Edward Lytton Bulwer
Eugen Aram
Edward Lytton Bulwer

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Siebentes Kapitel.

Die Macht der Liebe über den Entschluß des Gelehrten. – Aram wird ein häufiger Gast im Herrenhause. – Ein Spaziergang. – Gespräch mit Witwe Dunkelmann. – Ihre Geschichte. – Armut und deren Wirkungen.

Madeline:

Und als die Zeit dich öfter zu uns brachte,
Hast du nicht da gleich Träumen meiner Seele
Geheime holde Wunder der Natur,
Die süße Lehre von der grünen Pflanze,
Der bienenvollen Blüte angehaucht?
Und wenn die Nacht auf diese niedre Erde
Ein mildes Schweigen goß, und nun das Herz
Des Himmels lag in atemloser Liebe,
Entrolltest du mir nicht das Buch der Sterne,
Sprachst nicht von Wollen, Winden, zarter Luft,
Mir so beseelt, daß endlich ich gedachte,
Kein ird'scher Mund, nur höhre Geister könnten
Der Göttlichkeiten Wahrheit so enthüllen?
Und so – und so –

Aram:

... entstiegen wir dem Himmel
Und Weisheit zeugte ird'sche Leidenschaft.

Aram:

...Weise rühmten
Des Landmanns dumpfes Los, und stolzes Wissen
Hat niedre Müh beneidet; wenn mit Recht,
Dann laß uns diese Bücher hier verbrennen
Und niedersitzend tändeln mit der Zeit,
Prophet'scher Weisheit hohem Spruche spottend
Das schale Jetzt mit finstrer Wolk' vermauernd,
Bis Nacht uns zur Natur wird, und das Licht
Der Sterne selbst ein Meteor nur, das
Den irren Geist der trägen Ruh entrückt.
Die jetzt sein Glück ist. – Nehmen diesen Freibrief
Von Mühe will auch ich.

Aus Eugen Aram, einer handschriftlichen Tragödie.

Ein scheußlich Weib, ein Bild des Neids, ohn'gleichen
An argem Thun, sich selbst zur Quäl erschaffen,
Sich selbst und andern Ursach gleichen Leids,
Wer konnte streiten mit dem starten Bann
Der diese Welt in ew'gen Wechsel zwingt?
Drum geh' nicht weiter, schweife fürder nicht,
Nein, lieg hier nieder, denk an deine Ruh'.
Spenser.

Wenige Menschen konnten sich vielleicht eines so festen und männlichen Sinnes rühmen, wie Aram einen solchen trotz seiner Überspanntheit besaß. Seine fortdauernde Einsamkeit hatte seine natürliche Willensstärke noch vermehrt; denn, jede Quelle des Glückes nur aus sich selbst schöpfend, nur seine Gedanken zu Gefährten – nur seinen Geist, um seine Einsamkeit zu beleben, – mußte er dem Ton seiner Seele notwendig jene strenge, kräftige Spannung mitteilen, welche durch die Gewohnheit, der einzige Bestimmende des eigenen Selbst zu sein, fast immer hervorgerufen wird; und doch dürfte der Leser, falls er zu jung ist, kaum darüber staunen, daß der Entschluß des Gelehrten, gegen die aufkeimende Liebe zu kämpfen aus welchen Beweggründen er auch hervorgegangen fein mochte, wider dessen Willen allmählich dahinschmolz. Es verdient bemerkt zu werden, daß gerade Enthusiasten für Wissenschaft und stilles Nachdenken zu irgend einer Zeit ihres Lebens unter allen Menschen am empfänglichsten für Liebe gewesen sind. Ihre Einsamkeit nährt ihre Leidenschaft, und seiner, wie sie in der Regel von dem lauten, gewaltsameren Treiben der Welt sind, findet die Liebe, wenn sie einmal in ihr Herz gedrungen ist, kein Gegengewicht gegen ihre Regungen und keine Rettung vor ihrem Sturm.

Zudem hatte Aram eben das Alter erreicht, wo in der Regel eine Art von Ableitung in den Neigungen des Menschen eintritt. In diesem Alter werden gewöhnlich die, deren Lebensberuf bis jetzt die Liebe gewesen ist, für Ehrgeiz empfänglich; die, welche Sklaven des Genusses waren, erwachen aus ihrem Traum und richten ihre Wünsche auf den Gewinn. Und so lassen denn in demselben Verhältnis auch diejenigen, welche bisher die Fülle der Jugendkraft auf unfruchtbarem Boden vergeudeten, welche dem Ehrgeiz fröhnten – oder auch, wie Aram – ihre Herzen der Weisheit weihten, von ihrem Eifer nach, blicken mit Reue auf die entschwundenen Jahre zurück und fangen im Mannesalter an, sich den flammenden Wonnen, dem süßen Wahnsinn hinzugeben, der nur an der Jugend verzeihlich ist. Kurz, wie in jedem menschlichen Streben eine gewisse Nichtigkeit liegt, und wie alles Erstrebte in sich selbst den Samen des Überdrusses trägt, so giebt es eine Zeit, wo wir von dem Streben nachlassen und des Erstrebten überdrüssig sind. Wir blicken dann um uns nach etwas Neuem – folgen diesem – und sind abermals betrogen. Nur wenige Menschen begleitet während ihres ganzen Lebens derselbe Wunsch. Haben wir die Mitte der Brücke erreicht, die uns Sterblichen gezogen ist, so verlocken uns fast jedesmal andere Gegenstände zum Hinabgang, als diejenigen, welche uns zum Hinaufsteigen anreizten. Glücklich die, welche während der ersten Hälfte ihrer Reise alle Schwächen des irdischen Daseins erschöpft haben! Aber wie verschieden ist die Unreife der vorübergehenden Liebe jenes Alters, worin die Leidenschaft noch keine Dauer und Kraft durch den Gedanken erhalten hat, von der Liebe, welche zum erstenmal in reifen, aber immer noch jugendlichen Jahren gefühlt wird! Wie die Flamme heller brennt, je größern Widerstand sie zu überwinden hat, so ist diese späte Liebe um so glühender, je länger die Zeit dauerte, innerhalb welcher ihre Lockungen abgewiesen wurden: die gründlichen, zusammengefaßten und zur höchsten Stufe der Entwickelung gediehenen Seelenkräfte sind jetzt der unendlichen Zerstreuung, den zahllosen Launen der Jugend nicht mehr ausgesetzt; die Strahlen des Herzens, durch keine Teilung geschwächt, vereinigen sich in einem Brennpunkt. »Liebe hat die Natur eines Brennglases, das, wenn man es fortwährend auf einen Punkt hält, Feuer anzündet, wenn man aber mit der Stelle wechselt, wirkungslos ist.« Briefe von Sir John Suckling. Jener Ernst, jene Einheit des Zwecks, die unsere Unternehmungen im Mannesalter so viel erfolgreicher machen, dem gegenüber, was wir in der Jugend hervorbringen konnten, sprechen sich gleich deutlich und gleich sieghaft aus, mögen sie nun auf äußeren Gewinn oder auf Liebe gerichtet sein. Hierzu jedoch müssen die Gefühle, wie bei Aram, noch ebenso frisch als gereift – sie dürfen nicht durch ein bereits mit ihnen getriebenes Lüsteln zerstückelt sein: Liebe muß als das erste Erzeugnis des Bodens, nicht als kränkelnder Nachwuchs erscheinen.

Der Leser wird bemerkt haben, daß die Zeit, worin unsere Erzählung Madeline und Aram das erste Mal zusammenbrachte, nicht das erste Zusammentreffen beider war. Längst hatte Aram mit Bewunderung eine Schönheit wahrgenommen, derengleichen er nie gesehen, und unbestimmte, undeutliche Empfindungen hatten den tiefen Eindruck vorbereitet, den ihr Bild jetzt in ihm erregte. Der Hauptgrund seiner jetzigen steigenden Zuneigung lag jedoch in dem unverkennbaren Wohlwollen, das er bei Madeline selbst für sich vorfand. Eine so zurückgezogene Natur, wie die seinige, hätte vielleicht niemals der Liebe Raum gegeben, falls diese als eine Anmaßung von seiner Seite erschienen wäre. Aber daß eine alle seine Träume überbietende Schönheit, wie Madeline Lester, sich herabließ, eine Zärtlichkeit gegen ihn auszudrücken, die ihm Hoffnung gestattete, war ein Gedanke, der von selbst in sein Herz drang, wenn er ihr Auge unbewußt auf sich ruhen sah und bemerkte, wie ihre Stimme im Sprechen mit ihm sanfter und zitternder wurde. Und dieser Gedanke rief eine unbekannte unwiderstehliche Bewegung in seinem Innern hervor, die durch Einsamkeit und durch das brütende Sinnen der Einsamkeit – ein Sinnen, das umsomehr an Stärke gewinnt, auf je weniger Gegenständen der Betrachtung es ruht – bald zur Liebe zeitigte. Vielleicht würde er gegen diesen Eindruck nicht so sehr angekämpft haben, wie er es wirklich that, hätten nicht eben damals gewisse Empfindungen, welche mit vorangegangenen Ereignissen in Verbindung standen, mächtiger als seit den letzten Jahren auf ihn eingestürmt und so gewissermaßen sein Herz geteilt. Allmählich jedoch sanken diese Gefühle von ihrer Lebhaftigkeit in das gewohnte tiefe, obwohl nicht ganz bedeckende Dunkel zurück, wohin seine mächtige Seele sie früher zur Ruhe gewiesen hatte. Als sie sich dort lagerten, schwebte ihm Madelines Bild ungestörter vor und sein Entschluß, demselben zu widerstehen, ward wankender und schwächer. Das Schicksal schien es darauf abgesehen zu haben, diese beiden Menschen, die einander jetzt schon so sehr anzogen, zusammenzubringen. Nach dem in unserm vorigen Kapitel erwähnten Gespräch zwischen Walter und dem Gelehrten hatte ersterer – wie wir gesehen haben, gegen seinen eigenen Willen gerührt und besänftigt – aus freiem Antrieb (wie früher nur mit Widerstreben) jene Andeutungen des Mißfallens, die er sonst so reichlich über Aram ausgeschüttet, unterdrückt, und Lester, der sich, bei aller eigenen Bereitwilligkeit, durch die feindliche Gesinnung seines Pflegesohnes in der Annäherung zu seinem Nachbar etwas zurückgehalten fühlte, hatte nun kein Bedenken mehr, seine Freundschaft mit einer Beharrlichkeit aufzudrängen, die eine Abweisung beinahe unmöglich machte. Es war Arams unabänderliche Gewohnheit, in jeder Jahreszeit zu gewissen Tagesstunden umherzustreifen, besonders gegen Abend; gelang es ihm daher nicht, sich Eingang in des Gelehrten Haus zu verschaffen, so wurde es Lester somit doch möglich, mit ihm auf seinen häufigen Wanderungen zusammenzutreffen, wobei er immer noch den Schein retten konnte, als geschehe dies ohne Absicht. In seiner großen Herzensgüte wünschte er eifrigst, den einsamen freundlosen Mann aus einer Stimmung und Gewohnheit zu reißen, welche, wie er nicht anders glauben konnte, denselben in immer tieferen Trübsinn versenken mußten. Seit Walter ihm das Nähere über sein Zusammentreffen mit Aram mitgeteilt hatte, war dieser Wunsch noch bedeutend stärker geworden. Es giebt vielleicht kein mächtigeres Gefühl in der Welt, als Mitleid, das sich mit Bewunderung verbindet. Auch ist es, wenn ein Mensch den festen Entschluß hat, einen andern kennen zu lernen, fast unmöglich, ihn daran zu hindern; täglich sehen wir die merkwürdigsten Beispiele, wie Beharrlichkeit von der einen Seite Abneigung von der andern besiegt. So ließ denn auch allmählich Aram in seiner Ungeselligkeit nach; er schien sich einer Freundschaft zu unterwerfen, deren Aufrichtigkeit er anerkennen mußte. Weigerte er sich lange Zeit, bei dem Nachbar einzukehren, so zog er sich doch nicht von seiner Gesellschaft zurück, wenn sie einander begegneten. Dieser Umgang wurde nach und nach inniger, bis endlich der Einsiedler den Bitten nachgab und der Gast des Hauses wurde, wie er der Gefährte des Feldes gewesen. Was nur als vorübergehende Zufälligkeit begonnen hatte, wurde, obwohl nicht ohne mannigfaltige Unterbrechungen, zur Gewohnheit, und endlich verstrichen den Bewohnern des Herrenhauses wenige Abende ohne die Gegenwart des Gelehrten.

So wie seine Zurückhaltung nachließ, gesellte sich den Reizen seiner Unterhaltung noch der liebevolle, wohlwollende Ton bei, in welchem sie vorgebracht wurde. Er schien erkenntlich für die Mühe, die man sich gegeben, ihn in einen Kreis zu ziehen, worin er, wie er zuletzt selber anerkennen mußte, ein vorher nie empfundenes Glück genoß; und die, welche ihn bisher seines Geistes wegen bewundert hatten bewunderten ihn jetzt noch mehr wegen seiner Empfänglichkeit für fremde Zuneigung.

Nichts an Aram erinnerte an pedantische Schroffheit oder die kleinliche Eitelkeit wissenschaftlicher Rechthaberei. Seine Stimme war sanft und gedämpft und sein Benehmen immer höchst anständig und voll bescheidener Würde. Wohl nahm seine Sprache hie und da einen ruhigen, gleichsam väterlichen Herrscherton an, aber es war nur die Herrschaft, die aus dem innigen Gefühl der Wahrheit dessen, was er sagte, entsprang. Mochte er die moralische Natur des Menschen zergliedern, oder über die Täuschungen der Welt trauern: stets atmete ein ernster, weihevoller Geist aus seinen erhabenen Worten und tiefer Schmerz aus seiner Weisheit. Aber er beleidigte nicht, sondern rührte – demütigte nicht, sondern erhob das untergeordnete Verständnis seiner Zuhörer; und selbst diese Form unbewußter Überlegenheit verschwand, wenn man ihn um Belehrung, um Erläuterung bat.

Jene Aufgabe, welche von so wenigen auf gefällige Weise gelöst wird, daß ein scharfsinniger Denker gesagt hat, »jederzeit können wir mit Sicherheit lernen, selbst von unsern Feinden; selten sind wir sicher, selbst wenn wir unsere Freunde belehren« – löste Aram mit einer Milde und Schlichtheit, welche, während sie die Unkunde des Anfragenden berichtigte, noch dessen Eitelkeit entzückte; und so mannigfaltig und ins einzelne gehend waren die Kenntnisse dieses hochgebildeten Mannes, daß es wenige Zweige, selbst des in der Regel sogenannten praktischen Wissens gab, für welche er nicht aus seinem Vorrat irgend etwas Wertvolles und Neues mitzuteilen vermocht hätte. Der Landwirt war erstaunt, wie erfolgreich seine Ratschläge sich erwiesen; der Handwerksmann verdankte ihm manchen Wink, der seine Arbeit abkürzte, während er ihr Ergebnis verbesserte.

Damals war das Studium der Botanik keine so allgemeine Lieblingsbeschäftigung junger Damen, wie sie es jetzt geworden ist, so daß Ellinor, entzückt, als sie von einer Wissenschaft vernahm, welche in das lieblichste Erzeugnis der Erde Leben und Geschichte bringt, Aram bat, sie die Grundsätze derselben zu lehren.

Da Madeline, wiewohl sie selbst das Gesuch nicht unterstützt hatte, nicht wohl teilnahmlos bei dem Unterricht bleiben konnte, so brachte diese Unterhaltung die beiden – jetzt schon Liebenden – inniger und inniger zusammen. Sie war ein Bindemittel zwischen ihnen nicht nur zu Hause, sondern auch auf ihren Spaziergängen durch die reizende Gegend; liegt doch eine geheimnisvolle Macht in der Natur, die uns beim Anblick ihrer höchsten Lieblichkeit am empfänglichsten für Liebe macht! Und dann, wie oft begegneten sich bei dieser Beschäftigung ihre Hände, ihre Augen; – wie oft trafen sie einander allein im schattigen Wald, oder am sanft hingleitenden Bach! Wie gefährlich war zu allen Zeiten der Zusammenhang von Schüler und Lehrer, wenn beide verschiedenen Geschlechtes sind! Unter wie vielen Vorwänden findet bei einem solchen Zusammenhang das Herz Gelegenheit, sich auszusprechen!

Doch überließ sich Aram nicht mit wohlgefälligem Nachgeben dem Rausch seiner wachsenden Zärtlichkeit. Zuweilen war er absichtlich kalt, oder rang augenscheinlich mit der mächtigen Leidenschaft, die seine Vernunft bemeisterte. Nicht ohne schwere Kämpfe, ohne verzweifelten Widerstand bewältigte ihn endlich die Liebe. Wenn indessen dieser Wechsel in seiner Stimmung Madeline bisweilen beleidigte, bisweilen kränkte, so trug er doch weit eher dazu bei, den Zauber, welcher sie an Aram knüpfte, zu verstärken als zu schwächen. Zweifel und Furcht, Laune und Veränderlichkeit, wie sie die Oberfläche der Leidenschaft bewegen, schwellen auch ihre Tiefe! Frauen zumal, deren Liebe so sehr das Geschöpf ihrer Einbildungskraft ist, verlangen an dem Gegenstande ihrer Neigung immer etwas Geheimnisvolles, etwas das ihnen Raum zu Vermutungen läßt. Es ist ein Genuß für sie, sich selbst mit tausend Besorgnissen zu quälen, und je andauernder der Geliebte ihrem Gemüt zu schaffen macht, um so tiefer dringt er in dasselbe ein.

Mit ihrer reinen zärtlichen Anhänglichkeit an Aram eine hohe, nie wankende Verehrung verbindend, sah sie in seiner Launenhaftigkeit, in der gelegentlichen Zerstreuung und den Widersprüchen seines Benehmens nur eine Bestätigung dessen, was die eigene Bescheidenheit ihr so oft als Schreckbild vormalte: sie glaubte, er halte sie in solchen Augenblicken – so wie sie selber sich schätzte – seiner Liebe für unwürdig. Dies war der einzige Kampf, der, ihrer Meinung nach, zwischen der Neigung die er augenscheinlich für sie hatte und zwischen den Gefühlen, die ihn bis jetzt noch von einem offenen Bekenntnis abhielten, stattfand.

Auf einem Spaziergange, den Lester und die beiden Schwestern eines Abends mit dem Gelehrten durch das kleine Thal machten, welches zum Hause des letztern führte, sahen sie ein altes Weib Brennholz unter den Büschen sammeln, während ein kleines Mädchen ihre Schürze ausgebreitet hielt, um das Reisig aufzunehmen, womit die dürren Arme der Alten sie in reichem Maß füllten. Das Kind zitterte und schien fast zu weinen, während das Weib in einem rauhen, herben Gekrächz Scheltworte und Klagen herknurrte.

Der Anblick der letztern hatte etwas Imponierendes und Mißfälliges zugleich; eine dunkle, welke, runzlige Haut zog sich wie Pergament über harte adlerartige Züge hin; die Augen schimmerten schwarz und boshaft durch die Flüssigkeit des Alters; selbst in ihrer gekrümmten Stellung erkannte man noch einen weit über die gewöhnliche Größe hinausragenden Wuchs, obwohl durch Alter und Armut eingeschrumpft und abgemagert. Es war eine Gestalt und ein Gesicht, die beide an die berühmte Beschreibung Otways erinnern konnten, von der wir uns einen Teil bereits, ohne uns dessen bewußt zu werden, angeeignet haben, und deren andern wir hier vollends borgen wollen:

Den krummen Schultern hatt' sie umgeworfen
Zerfetzte Reste eines alten Vorhangs,
Der ihr Geripp vor Kälte schützen sollte,
Und trug nichts an sich, das aus einem Stück.
Ihr Unterkleid war grob, durchweg geflickt,
Schwarz, rot, weiß, gelb, aus viel gefärbten Lumpen,
Als spräche es von Elends wirrem Wechsel.

»Sieh da,« sagte Lester, »einer von den Dornen unseres Dorfes, die einzige unzufriedene Person.«

»Was, Grete Dunkelmann!« rief Ellinor hastig, »ach, kehren wir um; ich mag diesem alten Weibe nicht begegnen; sie hat etwas so Boshaftes und Wildes in der Art, wie sie spricht; und seht, wie sie das arme Mädchen ausschilt, das sie durch Gewalt oder durch eine Lüge dahin gebracht haben muß, ihr zu helfen!«

Aram blickte neugierig auf die alte Zauberin. »Armut,« sagte er, »macht oft demütig, aber noch öfter boshaft. Ist es nicht die Dürftigkeit, welche der Natur dieser armen Frau etwas Teuflisches einimpft? Kommt, reden wir sie an, ich halte gern Zwiesprach mit dem Unglück.«

»Das ist wohl harte Arbeit?« sagte er in wohlwollendem Ton zu der Alten.

Diese sah ihn von der Seite an – die Musik der Stimme, welche sie anredete, klang ihrem Ohr rauh. »Hoho!« antwortete sie. »Ihr vornehmen Leute wißt nicht, was alles dem Armen weh thut, Ihr schwatzt und schwatzt, aber nie kommt's zum Helfen.«

»Sagt nicht so, Frau.« entgegnete Lester, »hab' ich Euch nicht noch gestern Brot und Geld geschickt; und wann klopft Ihr je in der Halle an, ohne daß Euch Hilfe zu teil wird?«

»Aber 's Brot war trocken wie 'n Stück Holz.« grinste die Hexe, »und 's Geld, wie viel war's? Wird's für 'ne Woche ausreichen? Ja doch! Ihr stellt Euch da was von Euern Hellern und Pfennigen vor, als nähmt' Ihr Euch was Rechts, um's uns zu geben. Hattet Ihr 'ne Schüssel weniger – ja, nur 'ne Kartoffel weniger, als Ihr mir Euer Almosen, wie Ihr's nennen werdet, zusandtet? O Pfui! Aber die Bibel ist der Trost der armen Menschheit.«

»Es freut mich, daß Ihr das sagt, Mutter,« antwortete der gutmütige Lester, »und ich vergeb' Euch um dieses Wortes willen alles übrige, was Ihr gesprochen.«

Die Alte warf das Reisig, das sie eben in Händen hatte, auf den Boden und blickte mit einem boshaften Ausdruck ihrer schwarzen Augen in das wohlwollende Gesicht des Sprechenden.

»Thut Ihr so? Gut, freut mich, daß ich's Euch darin recht mach'. Ja, die Bibel ist 'n mächtiger Trost, denn sie sagt, der Reiche werde nicht ins Himmelreich kommen! Das ist 'n Wort für Euch, worüber das Herz der armen Leute vor Freuden zirpt wie 'ne Grille. Ha! ha! ha! Wenn ich so 's abends vor der Asche sitz' und denk und denk, wie ich Euch 'nmal brennen sehen werd', und Ihr mich um 'n Tropfen Wassers bitten werdet, und ich dann auf meinem goldenen Stuhl mit den Engeln lache – o 's ist 'n Buch für die Armen das!«

Die Schwestern schauderten. »Und glaubt Ihr denn, daß Ihr mit Neid, Mißgunst und der ganzen Feindseligkeit Eures Herzens in den Himmel kommen werdet? Schämt Euch! Zieht den Balken aus Eurem eigenen Auge!«

»Was soll's Predigen? Ist der Heiland nicht für die Armen kommen? Wer hier unten Lumpen und trocken Brot hat, wird erhöhet werden in der andern Welt; und wenn wir armen Leute mißgünstig sind, wie Ihr's nennt, wer ist schuld daran? Was lehrt Ihr uns? He? Antwortet mir 'nmal. Ihr behaltet alle Lehr' und alle andern schöne Dinge für Euch selbst, und dann schimpft Ihr und droht und bringt uns an den Galgen, weil wir nicht so klug sind als Ihr. O, 's wär' keine Gerechtigkeit im Lamm Gottes, wenn der Himmel nicht für uns wär, und die ewige Höll' mit ihrem Schwefel und Feuer und ihrem Heulen und Zähnklappen und ihrem Durst und ihrer Qual und ihrem Wurm, der nicht stirbt, für Leute wie Ihr.«

»Fort, lassen Sie uns fortgehen,« sagte Ellinor, ihren Vater am Arm ziehend.

»Und wenn ich nun,« sagte Aram stehenbleibend, »wenn ich nun zu Euch spräche: sagt mir, was Euch abgeht und ich will es Euch geben, würdet Ihr auch mit mir kein Mitleid haben?«

»Hm,« erwiderte die Hexe, »Ihr seid der große Gelehrte und 's heißt, Ihr wüßtet, was keiner sonst weiß; so sagt mir doch« – damit näherte sie sich und legte ihre dürren Finger auf Arams Arm – »sagt mir doch, habt Ihr je unter andern schönen Dingen auch gelernt, was Armut ist?«

»Ich habe es gelernt, Frau!« sagte Aram mit starker Stimme.

»Ihr habt's gelernt? Und saß't Ihr nicht und seufztet und nagtet am eigenen Herzen und verfluchtet die Sonne, die so lustig herabsieht und die geflügelten Dinger, die so froh herumschwirren, und murrtet über die reichen Leute, die nie 'n Gedanken an Euch verschwendeten? Sagt mir das, Euer Edlen, sagt das!«

Damit verneigte sich die Alte und äffte eine demütige Bitte nach.

»Ich habe auch im Elend nie die Liebe vergessen, welche ich meinen leidenden Mitbrüdern schuldig war; denn, Weib, wir alle leiden, der Reiche wie der Arme, es giebt größere Schmerzen als die des Mangels!«

»Meint Ihr so? 'n Trost das! Ja, ich will Euch sagen, vor Euch hab' ich mehr Respekt als vor den andern da; denn Euer Gesicht höhnt mich nicht durch 'n so lustiges Aussehen, wie das von diesen da; und ich hab' gesehen, daß Ihr in der Dämmerung mit niedergeschlagenen Augen und gekreuzten Armen umwandelt, und hab' gesagt: den Mann haß ich nicht so, denn er hat was Dunkles auf 'm Herzen wie ich!«

»Leiden sind das Los dieser Erde,« entgegnete Aram ruhig, aber doch vor der Berührung der Alten zurückzuckend. »Urteilen wir mild und handeln wir liebevoll gegen einander. Da – das ist nicht viel Geld, aber es wird Euern Herd wärmen und Euern Tisch, ohne daß Ihr Euch mühen müßt, mit Speise füllen, wenigstens für einige Tage!« »Dank, Euer Edlen! und wie denkt Ihr, daß ich's Geld verwenden werde?«

»Wie?«

»Vertrinken, vertrinken, vertrinken!« schrie die Hexe mit frechem Ton: »Nichts über's Trinken für 'n Armen, denn dann stellen wir uns vor, was wir gern haben möchten, und« – ihre Stimme zum Flüstern herabsenkend – »dann mein' ich, ich tret' den reichen Leuten mit den Füßen auf 'n Leib, und meine Hände wühlten in ihren Eingeweiden, und hör' sie schreien und – dann ist mir's wohl!«

»Geht nach Hause,« sagte Aram, sich abwendend, »und schlagt das Buch des Lebens mit andern Gedanken auf.«

Die kleine Gruppe bewegte sich jetzt weiter, und Lester bemerkte zurückblickend, daß die Alte ihnen nachsah, bis eine Biegung des Thales sie ihrem Auge entzog.

»Das ist ein seltsames Weib, Aram; kein vorteilhaftes Bild vom Glück des englischen Landmanns!« rief Lester lächelnd.

»Doch sagt man,« setzte Madeline hinzu, »sie sei nicht immer ein so boshaftes, feindseliges Geschöpf gewesen wie jetzt.«

»Ja?« erwiderte Aram, »und was ist denn ihre Geschichte?«

»Ach!« entgegnete Madeline mit leichtem Erröten, sich zur Erzählerin einer Geschichte gemacht zu sehen, »vor einigen vierzig Jahren war diese Frau, die jetzt so häßlich und grauenerregend aussieht, die Schönheit des Dorfes. Sie heiratete einen irländischen Soldaten, dessen Regiment durch Grünthal kam und von da an hörte man nichts mehr von ihr, bis vor ungefähr zehn Jahren, wo sie als das unzufriedene, veränderte Wesen, wie Sie sie jetzt sehen, nach ihrem Geburtsorte zurückkehrte.«

»Sie macht kein Geheimnis aus ihrem frühern Leben,« sagte Lester, »im Gegenteil, sie ist glücklich, wenn sie irgend jemand findet, den sie zum Gegenstand ihres scheelsüchtigen Vertrauens machen kann. Sie sah ihren Gatten, der später aus dem Dienst entlassen wurde, einen starken, kräftigen Menschen, einen Riesen unter seinen Landsleuten, Zoll für Zoll aus bloßem Mangel an Nahrung verkümmern und hinwelken und zuletzt buchstäblich Hungers sterben. Beide hatten sich in der Grafschaft niedergelassen, in welcher der Mann geboren worden, und dort war der Nahrungsmangel, der so oft Irlands Geisel ist, zwei Jahre hintereinander besonders hart gewesen. Sie werden bemerkt haben, daß der Alten eine gute Ader roher Beredsamkeit zu Gebot steht, dank vielleicht dem Lande, worin sie so lange gelebt hat, wenigstens erinnert sie an den natürlichen Charakter desselben. Schauder würde Sie im wörtlichen Sinne ergreifen, wenn Sie die Beschreibung von Elend und Mangel hörten, dessen Zeugin sie war, und unter welchem ihr Mann seinen letzten Atem aushauchte. Von ihren vier Nachkommen lebt niemand mehr. Einer starb noch als Kind, eine Woche nach dem Vater; zwei andere Söhne, der eine sechzehn Jahre alt, der andere ein Jahr älter, wurden wegen eines unter erschwerenden Umständen begangenen Raubes hingerichtet; eine Tochter starb im Spital in London. Die Alte wurde eine Landstreicherin, so daß man sie endlich nach ihrem Geburtsorte zurückbrachte, wo sie seitdem wieder wohnt. Dies sind die Unglücksfälle, welche ihr Blut in Galle verwandelt haben, und die Ursachen, welche sie mit so bitterem Haß gegen diejenigen erfüllen, die in ihrem Vermögen ein Schutzmittel vor einem Schicksal wie das ihrige besitzen.«

»Ach,« sagte Aram mit leisem aber tiefem Ton, »wann werden diese furchtbaren Ungleichheiten aus der Welt verbannt werden? Wie viel edle Naturen – wie viel strahlende Hoffnungen – wie mancher Geist würdig eines Seraphs – wurden in Staub getreten, oder zum Verbrechen herabgerissen, bloß durch die Macht des physischen Mangels! Was sind die Versuchungen des Reichen gegen diejenigen des Armen? Und doch sehen Sie, wie mild wir gegen die Schuld der einen, wie unbarmherzig gegen diejenige der andern sind! Es ist eine arge Welt; man bekommt Herzweh, wenn man um sich blickt. Das Bewußtsein, wie wenig die Wirksamkeit des einzelnen vermag, um der Masse aufzuhelfen, zermalmt wie mit einem Stein, was da Edles im Ehrgeiz liegen mag; wer sich da noch über die Niedrigkeit des Lebens erheben will, ist nur um so sicherer ein Selbstsüchtiger.«

»Vermöchten Gesetzgeber oder Lehrer der Moral, von welchen die Gesetzgeber ihren Unterricht empfangen, wirklich so wenig für das allgemeine Beste?« fragte Lester zweifelnd.

»Wie? was können Sie thun als die Verfeinerung befördern, und was ist Verfeinerung anders als Vermehrung der menschlichen Ungleichheiten? Je größer der Reichtum der wenigen, um so erschreckender der Mangel, um so peinlicher das Gefühl der Armut. Die Träume der Philanthropen gehen auf allgemeine Gleichheit; wo aber wäre Gleichheit zu finden, als im Stande der Wilden? Nein; ehemals dachte ich anders, aber jetzt betrachte ich das große Lazaret um uns her ohne Hoffnung. Der Tod ist der einzige Arzt!« »Nicht doch!« entgegnete lebhaft die hochgesinnte Madeline, »nehmen Sie uns nicht das beste Gefühl, den höchsten Wunsch, den wir nähren können. Wie ärmlich wäre das Leben, selbst in dieser schönen Welt mit der warmen Sonne und der frischen Luft um uns her, die schon allein hinreichen, uns froh zu machen, wenn wir nichts zum Glück der andern beitragen könnten!«

Aram sah mit sanftem, halb schmerzlichem Lächeln auf die schöne Sprecherin. Wenn wir älter werden, giebt es ein eigentümliches Vergnügen für uns – in einer andern und lieblichern Gestalt Gedanken und Gefühle, die wir einst selbst hatten, verkörpert zu erblicken. Es ist, als sähen wir unsere eigene Jugend in zweiter Erscheinung und kein Wunder, daß wir uns erwärmt fühlen für den Gegenstand, der auf diese Art die lebende Erscheinung alles dessen zu sein scheint, was einst in uns selbst so hell glänzte! Mit diesem Gefühl schaute Aram jetzt auf Madeline. Sie fühlte den Blick und ihr Herz schlug selig empor; aber auf einmal versank sie in ein Stillschweigen, welches sie den übrigen Spaziergang hindurch nicht mehr brach.

»Ich behaupte nicht,« sagte Aram nach einer Pause, »daß wir nicht fähig seien, das Glück unserer unmittelbaren Umgebung zu machen. Ich spreche nur von dem, was wir für die große Masse thun können. Es ist ein tötender Gedanke für geistiges Streben, daß der Kreis von Glückseligkeit, den wir schaffen können, mehr durch unsere sittlichen als durch unsere geistigen Eigenschaften gebildet wird. Ein liebevolles Herz, wenn auch nur von einem mittelmäßigen Verstand begleitet, hat immer mehr Wahrscheinlichkeit für sich, das Glück derjenigen, welche ihm nahe stehen, zu schaffen, als die in sich selbst versunkene, von der Welt abgezogene Kraft einer höheren Intelligenz, wie menschenfreundlich auch derjenige sei, dem sie angehört. Aber (bemerkend, daß Lester ihn unterbrechen wolle) verlassen wir diesen Gegenstand und kehren von der Schwäche des Menschen zu der Glorie der Natur, seiner Mutter, zurück.«

Und warm wie er immer ward, sobald er auf einen seiner Betrachtung so teuren Gegenstand zu reden kam, sprach Aram jetzt von den Sternen, die eben zu funkeln begannen – von dem großen unbegrenzbaren Felde, welches die Wissenschaft in neuerer Zeit der Einbildungskraft geöffnet – und von den älteren trügerischen aber beredten Theorien, die von Jahrhundert zu Jahrhundert die Vorstellungen früherer Denker zugleich mißleitet und erhoben hatten. Das alles war ein Stoff, auf welchen seine Zuhörer gern horchten und Madeline nicht am wenigsten. Jugend, Schönheit, Pracht – welche Anziehungskraft haben sie für ein weibliches Herz, in Vergleich mit einem beredten Munde? Der Zauber der Zunge ist der gefährlichste unter allen!


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