine Vermutung über diesen – diesen Herrn Clarke geben könnten. Bloß um Erkundigungen über sein Schicksal einzuziehen, bin ich hierher gekommen: mit einem Wort, er ist – oder war – ein naher Verwandter von mir.«

Der Alte sah mitleidig in Walters Gesicht. »Gern,« erwiderte er langsam, »will ich Ihnen alles mitteilen, was ich weiß, aber das ist sehr wenig oder vielmehr nichts. Doch wollen wir den Weg da hinaufgehen, Herr? man hört uns dort weniger. Haben Sie einen gewissen Richard Hausman nennen hören?«

»Hausman! ja. Er war ein Bekannter meines armen ... ich will sagen ein Bekannter Clarkes. Er sagte, Clarke sei sein Schuldner gewesen, als er die Stadt so plötzlich verließ.«

Der Alte schüttelte geheimnisvoll den Kopf und sah sich ringsum. »Will Ihnen sagen,« flüsterte er, die Hand auf Walters Arm legend, diesem ins Ohr, »ich will niemand ungerechterweise anklagen, aber ich möchte wohl glauben, Hausman habe den Clarke ermordet.«

»Großer Gott!« murmelte Walter und klammerte sich an einen Pfosten, um nicht umzufallen. »Weiter! – achten Sie nicht auf meine Bewegung – achten Sie nicht; – um des Erbarmers willen, sprechen Sie weiter!«

»Aber ich weiß nichts Zuverlässiges – nichts Zuverlässiges, glauben Sie mir,« sagte der Alte, erschrocken über den Eindruck, den seine Worte gemacht; »vielleicht ist's nicht so schlimm, als ich denke, und meine Gründe sind nicht sehr stark; doch Sie sollen dieselben hören. – Herr Clarke kam, wie Ihnen bekannt, in unser Städtchen, um ein Legat in Empfang zu nehmen – Sie kennen die nähern Umstände?«

Walter nickte die Bejahung ungeduldig zu.

»Gut; obwohl er von schwacher Gesundheit schien, war er doch ein lebenslustiger, sorgloser Mensch, dem die Gesellschaft eines jeden recht war, der still saß und Geschichten erzählte und die Nächte vertrank; nicht just ein einfältiger, aber ein schwacher Mann. Nun war unter allen Müßiggängern im Städtchen Richard Hausman am meisten zu einem solchen Lebenswandel geneigt. Er hatte als Soldat gedient – hatte ein gutes Stück von der Welt gesehen – war ein kühner, gesprächiger, sorgloser Kerl – von durchaus leichtfertigem Wesen. Ging manches Gerede über ihn, obwohl man von keinem Gerücht ganz genau wußte, wie man damit dran sei. Kurzum, man hatte ihn in Verdacht, er habe sein Glück gelegentlich auf der Landstraße versucht und ein Fremder, der einmal in meinem kleinen Wirtshaus einkehrte, versicherte mir insgeheim, wenn er's auch nicht gerade beschwören könne, so sei er doch überzeugt, daß er vor einem Jahr auf der Landstraße nach London von Hausman angehalten worden. Bei alledem fehlte es diesem, da er einige angesehene Verwandte in der Stadt hatte – wozu, beiläufig gesagt, auch Herr Aram gehörte – da er ein gar guter Gesellschafter – ein guter Schütze – ein kecker Reiter – ein ausgezeichneter Sänger und sehr lustig und guten Humors war, gar nicht an Umgang und am ersten Abend, wo er und Herr Clarke zusammenkamen, wurden sie gewaltig vertraut miteinander, ja es schien beinahe, als hätten sie einander schon früher gekannt. In der Nacht, worin Herr Clarke verschwand, war ich mit ein paar Herren über Land gewesen und da es gegen Abend stark geschneit hatte, langte ich erst nach Mitternacht wieder in Knaresbro' an. Als ich durch die Stadt hinging, bemerkte ich zwei Männer in eifrigem Gespräch. Der eine war, das weiß ich gewiß, Clarke; der andere hatte sich in einen großen Mantel gehüllt und den Kapuzenkragen über den Kopf gezogen. Aber der Nachtwächter hatte den nämlichen Mann vorher allein getroffen und hatte beim Abziehen der Kappe bemerkt, daß es Hausman war. Kein anderer Mensch wurde nach dieser Stunde mit Clarke zusammengesehen.«

»Aber wurde Hausman nicht verhört?«

»Obenhin; er sagte aus, er sei jenen Abend bei Eugen Aram gewesen, habe, als er aus Arams Haus wegging, Clarke getroffen und sei, verwundert, was dieser, ein gebrechlicher Mensch, noch so spät draußen zu thun habe, ein Stück Weges mit ihm gegangen, um dahinter zu kommen. Clarke aber habe verwirrt geschienen, sei zurückhaltend und auf seiner Hut gewesen, habe ihm endlich mit einemmal gute Nacht gewünscht und sei in eine andere Straße eingebogen. Er, Hausman, sei versichert, Clarke habe diesen Abend noch die Stadt verlassen, um seinen Gläubigern zu entgehen und sich mit einigen Edelsteinen, die er von Herrn Elmore geborgt, davon zu machen.«

»Aber Aram? war dieser verdächtige, ja nichtswürdige Mensch, der Hausman, ein Vertrauter Arams?«

»Keineswegs; aber da sie entfernte Verwandte und Hausman überdies ein zuthulicher, aufdringlicher Bursche war, so konnte ihn Aram vielleicht nicht immer los werden. Wirklich bezeugte Aram, daß Hausman jenen Abend bei ihm zugebracht.«

»Und auf Aram selbst fiel kein Verdacht?«

Der Wirt fuhr verwundert herum »Du mein Himmel, nein! Ebenso gut könnte man das Lamm in Verdacht ziehen, es habe den Wolf gefressen!«

Aber so dachte Walter Lester nicht. Die wilden Worte, die dem Gelehrten hie und da entfuhren – sein scheues Wesen – sein häufiges Erschrecken, seine Selbstgespräche, wodurch, wie man gesehen, schon von Anfang an in Walter der Argwohn einer früher begangenen Schuld erweckt worden, »die des Gemüts gesunden Schlaf gemordet habe« – all das brach mit zehnfacher Gewalt über sein Gedächtnis herein.

»Aber kam denn sonst nichts zur Sprache? Ist Ihr ganzer Grund zum Verdacht – bloß der Umstand, daß Hausman der letzte war, den man mit Clarke zusammensah?«

»Bedenken Sie Hausmaus zügellosen, verwegenen Sinn. Clarke hatte augenscheinlich seine Juwelen und sein Geld bei sich, denn sie wurden in seinem Hause nicht gefunden. Welche Versuchung für einen Menschen, der mehr als verdächtig war, sich in seinem Leben mitunter schon aufs Rauben gelegt zu haben! Hausman verließ bald nachher die Gegend und ist seitdem nie wieder in unsere Stadt zurückgekehrt, obwohl seine Tochter hier bei ihrer Großmutter lebt und ihn bisweilen in London besucht!«

»Und Aram – auch er verließ Knaresborough bald nach dieser geheimnisvollen Begebenheit!«

»Ja! eine alte Tante in York, die ihm während ihres Lebens nie eine Unterstützung zukommen ließ, starb etwa einen Monat nachher und vermachte ihm ein Legat. Als er dasselbe erhielt, begab er sich natürlich nach London – der beste Ort für einen so geschickten Gelehrten.«

»Ha! sind Sie auch gewiß, daß diese Tante starb? daß ihm das Vermächtnis zufiel? Konnte das nicht ein bloßes Geschichtchen sein, um das Ausgeben von Geld, das auf einem ganz anderen Wege gewonnen wurde, zu beschönigen?«

Der Wirt blickte Walter fast zornig an.

»Man sieht wohl,« sagte er, »daß Sie Eugen Aram so gut wie gar nicht kennen, sonst würden Sie nicht so von ihm sprechen. Aber ich kann Ihren Zweifeln über diesen Gegenstand abhelfen. Ich kannte die alte Dame wohl, und meine Frau war eben in York, als sie starb. Überdies weiß beinahe jedermann hier von dem Testament, denn es war auf eine ziemlich seltsame Weise abgefaßt.«

Walter schwieg unentschlossen. »Wollten Sie mich vielleicht nach dem Hause führen,« fragte er endlich, »wo Herr Clarke wohnte und wohl auch nach den andern Orten, an welchen die Klugheit gebieten dürfte, Nachforschungen anzustellen?«

»Mit größtem Vergnügen,« erwiderte der Wirt; »aber vorher müssen Sie der Hausfrau Butter und Eier versuchen. Es ist Zeit zum Frühstück.«

Wir können uns vorstellen, daß Walters einfaches Mahl bald vorüber war. Ungeduldig seine Erkundigungen zu beginnen, stieg er von seinem einsamen Gemach in das kleine Hinterzimmer hinter der Schranke herab, worin er vorigen Abend Wirt und Wirtin beim Nachtessen getroffen. Es war ein gar heimliches, kleines, getäfeltes Stübchen. Angelruten standen säuberlich gegen die Wand gereiht, die überdies durch ein Bild des Wirtes selbst, durch zwei alte niederländische Frucht- und Jagdstücke, durch eine lange, seltsam gestaltete Vogelflinte und, dem Kamin gegenüber, durch Haupt und Geweih eines stattlichen Hirsches geschmückt war. Auf dem Fenstersims lagen Isaak Waltons Fischerbuch, wovon der Alte, vorhin gesprochen; die Familienbibel mit ihrem grünfriesenen Überzug und zahlreichen, aus den ehrwürdigen Blättern hervorsehenden Lesezeichen: und wie in einem Nestchen neben ihr, an den schönen Spruch erinnernd, »lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht,« mehrere Büchlein lustigen Einbands und wunderbarlichen Inhalts von Feen und Riesen, welche den entzückten Knaben an den Kamin bannen und die Quelle goldener Stunden für des alten Mannes Enkelchen in ihren Erholungen vom kleinen Geschäft des Lernens waren

Wo dort die Hausfrau sitzt
In Augenlust versenkt,
Ihr hold Gewühl beschaut,
Und stumm das Rädchen lenkt.Shenstones Schulmeisterin.

Der Wirt war noch über ein großes braunes Brot und einen gebackenen Hecht her und die Wirtin, eine stille, heitere, alte Frau, stärkte abwechselnd bald sich selbst, bald eine gestreifte Katze an einer Schüssel mit gebratenem Fleisch.

Während der Alte sich beeilte, zum Abschluß seines Frühstücks zu kommen, vernahm man ein leises Klopfen an der Thür und gleich darauf steckte ein ältlicher, in Schwarz gekleideter Mann den Kopf ins Zimmer, wollte jedoch beim Anblick des Fremden sich wieder zurückziehen. Aber beide Wirtsleute fuhren geschäftig auf und baten Herrn Summers, wie sie ihn nannten, einzutreten. Freundlich gab der schwarze Herr der Einladung Folge, und die Frau bemerkte gegen Walter: »Unser Stadtpfarrer, und obwohl ich's ihm ins Gesicht sage, giebt's doch niemand, der, wenn's auf christlichen Wandel ankommt, eher Bischof werden sollte.«

»Still! meine gute Frau,« sagte Herr Summers, indem er sich lachend gegen Walter verbeugte. »Sie sehen, mein Herr, daß es kein geringer Vorteil für einen ehrenvollen Ruf in Knaresbro' ist, das Wort unserer Frau Wirtin für sich zu haben. Aber wirklich,« sich mit einer Miene ernsten Ausdrucks zur Hausfrau wendend, »ich habe jetzt wenig Luft zum Scherzen. Sie kennen das arme Hannchen Hausman – das sanfte, stille, blauäugige Geschöpf; heut früh mit Tagesanbruch ist sie gestorben! Ihr Vater ist, um sie zu sehen, aus London gekommen. Sie verschied in seinen Armen und er soll, wie ich höre, dem Wahnsinn nahe sein!«

Wirt und Wirtin bezeugten ihr Mitleid. »Das arme kleine Mädchen!« sagte letztere; »sie hatte ein hartes Los und fühlte es, so jung sie war. Ohne Fürsorge einer Mutter – und solch einen Vater! Doch liebte er sie wirklich sehr.«

»Der Grund, warum ich bei Ihnen einspreche,« wandte sich der Geistliche von neuem gegen den Wirt, »ist dieser: Sie haben Hausman früher gekannt; mich hat er immer vermieden und, ich denk' wohl, verspottet. Jetzt ist er im Elend und all das ist vergessen. Wollten Sie wohl zu ihm gehen und ihn fragen, ob ich durch irgend etwas seinen Schmerz lindern kann? Er ist vielleicht arm; ich kann das Begräbnis des armen Kindes bezahlen. Ich hatte sie gar lieb, sie war das beste Mädchen in meiner Frau Schule.«

»Zu ihm gehen will ich allerdings,« sagte der Wirt mit einigem Zögern. Sofort nahm er den Geistlichen bei Seite und flüsterte ihm das Walter gegebene Versprechen, sowie die jetzige Absicht seines Gastes und dessen Wunsch nach weiterer Aufklärung zu, wobei er nicht vergaß, seinen Argwohn über die Schuld des Mannes anzudeuten, zu dessen Bemitleidung er sich jetzt eben veranlaßt sah.

Der Geistliche überlegte ein Weilchen, näherte sich dann Walter und bot seine Dienste an der Stelle des würdigen Gastgebers auf so offene, herzliche Weise an, daß der junge Mann kein Bedenken trug, auf das Erbieten einzugehen.

»So machen wir uns denn auf den Weg,« sagte der Pfarrverweser – denn nur Verweser war er – welchem Walters Sehnsucht nach schnellem Aufbruch nicht entging. »Zuerst wollen wir in das Haus, wo Clarke wohnte; ich kenn' es wohl.«

Beide begannen ihre Wanderung. Summers war kein oberflächlicher Altertumsforscher und suchte die fieberhafte Ungeduld seines Gefährten einstweilen abzulenken, indem er die Reize hervorhob, welche die alte merkwürdige Stadt, wohin ihn sein Geschäft geführt, darbiete.

»Gleich merkwürdig in Bezug auf Geschichte wie auf mündliche Sage,« begann der Pfarrer. »Sehen Sie dort« (indem er auf die düster emporragenden Trümmer des zerstörten Schlosses wies, die durch eine Straßenlücke sichtbar wurden); »Sie würden jetzt in einiger Verlegenheit sein, die Richtigkeit der Beschreibung anzuerkennen, welche der alte Leland von diesem einst stolzen und glänzenden Bollwerk des Nordens macht, woran er elf bis zwölf Türme auf der Schloßmauer und überdies einen sehr schönen im zweiten Hofraum aufzählt. In diesem Schloß hielten sich die vier ritterlichen Mörder des stolzen Becket (des Wolfey jener Tage) ein ganzes Jahr, der schwachen Rechtspflege der damaligen Zeit zum Hohn, auf. Auch der unglückliche Richard der Zweite – der Stuart unter den Plantagenets – verbrachte hier einen Teil seiner bittern Gefangenschaft. Und nach der Schlacht von Marston-Moor wehten hier die Banner der Königlichen gegen Lilburnes Söldner. Damals wurde der Ort auch noch, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, durch ein rührendes Beispiel kindlicher Liebe bemerkenswert. Die Stadt litt hart durch Mangel an Lebensmitteln; ein Jüngling, dessen Vater zur Besatzung gehörte, stieg allnächtlich in den tiefen, trockenen Graben hinab, kletterte am Glacis hinauf und steckte Nahrungsmittel durch ein Loch in der Mauer, hinter welchem der Vater stand und sie in Empfang nahm. Endlich ward er entdeckt, und die Soldaten feuerten nach ihm. Er wurde gefangen und verurteilt, angesichts der Belagerten aufgehenkt zu werden, um Schrecken unter denen zu verbreiten, die vielleicht ebenfalls geneigt sein möchten, der Besatzung zu Hilfe zu kommen. Glücklicherweise ward jedoch diese Unthat dem Andenken Lilburnes und des republikanischen Heeres erspart. Mit großer Schwierigkeit erhielt eine gewisse Dame Aufschub für den Verurteilten und nach Eroberung des Platzes und Abzug der Truppen wurde der kühne Sohn in Freiheit gesetzt.«

»Ein geeigneter Gegenstand für Dichter Ihrer Gegend,« sagte Walter, auf welchen Geschichten dieser Art, bei der Natur seines eigenen Unternehmens, besonderen Eindruck machten.

»Ja; aber wir können uns nur weniger Sänger rühmen, seit der junge Aram uns verlassen hat. – Die Burg – einst der Sitz von Pierce Gaveston – von Hubert III. – von Johann von Gaunt – ward damals geschleift und zerstört. Aus ihren starken Überresten wurden viele Häuser, an welchen wir vorbeikommen werden, erbaut. Wunderlich ist es, beiläufig gesagt, daß sie zweimal von Männern, Namens Lilburn oder Lilleburn erobert ward; einmal unter Eduard II., das andere Mal, wie ich bereits berichtet habe. Bei der Betrachtung geschichtlicher Urkunden müssen wir wirklich oft staunen, wie mitunter gewisse Namen bedeutungsvoll für gewisse Orte gewesen sind, was mich, beiläufig gesagt, daran erinnert, daß unsere Gegend sich rühmt. Geburtsland der englischen Sibylle, der ehrwürdigen Mutter Shipton, zu sein. Der wilde Fels, an dessen Fuß sie geboren sein soll, ist einer solchen Sage in der That würdig.«

»Sie erwähnten vorhin Eugen Aram,« erwiderte Walter, der dem Ritt auf des Pfarrers Steckenpferd nicht mit sonderlicher Geduld zusah, »kannten Sie ihn näher?«

»Nein! Das duldete er von niemand! Er war ein merkwürdiger junger Mann. Ich hatte ein Auge auf ihn von seiner Kindheit an, lange eh' er nach Knaresbro' kam, bis ich ihn, als er vor vierzehn Jahren unsere Stadt verließ, aus dem Gesicht verlor. – Eigen, in sich gekehrt, einsam von Jugend auf! Aber zu welch' vollendeter Geistesbildung hatte er's gebracht! Nie kam mir jemand vor, welchen die Natur mit soviel Nachdruck zur Größe bestimmt hatte. So ausgezeichnet war sein Erfolg in allem, was er unternahm, daß ich mich wundere, weshalb sein Name nicht schon weit allgemeiner Aufmerksamkeit im Auslande erregt hat. Ich bewahre einige zerstreute Dichtungen, die er noch als Knabe verfaßte. Sein armer, längst verstorbener Vater gab sie mir. Sie sind voll dunkler, unklarer Vorahnung seines künftigen Ruhms. Indessen wird dieses Vorgefühl vor seinem Tode – er ist noch jung – wohl immer noch in Erfüllung gehen. Also auch Sie lernten ihn kennen?«

»Ja! ich habe seine Bekanntschaft gemacht. – Halt – darf ich eine Frage, eine furchtbare Frage an Sie richten? Haftete je in Ihrer Seele oder in der Seele von irgend jemand ein Verdacht, daß Aram bei dem geheimnisvollen Verschwinden meines – bei dem Verschwinden Clarkes beteiligt gewesen? Seine Bekanntschaft mit dem wirklich beargwöhnten Hausman; Hausmans Besuch bei Aram in jener Nacht; Arams frühere, wie ich höre bis zum höchsten Grad gehende Armut; seine nachherige Wohlhabenheit, die sich freilich vielleicht auf befriedigende Weise erklären lassen könnte; sein Fortgehen von dieser Stadt gleich nach dem eben erwähnten Verschwinden Clarkes: – dies allein würde noch keinen begründeten Verdacht in mir erwecken, aber ich habe den Mann in Augenblicken gesehen, wo er in Träumerei und Selbstvergessenheit versunken war; habe plötzliche, auffahrende, zornige Empfindlichkeit über jedes unbeabsichtigte Berühren einer Vergangenheit bemerkt, die keineswegs so friedlich oder schuldlos sein dürfte, als sein späterer Wandel. Über seinem Herzen scheint mir irgend eine düstere Erinnerung geheimnisvoll zu schweben, die ich mich nicht enthalten kann für eine schuldvolle anzusehen.«

Walter hatte schnell und mit großer, obwohl halb unterdrückter Aufregung gesprochen. Dabei entflammte ihn die Wahrnehmung noch mehr, daß Summers während seiner Rede die Farbe wechselte und mit peinlicher, unbehaglicher Aufmerksamkeit zuhörte.

»Vernehmen Sie denn,« sagte der Pfarrer nach kurzer Pause mit gedämpftem Ton, »vernehmen Sie denn: Aram ward wirklich verhört; – ich war dabei gegenwärtig – obwohl wegen seines Rufes und der Achtung, die man allgemein für ihn fühlte, das Verhör bei geschlossenen Thüren und im geheimen vorgenommen wurde. Er war, verstehen Sie wohl, nicht des Mordes an dem unglücklichen Clarke verdächtigt, wie denn ein Verdacht auf Mord überhaupt erst entstand, als alle Mittel, eine Spur von Clarke zu bekommen, sich völlig fruchtlos erwiesen hatten; aber er war beargwohnt, mit Hausman im Besitz eines Teils der Juwelen zu sein, mit welchen Clarke bekanntermaßen die Stadt verlassen hatte. Indessen konnte dieser Verdacht einer Beraubung nicht einmal gegen Hausman erwiesen werden, und Aram ward von der Anschuldigung aufs vollständigste freigesprochen. Gleichwohl blieb im Gemüt mehrerer Personen, die dem Verhör beigewohnt, ein Zweifel zurück, der einen so stolzen, empfindlichen Menschen natürlich tief verletzen mußte. Dies war, meiner Ansicht nach, der wahre Grund, warum er Knaresborough unmittelbar nach jenem Verhör verließ. Einige von uns, die Anteil an ihm nahmen und von seiner Schuldlosigkeit überzeugt waren, bewogen damals die übrigen zur Verheimlichung der stattgefundenen gerichtlichen Untersuchung und wirklich wurde bis auf den heutigen Tag, wo die ganze Sache fast vergessen ist, im allgemeinen nichts davon bekannt. Was übrigens die sofort eingetretene Verbesserung seiner Vermögensumstände betrifft, so unterliegt es keinem Zweifel, daß seine Tante ihm ein Legat vermachte, welches diesen Umstand hinreichend zu erklären vermag.«

Walter senkte den Kopf und sein Verdacht begann unsicher zu werden, als der Pfarrer von neuem anhob:

»Indessen fordert meine Pflicht, Ihnen, der bei Clarkes Schicksal so tief beteiligt zu sein scheint, zu sagen, daß mir seitdem Gerüchte zu Ohren gekommen sind, als habe die Frau, in deren Haus Aram wohnte, hie und da undeutliche Worte fallen lassen – Winke, daß sie etwas sagen könnte, – daß sie mehr wisse, als die Leute wohl glaubten; – ja einmal soll sie sogar geäußert haben, Eugen Arams Leben hänge von ihr ab.«

»Gott der Barmherzigkeit! und schlief denn die Untersuchung bei Worten, die ihre Aufmerksamkeit im höchsten Grade hätten in Anspruch nehmen sollen?«

»Nicht ganz – als dieselben zu mir gelangten, begab ich mich in das Haus, fand aber die Frau, deren Charakter und Lebensart gemein und unzuverlässig sind, in ihrem Benehmen kurz angebunden und trotzig, und nach fruchtlosen Versuchen, etwas Näheres über diese Äußerungen herauszubringen, verließ ich sie mit der festen Überzeugung, daß sie sich bloß das Vergnügen einer grundlosen Prahlerei gemacht habe, und daß das leere Geschwätz einer wüsten Klätscherin gegen einen Menschen von Arams tadellosem Charakter und strengen Sitten kein Zeugnis abgeben könnte. Da Sie jedoch die Sache von neuem angeregt haben, wollen wir dem Weibe einen Besuch machen, eh Sie aus unsern Mauern scheiden. Auch möcht' es wohl angebracht sein, den Hausman einer nochmaligen Untersuchung zu unterwerfen, bevor wir ihn ziehen lassen.«

»Dank! Dank! – Kein Faden von diesem dunkeln Knäuel soll mir entschlüpfen!«

»Und jetzt,« bemerkte der Pfarrer, indem er auf ein anständiges Haus zeigte, »sind wir zu Clarkes ehemaliger Wohnung gekommen!«

Ein alter Mann von ehrwürdigem Aussehen öffnete die Thür und bewillkommnete den Geistlichen und seinen Begleiter mit einer Miene herzlicher Hochachtung, in welcher sich die wohlverdiente Popularität des erstern zeigte.

»Wir kommen,« hob der Pfarrer an, »Ihnen einige Fragen in Bezug auf Daniel Clarke vorzulegen, dessen Sie sich als Ihres Mieters erinnern. Dieser Herr ist ein Verwandter von ihm und bei seinem Schicksal in hohem Grade beteiligt.«

»Wie, mein Herr,« rief der Alte, »und auch Sie sein Verwandter, haben von Herrn Warte nichts mehr gehört, seit er unsere Stadt verlassen hat? Seltsam! Just die Stube, worin Sie jetzt stehen, wurde von Herrn Clarke bewohnt und daneben (eine Thür öffnend) war sein Schlafzimmer.«

Nicht ohne mächtige Bewegung fand sich Walter so auf einmal im Gemach des verlorenen Vaters. Welch schmerzlichen, welch düstern und doch welch heiligen Anstrich gewann im Augenblick alles um ihn her! Die altmodischen schweren Stühle – die braunen getäfelten Wände – der kleine Schenktisch, in den Winkel rechts neben dem Kamin zurückgeschoben und mit Stücken von indischem Porzellan und langen Spitzgläsern besetzt – die schmalen, tief in die Mauer eingesenkten Fenster, die eine trübe Aussicht auf einen düstern, schwermütigen Garten hinter dem Hause gewährten – ja der Boden selbst, den er trat – der Tisch, an welchen er sich lehnte – der öde, feuerlose Kamin ihm gegenüber – alles bekam in seinem Auge einen vertrauten Sinn und flüsterte ihm alte bekannte Worte ins Ohr. Und als er das zweite Gemach betrat, wie stiegen da diese seltsamen, halb traurigen, aber doch nicht unangenehmen Empfindungen fast bis zur Überwältigung auf. Da stand das Bett, worauf sein Vater geruht hatte, noch die Nacht vor – was? vielleicht vor seiner Ermordung! Das Bett, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus der Burg, von der Zeit her, als deren altertümliches Gerät zum öffentlichen Verkauf kam, war mit verblichenen Teppichen behangen, und über dem dunkeln, glänzenden Himmel prangten schwere, katafalkartige Zierraten. Alte Kommoden von grobgeschnitztem Eichenholz; ein vergilbter Spiegel in lackiertem Rahmen; ein gewaltiger Armsessel, wie man sie zu Zeiten der Königin Elisabeth hatte, und mit demselben Stoff bekleidet wie das Bett, machten jenen unheimlichen, gräberhaften Eindruck auf das Gemüt, der durch die Trümmer einer modernden, vergessenen Vergangenheit so häufig hervorgebracht wird.

»Es sieht unfreundlich aus, Herr,« bemerkte der Eigentümer, »aber seit Jahren haben wir keinen regelmäßigen Mieter gehabt; alles ist noch gerade wie zur Zeit, als Herr Clarke hier wohnte. Der freilich, behüt' uns der liebe Gott! machte die finstern Stuben lustig genug. War ein munterer Herr. Er und seine Freunde, sonderlich Herr Hausman, ließen die Wände wiederhallen, wenn sie über ihren Bechern waren!«

»Es möchte wohl besser für Herrn Clarke gewesen sein,« erwiderte der Pfarrer, »hätte er sich seine Gefährten mit größerer Sorgfalt ausgesucht. Hausman war kein zuverlässiger, vielleicht nicht einmal ein ganz gefahrloser Gesellschafter.«

»Das ging mich damals nichts an,« entgegnete der Zimmervermieter. »Jetzt wär's was Anderes, seit ich verheiratet bin!«

Der Pfarrer lächelte. »Vielleicht spielten Sie selbst eine Rolle bei diesen Gelagen, Herr Moore?«

»Nun ja, Herr Clarke nötigte mich, gelegentlich ein Glas mitzutrinken.«

»Dann müssen Sie auch wohl die Gespräche mit angehört haben, die zwischen Hausman und jenem geführt wurden? Ließ Herr Clarke bei dergleichen Unterredungen je seine Absicht merken, die Stadt wirklich so schnell zu verlassen? Und falls dies der Fall war, wohin wollte er, seiner Aussage nach, gehen?«

»O! zunächst nach London. Oft hört' ich ihn sagen, daß er sich nach London begeben und dann einen Abstecher zu Verwandten in einen entfernten Teil des Landes machen wolle. Ich erinnere mich, daß er einen kleinen Jungen meines Bruders liebkoste. Euer Ehrwürden kennen den Jakob, jetzt kein kleiner Junge mehr, beinah' so groß wie der Herr da. ›Ach,‹ sagte Herr Clarke und seufzte ordentlich dazu, ›ach, ich hab' zu Haus einen Knaben ungefähr von diesem Alter – wann werd' ich ihn wiedersehen?‹«

»Ja wohl, wann!« dachte Walter und wandte das Gesicht bei einer Erzählung ab, die ihn natürlich sehr aufregen mußte. »Und wußten Sie, daß Clarke in der Nacht, in der er Sie verließ, nicht zu Hause war?«

»Nein! er begab sich zur gewöhnlichen – ziemlich späten – Stunde auf sein Zimmer und am nächsten Morgen fand ich sein Bett unberührt und ihn selbst fort – fort mit all seinen Juwelen, seinem Gelde und was er sonst an Wert hatte; schweres Gepäck führte er nicht mit sich. Er war ein verschmitzter Herr, das Rechnungzahlen kam ihm immer sehr unbequem. An verschiedenen Stellen im Städtchen hatte er starke Schulden, so kurze Zeit er auch hier gewesen. Überall machte er Bestellungen und nichts zahlte er.«

Walter seufzte. Dies war also seines Vaters Charakter. Zum Teil mochte ein solches Benehmen von schlimmen Grundsätzen herrühren, die über die ursprünglichen Gefühle seiner Natur, das Übergewicht erhalten hatten; zum Teil aber auch Folge eines sorglosen, gern auf den kommenden Tag verschiebenden Sinnes sein, der öfter, als wirkliche Schlechtigkeit, um den Vorteil eines guten Namens bringt.

»So würden Sie denn,« hob der Pfarrer wieder an, »nach Ihrem eigenen Urteil und nach der Kenntnis, die Sie von ihm hatten, annehmen, daß Clarkes Verschwinden vorbedacht und daß, obwohl man seitdem nichts mehr von ihm gehört hat, keines von den unheimlichen Gerüchten begründet war, die eine Zeitlang über ihn umliefen?«

»Ich gesteh' Euer Ehrwürden, und bitte diesen Herrn, der, wie Sie sagen, ein Verwandter von Clarke ist, um Verzeihung – ich gestehe, daß ich keinen Grund sehe, anders zu denken?«

»Besuchte auch Herr Aram, Eugen Aram, zuweilen den Clarke? Sahen Sie die beiden je bei einander?«

»Niemals in meinem Hause. Doch denk' ich mir, durch Hausman wird Herr Aram dem Clarke vorgestellt worden sein, und beide dürften sich zwei- bis dreimal gesehen und miteinander gesprochen haben, öfter schwerlich, denn es waren Menschen von gar verschiedenem Sinn, Herr.«

Walter, der seine Selbstbeherrschung wiedergewonnen hatte, mischte sich nunmehr ebenfalls in das Gespräch und suchte durch die genauesten Erkundigungen, die sein Scharfsinn ihm einzugeben vermochte, weiteres Licht über den geheimnisvollen Gegenstand zu erhalten, an welchem sein Herz so tiefen Anteil nahm. Indessen war nichts von irgendwelcher Wichtigkeit aus dem guten Hausbesitzer herauszubringen. Augenscheinlich nährte er die Überzeugung, Clarkes Verschwinden finde in Clarkes Ehrlosigkeit eine genügende Erklärung, und so beachtete er jede andere Vermutung fast gar nicht. Auch gaben ihm Hausmans und Clarkes Zusammenkünfte, so weit er sich derselben erinnerte, durchaus nichts an die Hand, was der Erzählung wert gewesen wäre. Etwas enttäuscht und in gedämpfter Stimmung setzte Walter, begleitet von dem Pfarrer, seine Wanderung fort.


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