Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Der Tod in der Flasche

Der alte Ulebuhle saß vor seinem Raritätenschrein und kramte in alten Erinnerungen. Längst schon hatte die treue Christine die Studierlampe mit dem grünen Schirm gebracht, leise waren die Kinder in das Zimmer getreten, aber der seltsame Alte saß noch immer schweigend und in Gedanken versunken vor seinem Schrein.

Eine merkwürdig geformte Glasflasche hielt er in der Hand. Sie war mit einem Holzkorken geschlossen, über dem ein dicker Wattebausch lag, und eine dicke Schicht schwarzen Siegellackes saß wie eine Haube oben darauf. Ein Papierstreifen, mit Tinte beschrieben, voll lateinischer Worte überzog den kugelrunden Bauch der Flasche, die in einen langen, dünnen Hals auslief. Eine verdickte gelbliche Flüssigkeit, gleich festgewordenem Leim, füllte das Gefäß, ein Totenkopf, weiß auf schwarzem Papier gemalt, umgeben von drei Kreuzen, saß wie ein Siegel oben am Halse. Die Flasche paßte in einen dick mit Watte ausgefütterten eisernen Kasten, den ein kunstvolles Schloß vor unberufener Öffnung schützte, und auf diesem Kasten klebte ein vergilbter Zettel mit der kaum noch lesbaren Aufschrift: Bangalore, in den Tagen des Schreckens. Doktor Gravesgrave.

»Ulebuhle«, sagten die Kinder nach langem, geduldigem Schweigen, »was ist in der sonderbaren Flasche, die Ihr so lange betrachtet?«

Da erwachte der Alte wie aus einem Traum. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirne und sagte: »Kinder, ich war mit meinen Gedanken weit fort und habe euch nicht eintreten hören. Laßt mich erst die Flasche wieder verschließen und bleibt davon!«

Da tat er den gläsernen Kolben wieder behutsam in den eisernen Kasten und verschloß ihn dreimal sorgfältig. Dann verschloß er den Schrein und langte nach seiner Pfeife.

»Was war in der Flasche?« fragten die Kinder.

Da sah der alte Ulebuhle sie lange eigentümlich an und sagte ernst: »Der Tod!«

Das klang so schön gruselig und geheimnisvoll, und die Kinder 254 witterten eine schöne Geschichte hinter der ganzen Sache. So bestürmten sie den gelehrten Alten mit tausend Fragen, bis er knurrig Ruhe gebot und – tief in seinem Lehnstuhl vergraben – sich anschickte, die Geschichte vom Tod in der Flasche zu erzählen.

»Schweigt«, sagte er, »denn es ist eine lange Geschichte, und wenn man nicht gut aufpaßt, kann man sie nicht verstehen, denn es handelt sich um eine gelehrte Sache und um ein großes Unglück.«

Da setzten wir uns still rings um den Alten herum, und er begann:

»Ich hatte einen Jugendfreund, der hieß Gravesgrave. Er war klüger als wir alle zusammen und studierte später auf allen möglichen Universitäten die schwere Kunst, die Krankheiten der Menschen zu erkennen und zu heilen. Aber ganz besonders wollte er herausbekommen, wie man die Pest, die Cholera, die schwarzen Pocken und andere böse Krankheiten bekämpfen könne, die mit einem Male über die Erde hereinbrechen wie der furchtbare Würgengel selbst und ganze Städte, ganze Provinzen, ganze Länder aussterben machen.

Eines Tages, als er sich in England befand, hatte er gehört, daß im fernen Indien eine furchtbare Seuche wüte, an der Hunderttausende starben. Kein Mensch wußte, woher sie kam, wie sie zu heilen sei. Sie griff um sich wie ein Feuer, das zur Hochsommerzeit einen ausgedörrten Kiefernwald befällt, von Baum zu Baum springt und erst erlischt, wenn der ganze Wald verkohlt am Boden liegt. So auch erlosch die Krankheit an manchem Ort erst, wenn nichts mehr zu töten war.

Machtlos standen die berühmtesten Ärzte, die aus Europa hingeschickt wurden nach dem fernen Indien, ja sie mußten trachten, sich selbst zu retten im großen Sterben. Die Inder aber taten gar nichts. Sie beteten zu ihrem Gott und sagten, es sei sein Wille. Der Mensch könne dagegen nichts tun.

Der rätselhafte Tod aber wütete weiter.

Da hörte der Doktor Gravesgrave von den Dingen, und er erkannte, daß gerade dort für ihn der rechte Platz sei, denn Seuchen zu studieren und zu vertreiben, das war sein Wunsch und Wille. So schiffte er sich denn ein zu der weiten Reise und landete endlich nach glücklicher Fahrt an Indiens Küste. Furchtlos durchstreifte er die Stätten des Schreckens, ausgestorbene Städte und Landstriche. Er studierte unablässig, wie gesunde Leute in wenigen Stunden erkrankten und starben, 255 wie der geheimnisvolle Tod sie wie der Räuber hinterm Busch anfiel und zu Boden schlug, ohne daß sie selbst wußten, wie es kam und warum es kam.

Doktor Gravesgrave grübelte Tag und Nacht, Woche um Woche, er untersuchte Lebende und Tote, Gesunde und Kranke und konnte das Rätsel der Krankheit nicht entdecken. Er wurde aber nicht mutlos. Wie ein tapferer Soldat stürzte er sich immer aufs neue in den Kampf gegen den geheimnisvollen Würger, und wie durch ein Wunder entging er selbst der Krankheit und dem Tode. Eines Tages, als er wieder in seinem Studierzimmer saß und bei einer Pfeife darüber nachdachte, daß all seine Arbeit bisher erfolglos gewesen sei und die armen Menschen im Lande noch immer zu vielen Tausenden starben, kam er auf den Gedanken, daß man vielleicht den unsichtbaren Feind im Blute der kranken Menschen entdecken könne. Da ging er hin und nahm das 256 allerstärkste Vergrößerungsglas, das er unter all seinen vielen Instrumenten hatte, ein mächtiges Mikroskop, mit dem man die Dinge dreitausendmal vergrößern konnte. Dann rief er seinen jungen Diener, der kerngesund war, stach ihn mit einer kleinen Nadel ganz wenig in den Arm, so daß ein kleines Tröpfchen Blut hervortrat, und brachte den kleinen Blutstropfen unter sein mächtiges Vergrößerungsglas.

Habt ihr schon einmal einen Tropfen Blut unter dem Mikroskop gesehen? Das sieht gar sonderbar aus. Da sieht man eine helle Flüssigkeit, und in der schwimmen Millionen rötliche runde Blättchen, wie kleine Tellerchen. Das sind die roten Blutkörperchen. In einem Kubikzentimeter Blut sind an die fünf Millionen dieser kleinen Scheiben enthalten, und an die neunundzwanzig Billionen kreisen unablässig durch die Adern eines Erwachsenen, wie in der großen Stadt das Wasser in den Wasserleitungen durch tausend Kanäle und Röhren strömt. Und dann sind da noch andere kleine Scheiben, die sind weiß, und es sind ihrer viel weniger. Das sind die Polizeisoldaten in den Adern. Dringt irgendein böser Feind, der die roten Blutkörperchen zerstören will, in das Blut ein, so stürzen die weißen Blutkörper über ihn her und suchen ihn zu töten. Ja, es ist ein wunderbares Leben in den Adern unseres Körpers, ein Gewimmel wie in einer großen Stadt. Sobald aber die Millionen und aber Millionen Blutkörperchen krank werden oder gar absterben, dann ist es um uns geschehen, dann erstirbt das Leben in den Straßen unseres Leibes, dann sterben wir selbst.

Der gelehrte Doktor Gravesgrave schaute durch sein wundervolles Glas hinein in den Tropfen Blut seines Dieners, er sah die roten und die weißen Blutkörperchen, aber sie waren frisch und lebendig, und es war alles in Ordnung.

Am anderen Morgen jedoch lag der arme braune Teufel bereits auf seiner Matte und murmelte, schwerkrank, Gebete. Der geheimnisvolle Tod hatte ihn in der Nacht überfallen. Sein Herr stand dabei und konnte ihm nicht helfen. Aber er hatte einen guten Gedanken. Er nahm wieder eine Nadel und stach ein Tröpfchen Blut aus dem Arm des Burschen hervor, und wieder besah er es unter dem mächtigen Glase. Ja, das war ein guter Gedanke, denn nun machte er eine wichtige Entdeckung! Da sah er, wie winzigwinzige Lebewesen in dem Tröpfchen Blut hin und her schossen, die gestern noch nicht darin gewesen. 257 Deutlich konnte man sehen, wie sie die roten Blutkörperchen anfielen und verzehrten. Er sah, wie die weißen Blutkörper, die Polizisten der Adern, sich den gefräßigen Räubern entgegenwarfen, viele von ihnen töteten, aber ihre Zahl war so groß, daß die weißen mit ihnen nicht fertig werden konnten und immer mehr rote Scheibchen zerfressen und vernichtet wurden. Es war ein wilder Kampf in diesem Tröpfchen Blut, und ein viel wilderer Kampf mußte im Körper, in den Adern des kranken jungen Inders vor sich gehen.

Da sprang der gelehrte Doktor fröhlich auf. ›Ha‹, rief er, ›nun habe ich den geheimnisvollen Tod entdeckt. Mit eigenen Augen habe ich ihn gesehen. Im Blut der Kranken schwimmt er, ein gefräßiger Räuber, den Lebenssaft vernichtend und zerstörend. In den Adern der kranken Menschen kämpft ein ungeheures Heer von Räubern gegen die Schutzgarde der weißen Blutkörper. Es überwindet sie, tötet die roten Träger des Lebens, und der Mensch muß sterben!‹

Aber dann wurde Doktor Gravesgrave wieder still und traurig. ›Ach‹, klagte er, ›was nützt es mir und was kann es den Kranken nützen, daß ich nun weiß, weshalb sie sterben müssen, helfen, helfen kann ich ihnen auch damit nicht, und darauf allein kommt es an. Ja, wenn ich wüßte, wie dieses Heer von Räubern, wie diese seltsamen winzigwinzigen Geschöpfe in das Blut, in die Adern der Menschen hineingelangen, dann vielleicht könnte ich helfen. Aber, ach, ich werde es niemals erfahren!‹

Da ging er wieder hinab zu dem jungen Inder, der sterbend auf seiner Matte lag. Er legte nasse Tücher um seine heiße Stirn und gab ihm kühle Getränke, aber jener fühlte all das kaum noch. In seinen Adern ging der Kampf zu Ende.

Doktor Gravesgrave betrachtete ihn traurig. Eine kleine grünliche Fliege saß auf des Kranken brauner Brust. Nun flog sie fort und schwirrte um des Doktors Hand, um sich dort niederzulassen. Dem Doktor war sie widrig. Eine Fliege, die eben auf dem Körper eines Sterbenden gesessen, mochte er nicht dulden, und er verjagte sie. – Aber wie er das tat, da zuckte plötzlich ein Gedanke durch seinen Kopf: Wenn nun diese Stechfliege, die ihren kleinen Rüssel hineinsenkt in das Blut der Menschen, von einem Kranken zu einem Gesunden fliegt, erst dort sticht, das kranke Blut einsaugt und dann ihren Rüssel wieder in das Blut des Gesunden senkt? Konnte sie nicht 258 auf diese Weise die winzigen Lebewesen, die gefährlichen Räuber, in die Adern der Gesunden hineintragen?

Der Doktor sprang plötzlich wie ein Besessener im Zimmer herum, er jagte hinter der grünen Stechfliege her, und endlich fing er sie. Dann stürzte er in sein Studierzimmer, zerlegte mit feinen Zänglein, winzigen Nadeln und Messerchen den Rüssel und den Körper der Fliege und brachte alle Teile nacheinander unter sein Mikroskop. Da sah er denn hinein in die ungeheuer vergrößerte Stachelröhre, die unter dem Glase wie ein Rohr aus einem Pumpwerk aussah, besetzt mit Tausenden von spitzen Härchen. Er sah, wie in diesem Stachel der Fliege winzige Spuren von dem Blut des Kranken hingen, mit zertrümmerten roten Blutkörperchen und mit vielen jener winzigen Wesen, jener Räuber der Adern. Er sah, daß sie noch immer lebten, und hätte jene kleine grüne Stechfliege ihren Stachel in seine Hand gesenkt, dann hätte auch ihn die Krankheit befallen, dann wären jene winzigen Räuber, die die Fliege aus dem Blut des Kranken mit sich geführt, in seine Adern eingedrungen, hätten sich millionenfach vermehrt, hätten ihn in wenigen Tagen getötet. Die grüne Fliege war der Verbündete jener unsichtbaren Heerscharen der Seuche und wenn man sich vor dem Stich der Fliege schützte, so blieb man gesund.

Das war die große Entdeckung des Doktors Gravesgrave. Er reiste, so schnell es ging, nach der Hauptstadt des Landes, erzählte den Fürsten und Herren, den Männern, die das Land regierten, alles, was er wußte von den Räubern im Blut und von der grünen Fliege, und zeigte ihnen durch sein Vergrößerungsglas, was er selbst gesehen. Und in alle Welt drang der Ruhm des gelehrten Doktors, der endlich ein Mittel gefunden hatte, die indische Seuche zu verjagen, Millionen Menschen vom Tode zu retten. Und nun begann ein furchtbarer Kampf gegen die grüne Fliege. Sie wurde verfolgt mit Feuer und Gift, ihre Brutstätten in den sumpfigen Niederungen der Flüsse, wo sie im hohen Schilf lebte, wurden abgemäht und ausgeräuchert, vom kleinsten Hindububen bis zum ältesten indischen Weisen jagte alles auf die grüne Fliege, und wenn wirklich noch jemand wo erkrankte, so brachte man ihn in einen Raum mit Fenstern, die durch dichte Drahtnetze verschlossen waren, so daß keine Ameise, viel weniger eine Fliege hineingelangen konnte. Da starb die Krankheit langsam aus, der besiegte Würgengel zog sich grollend zurück in die Einöden der Sümpfe. wo 259 allein noch an wenigen Stellen die grüne Fliege hauste und selten ein armer Fischer seinem Geschäft nachging.

Doktor Gravesgrave aber wurde fürstlich belohnt. Die Kaiserin von Indien ernannte ihn zu ihrem Oberhofarzt und ließ ihm ein Mikroskop bauen, noch größer und wertvoller als sein eigenes, und die Großen des Landes kamen mit kostbaren Geschenken, reich besetzt mit Edelsteinen.

Das war eine glückliche Zeit für den braven Doktor, aber auf gute Tage folgen schlimme, und sie treffen oft schuldlos den Guten wie den Bösen. Der Doktor zog sich nun in die große indische Stadt Bangalore zurück. Da mietete er draußen vor den Toren, inmitten eines großen Gartens, ein kleines Landhaus, und hier, wo es so friedlich war, so seltsame Bäume grünten, so farbenprächtige Blumen blühten, so fremdartige Vögel pfiffen, rächte sich der unerbittliche Tod, dem er so viele Opfer abgejagt, an dem gelehrten Doktor Gravesgrave.

Und das ging so zu! Ihr wißt, daß der allgewaltige Tod zuweilen der Kleinarbeit müde wird und durch Krieg, durch Erdbeben und verheerende Seuchen in kurzer Zeit so viele Menschen fortrafft wie sonst in Jahren. Eine solche Krankheit ist die Cholera, die in früheren Zeiten ganze Länder verödet hat, vor allem aber das ferne Indien seit Jahrtausenden plagt. Tausend und aber tausend Millionen winziger Lebewesen, die Bazillen, dringen in den Körper ein, und sie bringen die Cholera, vernichten das Leben.

›Ich werde ein Mittel finden‹, sagte Doktor Gravesgrave, ›ein Mittel, das die gewaltigen Heere der kleinen Räuber im Körper zerstreut und tötet. Hier will ich unablässig sitzen und arbeiten, bis ich es gefunden habe, denn ich bin der Doktor Gravesgrave, der gegen den Tod kämpft.‹

Da reiste er an einen fernen Ort, wo ein paar Menschen an der furchtbaren Krankheit daniederlagen. Weit draußen, hinter hohen Zäunen, in niedere Häuser eingepfercht, fern von allen Menschen gehalten, damit sie nicht alle anderen mit in den Tod jagten, fand er sie. Er hatte zwei solche Flaschen mitgebracht wie die, welche hier in meinem Schrank steht, und in ihnen eine Flüssigkeit, in der die winzigen Teufelchen weiterzuleben vermochten. Mit größter Vorsicht brachte er auf der Spitze einer Nadel eine kleine Menge hinein in die Flaschen, mit größter Vorsicht verschloß er sie und brachte sie 260 wohlverwahrt in eisernen Kästen, die er nie aus seinen Händen ließ, nach Bangalore in seine stille Studierstube. Mit rasender Schnelligkeit vermehrten sich die gefährlichen Teufel von Bazillen in den Flaschen. Aus Hunderttausenden wurden Millionen, Milliarden, tausendmal tausend Milliarden, und wenn er nur eine Nadelspitze von der Flüssigkeit unter sein wundervolles Vergrößerungsglas brachte, so sah er sie als winzige Pünktchen, wie ein Komma geformt, in unzähliger Menge darin herumwimmeln.

Da versuchte er denn alle möglichen Mittel, die man den Menschen als Medizin eingeben konnte, versuchte, ob die argen Feinde starben, wenn er einen Tropfen davon hineinwarf in das Gewimmel. Ganz vorsichtig mußte er das alles machen, denn wehe, wenn er auch nur die Nadel, mit der er aus seinen Flaschen ein winziges Tröpfchen der Todesflüssigkeit herausnahm, unachtsam fortgeworfen. Ein Mensch konnte sie ergreifen, die winzigen Kobolde hafteten an seinen Händen, kamen in seinen Mund, vermehrten sich rasend schnell in seinem Körper, er mußte sterben und steckte alle um sich her an, und immer weiter und weiter zog dann der Schwarze Tod. Stets waren die Flaschen, in denen der Tod millionenfach hockte, in den eisernen Kästen verborgen, und die Schlüssel trug Doktor Gravesgrave um den Hals.

Der Doktor hatte einen eingeborenen Diener, der hieß Shingar. Er war lang und mager, die Backenknochen standen weit hervor in dem dürren Gesicht. Dunkle Augen glühten darin, und ein eisgrauer kurzer Kinnbart stand mit stachlichten Haaren weit vor. Er trug einen Turban auf dem Kopfe, und eine braune Kutte schlotterte um seine dürren Glieder. Ein wilder Haß glühte in dem Inder gegen die Fremden, die aus dem fernen Europa hierhergekommen waren, das Land seiner Väter zu beherrschen, jene Fremden, die an einen anderen Gott glaubten und den Inder verachteten. Ja, er haßte sie und gehörte einem über das ganze Land verbreiteten Geheimbunde an, der einstens aufzustehen hoffte, die Fremden zu verjagen.

Da er nun schon ein alter Mann und gezwungen war, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, so blieb ihm nichts anderes übrig, als dem fremden Herrn, der so seltsame Arbeiten machte mit geheimnisvollen Instrumenten und Gläsern, zu dienen. Dieser Herr war gut, und man konnte mit ihm leben, aber dennoch mußten sie eines Tages fort, die fremden Eindringlinge, die das heilige Land der Väter beherrschten. 261

›Shingar‹, hatte eines Tages der Fremde gesagt, ›rühre nie diese Flaschen an, und sollte ich einmal plötzlich sterben, so nimm die eisernen Kästen, grabe ein tiefes Loch in die Erde und verscharre sie, daß kein Mensch sie findet. Der Tod sitzt in diesen Flaschen. Ein paar Tropfen davon in das Trinkwasser, und viele Menschen können sterben.‹

Shingar hatte es schweigend gehört. Leise nur nickte er mit dem Kopfe, aber ein dämonischer Gedanke zog durch sein haßerfülltes Herz. Wenn man mit diesem rätselhaften Tod in der Flasche doch all die Fremden vernichten könnte, die Fremden dieser Stadt und die des Landes!

Hätte Doktor Gravesgrave geahnt, welche Gedanken der Inder in seinem Hirn bewegte, er hätte ein großes Unheil verhüten können!

Eines Tages aber kam das Unglück über Bangalore. Der europäische Stadtteil hatte sich immer weiter ausgedehnt, und man baute eine neue Straße. Da stand ein alter indischer Tempel im Wege, und da er schon ein halber Trümmerhaufen war und nur wenig besucht wurde, so zerstörte man ihn ganz, um Platz zu schaffen. Die Inder aber waren voll Zorn über die Tat und glaubten, die Fremden wollten ihnen damit ihre Mißachtung beweisen, ihre heiligen Stätten hohnvoll vom Boden tilgen, ihre Religion schmähen. Aufs neue flammte ihr Haß auf, der Wunsch, die Eindringlinge zu züchtigen, zu verjagen, ein Blutbad unter ihnen anzurichten wie damals, als vor Jahrzehnten Nena Sahibs und Tantia Topis Scharen die verhaßten Engländer niedergemetzelt.

Da schien dem fanatischen Shingar die Zeit gekommen, die Europäer in Bangalore zu vernichten. Sein Haß war stärker als alle Überlegung, und als auch der Zufall noch zu Hilfe kam und den gelehrten Doktor, seinen Herrn, zu einer kleinen Reise nötigte, da stand sein Entschluß fest.

Am späten Abend, als alles ringsum still und einsam war und nur aus der Fremdenstadt leise von einem Fest Musik herübertönte, erbrach er die Tür zum Studierzimmer des Doktors, erbrach er den Schrank, der die eisernen Kästen mit den Flaschen, die immer warm stehen mußten, enthielt. Lange arbeitete er an den Schlössern, doch widerstanden sie all seinen Bemühungen. Endlich meißelte er die ganze Rückwand des einen Kastens ab, und nun hatte er die gefährliche Flasche, die Flasche des Todes, in der Hand. 262

Da stand er, von einer Kerze nur matt beleuchtet, schwarz fiel sein riesiger Schatten auf Wand und Decke. Sein braunes Gesicht verzog sich zu einem wilden und teuflischen Grinsen, das Weiße in seinen Augen flimmerte wie Perlmutter, sein eisengrauer Bart sträubte sich am dürren, spitzen Kinn weit vor, triumphierend schwenkte er in der knochigen Hand die bauchige Kolbenflasche mit dem langen Hals, den ein großer Wattepfropfen verschloß und auf dem das Totenkopfsiegel zur größten Vorsicht mahnte.

Seltsame indische Sprüche murmelte er vor sich hin, und dann flüsterte er: ›Wenige Tropfen in das Trinkwasser, und viele Menschen können sterben, sagte der gelehrte Mann, der mit den Flaschen so ängstlich ist wie die Mutter mit dem Kind im Schlangenbusch. O weißer Mann, du selbst gabst uns das Mittel, euch alle zu vernichten. Nicht Pulver haben wir, Flinten und Kanonen wie ihr. Ihr fühlt euch sicher im Schutz der Feuerrohre, dies aber ist eine Waffe, die schnell und lautlos eine ganze Stadt vernichtet!‹

Er verbarg die Flasche des Todes sorgfältig unter der braunen Kutte, verließ rasch das Haus und verschwand im Walde. Langsam stieg der Weg an, und nach einer halben Stunde hatte er den kleinen Hügel hinter der Stadt erreicht, wo sich die Wasserleitung befand, die die Häuser der Europäer versorgte. Das große Bassin lag in einer niederen Halle aus Mauerwerk. Leise schlich Shingar herzu. Es war dunkel ringsum, nur das Blattwerk der Bäume hob sich vom gestirnten Himmel ab. Schwach hörte man das Wasser in dem großen Rohr rauschen, das zur Stadt niederführte. Nur wenig Licht war in der Halle. Durch das niedere Fenster sah man den Wärter in einer Ecke sitzen. Er rauchte seine Pfeife und las in den letzten Zeitungen, die die Post aus dem fernen England herübergebracht in das indische Wunderland. Neben ihm hingen an einem Brett große eiserne Schlüssel und Hebel zum Öffnen des Wasserbassins, zum Abdrehen der Leitung.

Shingar kauerte sich nieder und wartete, überlegte, wie er unbemerkt an das Wasserbassin gelangen könne. Die Nacht war schwül und drückend. Es war heiß in der niederen Halle, und die Luft war dumpf. Schon war es spät. Da sah Shingar, wie dem Wärter der Kopf tiefer sank, wie die Zeitung seinen Händen entglitt. Ein Lächeln ging über das Gesicht des Inders. Alles ging ihm gut an diesem Tage. Er wartete noch ein Weilchen, dann eilte er auf leisen Sohlen zu der Tür. Aber sie 263 war von innen verschlossen. So mußte er den Weg durch das Fenster nehmen. Das war gefährlich, denn es konnte Geräusch machen, aber es mußte geschehen. Sein oberer Flügel war ein wenig geöffnet, um frische Luft hereinzulassen; da hindurch mußte der Weg gehen. Der Inder zog seine Sandalen aus. Jede Bewegung überlegend, langsam, ganz langsam erkletterte er den Sims, das Auge fest auf den Schlummernden gerichtet, jeden Moment bereit, wieder herabzuspringen, wenn der erwachte. Aber die schwüle Luft, die späte Stunde hielt den Wärter weiter in traumlosem Schlaf.

Die dürre Gestalt des Inders zwängte sich durch das schmale Fenster. Zentimeter um Zentimeter drückte er es vorsichtig weiter auf, immer spähend, ob sein leises Knarren den Schläfer störte. Er trug das gefährliche indische Messer bei sich, es wäre ihm ein leichtes gewesen, den Mann stumm zu machen, aber vielleicht hätte man die Tat zu früh entdeckt, Verdacht geschöpft, das Wasserwerk abgestellt.

Endlich stand er mit beiden Beinen auf dem inneren Fensterbrett. Nun glitt er geräuschlos nieder, trat auf leisen Sohlen an den Tisch, löschte die Lampe. Er tastete sich an das Wasserbassin, steckte die Flasche des Todes tief hinein, schlug vorsichtig mit dem Griff seines langen Messers dagegen. Nur ein leises Klingen hörte man unter Wasser, dann fielen die Scherben lautlos nieder zum Boden des Kessels.

Ein wildes Triumphieren ging über die eingefallenen Wangen des Fanatikers. Er lauschte einen Augenblick, dann glitt er wie eine Katze zum Fenster zurück, schwang sich lautlos empor und stand nach wenigen Minuten wieder draußen im Freien. Durch den dichten Busch eilte er heimwärts. Nicht eine Spur von seinem Tun war zurückgeblieben, nichts konnte den Wärter warnen. 264

Wenige Tage nach dem nächtlichen Rachewerk Shingars brach in dem Europäerviertel von Bangalore eine Krankheit aus. Nur wenige wurden zunächst befallen, aber ihre Zahl wuchs von Tag zu Tag, aus Hunderten wurden Tausende. Voll Grauen erkannten die Ärzte, daß es die Cholera sei. Niemand wußte, woher sie kam und weshalb sie gerade in dem reinlichen Europäerviertel ausbrach, nur mitten im Lande, in dieser einen Stadt hauste, statt, wie früher, die schmutzigen, engen, ungesunden Stätten der Hindus zu befallen. Ganze Familien starben aus, ganze Häuser, ganze Straßenzüge. Der Tod raste mit mähender Sense durch die Europäerstadt. Der Vater verließ die Seinen, der Bruder den Bruder, alles floh, was noch fliehen konnte, aber der Tod eilte ihnen nach, erschlug sie auf der Flucht. Niemand konnte helfen, niemand wußte Rat. Ein böses Ahnen zog durch das Herz der wenigen Ärzte, die noch am Leben waren. Sollte die schreckliche Seuche aus dem Hause des Doktor Gravesgrave kommen? Er war verschwunden, verreist, sagte man. Sie eilten hinaus zu seinem Hause. Es war verschlossen. Man erbrach es. Im Vorflur lag zusammengekrümmt mit schrecklich verzerrtem Gesicht der Leichnam seines Dieners Shingar. Ihn hatte als einen der ersten der Tod aus der Flasche erreicht, er hatte ihn mit eigenen Händen nach Hause gebracht. An seinen Fingern hafteten genug der tödlichen Keime, zwei Tage nach seiner Tat schon verendete er hilflos in dem einsamen Hause. Zur selben Stunde auch erlag der Mann im Wasserwerk dem Feinde, der von hier aus seinen Weg nahm in die unglückliche Stadt.

Aber seine Tat zog immer weitere Kreise, wie der Raubvogel, der in den Höhen sein Reich umzirkelt. Der Sensenmann machte nicht halt im Viertel der Fremden, er sprang hinüber in die dicht gedrängten Vorstädte der Eingeborenen, raste durch ihre engen Gassen, machte sie zu stillen, ausgestorbenen Stätten. Der Schrecken lief mit Sturmeseile durch das Land, ergriff Nachbarstädte, wanderte mit den Kleidern der Entflohenen von Ort zu Ort, saß verborgen in den Frachten der Güter, die mit Bahn und Wagen von Bangalore zu anderen Handelsplätzen wanderten. Die Sense des Todes mähte und mähte.

Längst war Doktor Gravesgrave zurück. Die Stadt war wie ausgestorben. Er eilte in sein Haus, Schreckliches ahnte ihm. Er fand den toten Diener noch an der alten Stelle, Er fand in seinem Schrank den zertrümmerten Eisenkasten. Die eine der Flaschen war fort. Er sah die 265 Werkzeuge Shingars umherliegen, er ahnte alles. Es war zu spät, er konnte nicht mehr helfen, niemand konnte es. Da packte er seine Sachen in eine große Kiste, auch den anderen Kasten mit der zweiten Flasche. Längst waren die Keime darin während seiner langen Abwesenheit abgestorben und unschädlich. Aber auch er sollte dem Ort des Schreckens nicht mehr entfliehen, dem sein Tun, das nur Gutes schaffen wollte, so schweres Unglück gebracht. Auch ihn ergriff die Krankheit, einsam starb er in dem totenstillen Hause, und er starb gern, denn es schien ihm eine Sühne für die grausige Tat, die doch nicht seine Schuld war. Der Tod aber stand triumphierend an seinem Sterbelager. Er hatte seinen Feind besiegt.

Langsam erlosch die furchtbare Seuche, die die winzigen Kobolde in der Flasche hervorgerufen. Der Tod lehnte die Sense in die Ecke und ruhte von seiner Arbeit. Langsam auch kam wieder Hoffnung und Freude über die Stadt. Die Entflohenen kehrten zurück, die Arbeit begann wieder, das Leben ging seinen alten Gang.

Ein Freund des Doktor Gravesgrave zog in das ausgestorbene Haus. Er fand die Kiste mit den prächtigen Vergrößerungsgläsern, mit gelehrten Büchern und einem Bericht über das Unglück von Bangalore. Er fand auch einen Brief an den Doktor Buhle, fern in Deutschland, und sandte Brief und Kiste her. So kam der alte Ulebuhle in den Besitz der Flasche des Todes und der genauen Nachrichten über das Unheil, das sie oder ihre Gefährtin angerichtet. Seht, da steht sie im Schrank, und man sieht es ihr nicht an, daß sie eine große Vergangenheit hat, gelehrte Sachen, ein großes Unglück und weite Reisen erlebte.«

Der Alte schwieg.

»Ulebuhle«, sagten die Kinder, »sitzt der Tod noch immer in der Flasche?«

»Nein, er ist längst gestorben, aber mit gefährlichen Dingen muß man auch dann noch vorsichtig umgehen, wenn sie schlummern. Auch dem toten Löwen nähern wir uns mit Scheu und Vorsicht, und wir sprechen leise am Orte, wo die Sense des Knochenmannes durch die Halme ging!« 266



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