Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Die Abenteuer des Balthasar Schaumlöffel

Ulebuhle«, riefen die Kinder, »nun mußt du einmal eine von deinen Reisegeschichten erzählen, die sind so schön gruselig. Wir glauben dir aber doch nicht alles, denn du hast selbst gesagt, daß die Leute, die aus den fernen Ländern und von allerlei Abenteuern erzählen, immer ein bißchen dazuflunkern. Aber Spaß macht es doch!«

Die alte Christine, die eben in Doktor Ulebuhles Studierzimmer eingetreten war, um die schnurrige altmodische Petroleumlampe auf den Tisch zu stellen und die Fenstervorhänge zuzuziehen, wackelte ganz entsetzt mit dem Kopf, so daß die Bänder ihrer Haube flatterten.

»Ei, ihr Racker«, fuhr sie auf die Buben und Mädel los, die auf der Ofenbank hockten wie eine Schar Spatzen auf dem Dachgesims, »was wagt ihr doch dem Doktor Ulebuhle ins Gesicht zu sagen! Und Ihr, Herr Doktor, Gott sei es geklagt, nehmt das so ruhig hin, als seied Ihr der größte Erzschelm und Lügenbold? Ist das eine Erziehung?«

Der Alte putzte mit dem mächtigen geblümten roten Taschentuch bedächtig seine riesige Hornbrille und schmunzelte:

»Alle Märchen- und Geschichtenerzähler vermengelieren die Wahrheit so'n bißchen, Christine, aber vieles in der Welt ist auch noch rätselhaft, und man weiß nicht, wo da Wahrheit aufhört und Flunkerei anfängt. – Von meinen eigenen Erlebnissen fällt mir im Augenblick gerade nichts Rechtes ein, Kinder, darum will ich euch etwas erzählen, das mir einer meiner früheren Reisegefährten selbst erzählt hat. Ob es alles in der Wahrheit so zugegangen ist, kann ich nicht wissen, aber etwas wird schon daran sein.

Ich hatte einen Jugendfreund, der hieß Balthasar Schaumlöffel. Seht, nun lacht ihr, denn das ist ein putziger Name. Dieses seines Namens wegen ist er zeit seines Lebens in den wildesten Urwäldern der Welt umhergestiefelt. Er ärgerte sich darüber, daß immer so ein komisches Zucken in das Gesicht der Leute trat, wenn er seinen Namen nannte. Er war schon immer voll Abenteuerlust und ein tapferer Kerl und wollte gern Offizier auf einem Kriegsschiff werden. 165 Aber der Kapitän sagte, als er seinen Namen genannt, wenn man Leutnant zur See werden wolle, könne man nicht Schaumlöffel heißen, und wenn man das Pech habe, doch so zu heißen, könne man nur Koch oder Barbier werden. Schließlich lernte der gute Balthasar eine hübsche junge Dame kennen, mit großen Mandelaugen, und wollte sie zu seiner Frau machen. Als er aber seinen Namen nannte, kullerte sich die Gute vor Lachen, und aus ihren Mandelaugen fielen beträchtliche Tränen nieder. Darauf sagte sie mit hochrotem Gesicht, das Spitzentuch vor den Mund haltend, daß sie unter keinen Umständen eine Frau Schaumlöffel werden wolle und lieber den Baron von Itzenblitz zu ehelichen gedächte.

Das gab dem guten Balthasar den Rest. Er zog sich wütend seine längsten Stiefel an, schmierte sie mit Tran und ging in die weite Welt hinaus, dahin, wo es gar keine Mandelaugen mit kullernden Lachtränen mehr gab und der Pfeffer in solchen Mengen wächst, daß man aus dem Niesen gar nicht mehr herauskommt. – Ich selbst bin mit dem vortrefflichen Balthasar vor vielen Jahrzehnten monatelang durch 166 die brasilianischen Pampas geritten, und hier hat er mir eines Nachts am Lagerfeuer, als wir vor Stechfliegen und anderen infamigten Biestern kein Auge zutun konnten, diese vertrackte Geschichte, eines seiner vielen sonderbaren Erlebnisse, erzählt. Nachdem er lange schweigend ins Feuer gestarrt, begann er also:

›Ich sage Euch, Ulebuhle, man kann so alt werden wie ein Kakadu – und ich habe auf den Molukken einen gesehen, den die Eingeborenen für heilig hielten und der bereits über zweihundert Jahre von einem Häuptling auf den anderen vererbt wurde – ja, man kann so alt werden wie ein Kakadu, die Welt von vorn nach hinten, von hinten nach vorn bereisen, man lernt immer und immer wieder etwas Neues und Wunderbares auf dieser alten Erde kennen.

Was wissen wir denn überhaupt groß von unserm Erdball, von all seinen Sonderbarkeiten? Freilich, im alten Europa, wo sich die Leute schon verwundern, wenn einer zufällig Schaumlöffel heißt, da ist alles bis auf den letzten Quadratmeter bekannt und erforscht, und die Leute treten sich gegenseitig fast auf die Hacken, aber in fernen Ländern, da gibt es weite Gebiete, die nur sehr selten und auf mühsam im Urwald gebahnten Wegen einmal ein Mensch betritt, und es gibt weite, weite Gebiete, wo überhaupt noch keiner gewesen ist. Die Landkartenmacher tun sich's leicht! Sie malen da im Atlas oder auf den Globus einen punktierten Kreis oder ein Viereck und setzen ein Fragezeichen hinein, was soviel heißen will wie: Hier ist die Welt mit Brettern vernagelt, es ist noch keiner drin gewesen, und wir wissen nicht, was da zu finden ist. – Ungeheure versumpfte, undurchdringliche Wälder mit einer wahren Höllen- und Moderluft, mit einem schauerlichen Schlangen- und Ameisengezücht versperren meist solche Gegenden, die so groß sind, daß man das ganze liebe deutsche Vaterland bequem hineinschieben könnte. Und in solchen Gegenden, mein lieber Ulebuhle, gibt es Dinge, die der Welt vollkommen unbekannt sind, die sie nicht für möglich hält und an die sie nicht glaubt. Ich wette mit dir um hundert Buddeln Jamaika-Rum, daß auch du die Geschichte, die ich dir nun erzählen werde, für eine niederträchtige Lüge oder für einen Fiebertraum deines Freundes Balthasar Schaumlöffel halten wirst, aber ich will doch gleich neunzig Klafter tief in den Erdboden hineingeschmettert werden, wenn ich auch nur kleinsten Flinkerflunker hinzudichte. 167

Ein solches Gebiet, wie ich es dir eben schilderte, schob sich mir einmal in den Weg, als ich am Nordrande des Kongostaates, im innersten Afrika, vom Ufer des Ubangi, bei der großen Niederlassung Jakoma, nach Norden zog ins Land der Njam-Njam, von denen es hieß, daß sie gelegentlich auch einen ausgewachsenen Menschen auf ihre Speisekarte setzten.

Wir waren sechs wohlbewaffnete und mit der Wildnis in mancherlei Weltteilen gut vertraute weiße Männer, samt und sonders in der Jagd auf Großwild wohl erfahren, und zwanzig Schwarze begleiteten uns. Unendliche Wälder, vielfach in sumpfigen Untergründen völlig unzugänglich, lagen in der heißen Fieberluft, und selten verging ein Tag, an dem nicht Gewitter von unbeschreiblicher Heftigkeit in wahren Feuerbächen niederschmetterten, was nicht fest im Boden verwurzelt war. Kurz, eine wirkliche und wahrhaftige Hölle, in die auch selten genug ein Mensch eindrang.

Dennoch mußten wir es wagen! Wir waren hinter Elefanten her, deren Stoßzähne das schöne und begehrte Elfenbein liefern, waren 'Elfenbeinjäger', wie man sagte, und damals zahlte man in Europa gegen tausend Mark für einen guten Zahn, auch noch mehr! 168

Heute ist der Elefant in diesen Gegenden fast ausgerottet, aber damals lebten am Rande der weiten Wälder noch große Herden, die oftmals weit wanderten. Die schwarzen Männer kannten ihre Pfade da und dort recht gut, und wir waren eben, von ihnen geführt, auf den Spuren einer großen Herde, die mit einem Schlage unsere Anstrengungen lohnend machen mußte, wenn wir sie einkreisen konnten. Sie entfernte sich nordwärts von uns, wie die Späher erkundet, und wir mußten ihr folgen, so wenig wegsam das Gelände war, durch das wir uns mit Axt und Buschmesser da und dort erst einen Pfad schlugen.

Die Schwarzen, die wir bei uns hatten, gehörten einem der Zwergstämme an, die in dieser Gegend öfter angetroffen werden. Die kleinen, dürren Kerle sahen wenig vertrauenerweckend aus. Sie hatten einen tückischen Blick, wie uns scheinen wollte, aber ohne sie hätten wir unmöglich diese Wildnis betreten können. Übrigens hatten wir uns gegen einen ja immer möglichen Verrat, gegen einen besonders zur Nachtzeit zu fürchtenden hinterlistigen Überfall unserer schwarzen Zwerge dadurch gesichert, daß wir den Lohn, den sie bekommen sollten (schöne bunte Decken, Werkzeuge, Waffen, Schmuck und dergleichen), bei dem Militärposten in Jakoma hinterlegten. Das alles bekamen sie also erst, wenn sie uns glücklich wieder nach dort zurückgebracht hatten, und so war es in ihrem eigenen Interesse, daß sie für unsere Sicherheit sorgten und von ihren vergifteten Pfeilen keinen Gebrauch machten.

Mühsam setzten wir unseren Weg nahe dem Ufer eines kleinen Flüßchens fort, bis schließlich die Baum-, Gestrüpp- und Dornenwildnis jedes Weiterkommen zur absoluten Unmöglichkeit machte. Hier hatte auch die Elefantenherde den Wasserlauf verlassen und war nach Westen abgebogen. Wir wären trotz der Beschwerlichkeit des Marsches gern in der Nähe des Wassers geblieben, aber unsere Führer belehrten uns darüber, daß es unmöglich sei. Sie fuchtelten in der Luft herum und redeten in einem schrecklichen Kauderwelsch auf uns ein. Ich hörte nur immer so etwas wie: 'Sama bani, wumba dango wumba! Ai ai, wumba!' oder so ähnlich und wurde nicht klug aus den schwarzen Teufeln, die die Augen wild aufrissen und mit schreckhaften Gebärden auf den undurchdringlichen Urwald vor uns wiesen, in dem sich das Flüßchen, das immer schmaler geworden war, verlor.

Wir hockten auf dem Boden und die Wilden um uns herum. Lange 169 versuchte unser Führer, Mister Robertson, ein riesiger amerikanischer Büffeljäger, ein Bursche, der sechs Fuß hoch war und eine mächtige Adlernase hatte, herauszubekommen, was die Kerle meinten, denn ein wenig verstand er von ihrer Sprache. Endlich wurde es leidlich klar. Vor uns war ein undurchdringliches Gebiet, das selbst die Elefanten nicht durchqueren konnten, die Herde war nach westwärts abgebogen, und nach dahin müßten wir folgen. Aber was dann kam, war sonderbar!

Die Schwarzen bedeuteten uns, daß dort, in der undurchdringlichen Wildnis, ungeheure Tiere hausten, hoch wie Bäume, viel riesiger als Elefanten, und aus einer kleinen Zeichnung auf Baumrinde, die der älteste der Kerle machte, schien hervorzugehen, daß es so etwas wie Krokodil-Ungeheuer waren, die aufrecht gehen konnten. Wir schüttelten die Köpfe, das klang uns ganz chinesisch, aber gut, wir bogen nach Westen ab. Aber wir waren noch keine zwei Stunden marschiert, da ging mit einer dem Europäer unverständlichen Plötzlichkeit eines der hier so mörderischen Tropengewitter nieder. In wenigen Minuten wurde der Tag zur Nacht, und Schlag auf Schlag und Knall auf Knall schossen Feuergarben vom 170 Himmel, die ein Sintflutregen ersäufen zu wollen schien, der uns im Augenblick bis auf die Haut durchnäßte.

Wir befanden uns, wie ich schon sagte, in einem etwas hügeligen Gelände; es waren die letzten kümmerlichen Reste eines niederen, vom Zahn der Zeit zernagten Sandsteingebirges, und da und dort hatte das Wasser kleine Höhlen in den Fels gegraben. Auf solche Löcher stürzten wir uns, um einigermaßen vor dem Unwetter Schutz zu suchen. Und da, mein alter Ulebuhle, passierte mir das Unglück, dem ich das ganze weitere Erlebnis verdanke.

Von Blitzen geblendet, vom Sturmregen, der mir ganze Pferdeeimer voll Wasser ins Gesicht schlug, fast der Sehkraft beraubt, tat ich einen schweren Sturz, der mir die Besinnung nahm.

Als ich wieder erwachte, war es schon spät am Abend. Neben mir hockte einer der schwarzen Kerle, der älteste von ihnen, dessen Haar schon weiß gesprenkelt war und der nur noch wenige Hauer in seiner für einen Zwerg erstaunlich großen Speiseanstalt beherbergte. Er war von entsetzlicher Magerkeit und von abschreckender Häßlichkeit, die besonders groß wurde, wenn er sein liebenswürdiges Lächeln aufsteckte, wie eben jetzt, da er mich erwachen sah.

Mein Kopf schmerzte noch immer, und in der Gedankenkammer war ein zorniges Gebrumm. Das verwundete Knie brannte, als wäre Pfeffer in der Wunde, aber ich muß es zur Ehre des schwarzen Mannes sagen, daß er sich mit Wasser und Heilkräutern alle Mühe gab, mir auf die Beine zu helfen.

Wieder begann zwischen uns beiden eine mühsame Unterhaltung, die vor allem in von uns selbst erfundener Zeichensprache vor sich ging. Ich mußte doch wissen, wie es stand und wie es werden sollte. Mahumba – so hieß der Alte, wie er mir klarmachte, indem er sich, die Augen weit aufreißend, immer wieder auf den Bauch tippte, den er sicher für den wichtigsten Teil seiner Persönlichkeit hielt –, Mahumba klärte mich darüber auf, daß meine Kameraden weitergezogen wären, da mein verletztes Knie mich sicher auf einige Zeit bewegungsunfähig machen mußte. Sie glaubten, nach etwa acht Sonnenaufgängen wieder hier einzutreffen, um mich abzuholen. Mahumba, der ein wenig in der Heilkunst bewandert war, sollte mich pflegen und mir Gesellschaft leisten. Lebensmittel, etwas Wasser, meine Flinte, Decken usw. waren in der kleinen Höhle aufgestapelt. – 171

Nun kamen ein paar höchst langweilige Tage, mein alter Ulebuhle. Sie wurden nur unterbrochen durch einen ständigen Kampf mit den in Massen umherwimmelnden riesigen Ameisen, die in die Höhle einzudringen suchten. Auch Schlangen fanden sich dann und wann ein, aber sonst war die Gegend merkwürdig arm an Tieren. Mahumba vertrieb sich die Zeit damit, einen Wanderstab mit ganz netten Schnitzereien zu versehen, und eines Tages, als er sich nicht mehr schön genug vorkam, rasierte er sich mit seinem frisch geschärften Messer den Schädel. Nur drei dicke Streifen seines grauweißen Wollhaares ließ er stehen, sie wirkten wie drei Reihen Chausseebäume, die über eine kugelige Bergkuppe hinweglaufen, und der gute Mahumba sah aus wie ein feingemachter Bodendieb. Ich lachte, daß mir die Tränen herunterkullerten, aber mein schwarzer Begleiter hielt es für anerkennende Bewunderung und kreischte vergnügt wie ein Papagei sein 'Ai ai!'.

Langsam wurde es wieder besser mit mir, ich trieb mich mit Mahumba ein wenig umher, und das wurde uns zum Verhängnis, denn als wir auf der Suche nach etwas Eßbarem eines Tages erst nach Stunden zu unserm Lager zurückkehrten, machten wir die Entdeckung, daß Wander-Ameisen alles aufgefressen hatten, was wir noch besaßen, selbst von einem Warzenschwein, das ich am Abend vorher erlegt hatte, war nur noch das blanke Gerippe vorhanden. Die schrecklichen Insekten, die in ungeheuren Heeren anrücken, hatten sogar den ledernen Proviantsack halb verspeist!

Ich fluchte wie ein Seeräuber, und auch mein Schwarzer kreischte wie ein Papagei; wir mußten uns aufmachen, um etwas Neues für den Magen zu erwischen, wenn auch Mahumba einige Früchte herbeischaffte, die über den ersten Hunger forthalfen.

Während wir, immer wieder von den höllischen großen Ameisen geplagt, vor der Höhle saßen, hartschalige Strychnusäpfel kauend und die roten Früchte des Amomum vertilgend, reinigte ich sorgfältig meine Flinte, um mit der letzten Kugel einen möglichst sicheren Schuß zu haben. Ich bedeutete dem schwarzen Jakob, daß ich bei Einbruch der Dunkelheit am Waldrand etwas zu jagen gedächte. Er nickte zustimmend, denn auch er hatte wahrscheinlich Sehnsucht nach einem saftigen Braten, aber gleich fing er auch wieder an, die Augen ängstlich aufzureißen und warnend nach dem Walde zu deuten. 172

Ich verstand so viel, als daß ich nicht weiter in diese Wildnis eindringen sollte. Wieder schien es mir, als ob er mit seiner Zeichensprache und dem ewigen 'Dango wumba!' von einem riesigen Tier sprach, das in dieser geheimnisvollen Unzugänglichkeit des grünen Dunkels lebte. – Was mochte es nur für ein Tier sein? Ich beschloß, dem auf den Grund zu gehen. Auf der verhältnismäßig ebenen Felsenwand neben uns ritzte ich mit meinem Messer die Umrisse eines Löwen ein und deutete nach dem Walde. Mahumba verstand sehr wohl und schüttelte energisch mit dem Kopf. Der Alte griff zum Messer, kritzelte eine kleine Wand von Bäumen hin und ließ aus diesen Bäumen, über sie hinweg, den Kopf eines Wesens schauen, das offenbar nur eine Art Eidechse von unwahrscheinlicher Größe sein konnte. Nun wurde ich wieder irre in meinem Verstehen. Krokodile pflegen sich nicht auf ihre Schwanzspitze zu stellen und über Urwaldbäume hinwegzublicken. Tiere dieser Art hat es wohl vor Jahrmillionen, in der Jurazeit und Kreidezeit, gegeben, als noch kein Mensch auf Erden hauste. Schaurige Ungeheuer waren das! Manche waren dreißig Meter lang! Da gab es den Brontosaurus und den Stegosaurus, den Allosaurus und den Diplodokus; in den Meeren schwamm der schreckliche Ichthyosaurus; schwerfällig, mit seltsamen Fledermausflügeln, schwang sich der Ramphorhynchus, der Pterodaktylus, das Pteranodon von Fels zu Fels. Hat man nicht die Knochen, die Abdrücke all dieser seltsamen Wesen gefunden, die lebten, lange bevor Adam lebte?! Aber das war vor Millionen Jahren; längst, längst waren sie ausgestorben, die Saurier; was dachte ich lange über die Narrheiten dieses alten Wilden nach! Übrigens . . . so fiel mir ein, wäre es am besten, wenn er meinen Freunden, die nun schon auf dem Rückmarsch sein mußten, entgegenging, um sie hierherzuführen, zu unserm Lager. Ich machte dem kleinen Wollkopf das klar, und er schien sehr zufrieden damit, zu seinen Leuten zurückkommen; mit ein paar Vogeleiern und ein paar Früchten zog er mit lautem 'Ai! Ai!' davon.

Nun war ich allein, aber nun begann auch das Schicksal wie mit Keulen auf mich einzuschlagen! Das kam so: Vor allem, sagte ich mir, mußt du jetzt mal etwas Anständiges für die Tafel haben, mein lieber Schaumlöffel. So nahm ich mein Gewehr und ging gegen Abend von meiner Höhle hinüber zum Waldrand. Ich sah in der Ferne einige Antilopen hinwegspringen; es schien mir, als müßte da hinten 173 ein Wasser, eine Tränke sein, und so versuchte ich, quer durch den Wald dahin zu kommen. Weiß der Teufel, wie es kam, irgendwie verhaspelte ich mich, kam aus der Richtung in dem wilden Gewirr, verfing mich in Lianenschlingwerk, und zu meinem Pech zog nun noch eines der schnellen Unwetter herauf, mit Blitz, Donner, Finsternis, strömendem Regen. – Die Sonne verschwand, ich verlor jede Orientierung und bekam es nun doch mit der Angst. Erschöpft stand ich endlich im grünlichen Dunkel in einer Wasserlache still, alle meine Glieder schmerzten, apathisch, mit dem Rücken gegen einen Stamm gelehnt, saß ich wie ein Ochsenfrosch in der Schlammpfütze und überlegte mit dem letzten Quentchen Verstand, das mir geblieben, meine Lage.

Schaumlöffel, sagte ich zu mir, hier endet nun dein unstetes Leben, wie es dir deine alte Mutter oft prophezeit. Du hauchst deinen letzten Schnaufer im finstersten Winkel eines gottvergessenen afrikanischen Urwaldes aus, und kein Hahn macht deinetwegen ein einziges Kikeriki! Aus! Alle! Schluß! Zu Ende! Finish! würde Robertson sagen und sich eine neue Pfeife anbrennen.

Zu allem Unglück regnete es in Strömen. Ich verkroch mich, so gut es ging, unter den mächtigen gestürzten Stämmen und schlief 174 endlich vor Hunger und Erschöpfung ein. Es mußte lange nach Sonnenaufgang sein, als ich erwachte. Ich trank ein paar Schluck Wasser, aß von dem säuerlichen Waldamomum, denn andere eßbare Dinge konnte ich ringsum nicht entdecken, und suchte einen Entschluß zu fassen. Du mußt versuchen, den Waldrand wieder zu erreichen, sagte ich mir, denn es ist das einzige Mittel, um vielleicht doch noch auf deine Kameraden zu stoßen oder Pfade zu finden, die zu den Ansiedlungen im Süden zurückführen.

Aber ich hatte vollkommen die Orientierung in diesem vermaledeiten Irrgarten verloren. Ich wußte nur, daß ich nach Osten zu in den Wald gelaufen war und mich nach Westen wenden mußte, um ihn wieder zu verlassen, denn in jeder anderen Himmelsrichtung dehnte er sich, wie unsre Führer gesagt, viele Tagereisen weit. Leider war der Himmel bedeckt; man sah nur einen schwachen hellen Schimmer nach der einen Seite. Dort mußte also die Sonne stehen. Da es Morgen war, mußte dort Osten liegen. Ich mußte die entgegengesetzte Richtung einschlagen, um wieder an den Waldrand zu kommen, an den Rand jener niedrigen Hügelkette.

Ich sah an mir entlang und fand, daß ich einer Lumpenpuppe glich. Meine Flucht durch diese Wildnis hatte meine Kleider zerfetzt, und die verschiedenfarbigsten Flaggen flatterten vom Fahnenstock meines Leibes. So wand ich mich denn nach Westen zu durch die schauerliche halbdunkle Wildnis, in der ein drückendes Schweigen herrschte, denn auch nicht ein einziger Vogellaut war hier vernehmbar. Ich passierte stachlige Dickichte von Raphia, turnte über ganze Berge gestürzter weißstämmiger Baumwollbäume, die auf fünfzig Meter im Umkreis alles Stangenholz niedergeschlagen hatten, versank immer wieder im Moder, übersprang kleine Wasser, umging sumpfartige Gebiete, verfing mich in Lianendraperien, die von hoch oben niederhingen, und kam an wahren Wäldern riesiger Farnkräuter und Schachtelhalme vorbei, so groß, wie ich sie nie vorher in der Welt angetroffen. Vor Millionen Jahren, zur Steinkohlenzeit, bildeten diese Pflanzen, wie man weiß, wirklich die großen Wälder der Erde. Hier hatte man den Eindruck, als ob dieser grausige Urwald sie bis in unsere Zeit hinein aufbewahrt.

Mir wurde unheimlich in dieser geradezu beängstigenden Einsamkeit, in diesem Schweigen, das sich stärker auf die Nerven legte als der tosende Lärm einer Großstadt. 175

Auf einmal stand ich still. Ganz plötzlich war das Bewußtsein in mir erwacht, daß ich eine falsche Richtung eingeschlagen. Ich hätte eigentlich schon den Rand des Waldes erreicht haben müssen, und überdies schien es mir jetzt, als ob die Sonne gerade an der entgegengesetzten Himmelsstelle stände, als ich bisher vermutet, denn jetzt war es dort viel heller.

Da lief ein Schreck wie ein elektrischer Schlag durch meine Glieder, alter Ulebuhle! Ich war verirrt in der unendlichen Einsamkeit eines afrikanischen Urwaldes! Ich wurde vollkommen unsicher, nervös, der Hunger kam hinzu, die Angst, hier zu verenden. Ich konnte nicht mehr richtig denken, war ratlos. Die eine Stunde Weg in diesem Gewirr, in dem man Schritt um Schritt erkämpfen mußte, hatte mich völlig erschöpft. Mutlos ließ ich mich auf einem vermoderten Stamm nieder und spähte nach irgend etwas Eßbarem umher. – An einer lichteren Stelle glaubte ich Strychnus-Äpfel zu sehen. Ich probierte zunächst vorsichtig eine der Früchte und hatte auch den Eindruck, daß der Geschmack mir vertraut war. Da aß ich denn ohne Bedenken, um wenigstens das Rumoren des Magens zu beseitigen. Dann raffte ich mich wieder mit letzter Energie auf, änderte, nochmals den Himmel genau musternd, die Richtung und arbeitete mich abermals durch diesen verfilzten Höllenwald.

Nach einer Viertelstunde hatte ich plötzlich das Gefühl, als ob ich nicht kletterte und kröche, rutschte und lief, sondern als ob ich leicht durch die Luft schwebe. Um mich herum war, wenn ich meinen Augen trauen durfte, ein gelber Nebel. Von mir selbst fühlte ich eigentlich gar nichts mehr, nur meinen Magen. Er schien allein hier durch den Wald oder vielmehr durch den gelben Nebel zu schweben, und in ihm brannte es, als hätte ich ein Quart vom schärfsten Whisky hinter die Weste gegossen. Dann hörte ich jemand laut die lustigsten Lieder singen und erkannte ganz verschwommen, daß ich selber dieser Jemand sei. Feurige Kreise tanzten vor meinen Augen, ich fiel und raffte mich wieder, ohne auch nur den geringsten Stoß oder Schmerz zu fühlen, auf, taumelte weiter, fiel wieder, sprang in wirbelnde Feuerkreise hinein, sang und weinte in einem. Der Schweiß rann in Strömen von meinem Körper, die Feuerkreise wurden immer wilder, der gelbe Nebel immer dichter, immer schneller mein sausender Flug durch ihn hindurch. Und dann überkam mich eine unbeschreibliche Angst. Ich 176 sah Hunderte von Schwarzen auf mich zustürzen, mit Keulen und Speeren, Wurfmessern und Äxten, Ich konnte ihnen nicht mehr entfliehen, denn vor mir stand ein undurchdringlicher Wald von riesigen Schachtelhalmen und Farrenbäumen. Dann kam ein schauerliches Kreischen. Die Wilden rasten, plötzlich kehrtmachend, wie wahnsinnig davon, in einer Minute waren sie im Dickicht verschwunden. Aber jetzt brachen im Walde vor mir die Bäume wie Zündhölzer. Ein wildes Krachen, Schnaufen und Schleifen. Ein ungeheurer Körper, wohl zwanzigmal mächtiger als ein Elefant, schob sich vorwärts. Ich sank erstarrt in die Knie. Mein Gott, gab es denn wirklich Derartiges auf der Welt! Leibhaftig stand eine der Riesen-Echsen der Juraperiode der Erde vor mir.

Wer kann sie sich heute noch lebend vorstellen, diese wandelnden Fleischberge von dreißig Meter Länge, die die Erde bevölkerten, Millionen Jahre, ehe der erste Mensch hier zur Sonne aufschaute! Im ersten Augenblick war es mir, als läge da die riesige graue Hülle eines Luftschiffes, zum Teil noch mit Gas gefüllt, zum Teil in sich zusammengesunken und leicht vom Winde hin und her geworfen. Aber dann sah ich, wie sich mir ein etwa fünf Meter langer Hals entgegenstreckte, der gleich einer ungeheuren Schlange hin und her wiegte. Ein kleiner Kopf nur saß auf diesem langen Halse; er streckte sich über die niederen Bäume vor mir hinweg. Das Tier saß aufrecht, sich auf die enormen Hinterbeine stützend, die gleich den grauen Säulen hundertjähriger Buchenstämme in den Boden wuchteten. Ein sieben Meter langer, dicker Schwanz, der einem Schiffsrumpf glich, gab dem enormen Körper nach rückwärts Halt und Anker. So saß das Untier, ähnlich einem Känguruh, aufrecht, und gleich diesem hatte es auch verhältnismäßig kurze Vorderbeine.

Jetzt öffnete es sein Maul. Es packte eine Anzahl grüner Zweige; ich erkannte, daß es ein Pflanzenfresser war, wie die meisten der Dinosaurier der Jurazeit, aber nichtsdestoweniger hätte es den stärksten Menschen mit diesen Reihen fabelhafter Zähne, von denen jeder einzelne gut ein Fuß lang war, zermalmen können. – Aber der fürchterliche Diplodokus, oder wie er nun sonst von den Gelehrten geheißen werden mochte und der eigentlich schon seit ein paar Millionen Jahren tot sein sollte, schien mich gar nicht zu bemerken. Plötzlich aber setzte er sich wieder in Bewegung. Er hob den Kopf und begann 177 auszuschreiten. Es war, als setzte sich eine moderne Schnellzugslokomotive in Bewegung: ein gewaltiges Stampfen und Fauchen, ein Brechen von Bäumen, ein Knacken von zersplitternden Stämmen, die unter der Wucht des schweren Körpers zerbrachen wie dürre Zweige unter dem Tritt des Försters. Schwerfällig schob sich das Ungeheuer auf mich zu. Der Boden wankte unter seinen Tritten, und ich floh bis hinter die nächsten mächtigen Stämme.

In meinem Kopfe wirbelte alles durcheinander, und noch immer webte der verdammte gelbe Nebel vor meinen Augen alles zusammen. Die Wilden haben doch recht gehabt, sagte ich mir, das Unerhörte und Unglaubliche, hier in diesem nie betretenen Urwalde, der seit den Tagen Adams und Evas unberührt geblieben ist, haben sich noch Reste längst ausgestorbener Tier- und Pflanzenfamilien erhalten. Was kein Gelehrter der Welt glauben würde, du, Balthasar Schaumlöffel, hast es mit deinen eigenen Augen gesehen! Aber wer wird es dir glauben, wenn es dir je gelingen sollte, was sehr, sehr unwahrscheinlich ist, zu zivilisierten Menschen zurückzukehren, zurück nach Deutschland, zu deinem alten Freunde, dem berühmten Professor Siebengescheit, den Gott mit Weisheit gesegnet hat wie den Pudelhund mit Flöhen! Niemand wird es dir glauben, und jeder wird sagen, dieser 178 Schaumlöffel lügt wie zehn Oberförster und Afrikareisende zusammengenommen!

Und dann geschah etwas Neues, Unerhörtes. Ich vernahm scharfes Kreischen, ein Grunzen und Fauchen; der wandelnde Fleischberg kam in schlingernde Bewegung, es sauste etwas über ihn in der Luft hinweg, und ein andres fürchterliches Scheusal grub Tatzen und Zähne in den schlingernden grauen Ballon. Der Angreifer war viel kleiner als der graue Riese, aber es war sicher ein Laelaps, einer der schrecklichsten Räuber vergangener Erdentage, sieben Meter lang, mit einer schauerlichem Maul voll spitzer Zähne, mit Tatzen, die wie die Zinken schwerer Heugabeln in den enormen Leib des Grauen schlugen.

Der warf sich empor, schleuderte den schweren Körper mit einem Krachen, das einen Schiffskessel plattgedrückt hätte, gegen einen riesigen Baumwollbaum, um den Laelaps abzuschütteln und zu erdrücken. Dieses Untier aber löste sich mit geschmeidiger Schnelligkeit und fuhr dem grauen Ballon in den wabernden Füllansatz, ich wollte sagen, in den Hals. Und nun begann ein grauenhaftes Ringen und Toben, ein Schnaufen und Kreischen, ein Stampfen und Schleudern. Fleischberge wälzten sich zwischen niederbrechenden starken Bäumen, Blut floß in Strömen, Tatzen fuhren wie Maschinenhebel stählern und schmetternd durch die Luft, Schwänze und Hälse knäulten sich ineinander wie die baumstarken Haltetrossen einer Hängebrücke.

Mit einem Male war es dem grauen Riesen gelungen, den Laelaps von sich zu schleudern. Wie von einer Belagerungswurfmaschine der alten Römer in die Luft geworfen, sauste der Räuber mit wirbelndem Schwanz auf meinen Standort zu.

Da stürzte ich mit wildem Kreischen weiter in die grüne Schrecknis hinein, lief, sprang, kletterte, stürzte, versank, schwang mich wieder aufwärts und taumelte fort, immer weiter in Feuerkreise und roten Nebel hinein. Ich hörte Wilde taktmäßig auf Büffelfellpauken schlagen und erkannte doch dunkel, daß es nur das Schlagen meines eigenen Herzens war. Dann wurde es ganz dunkel vor meinen Augen, und ich versank irgendwie und irgendwo, ohne noch etwas von mir selbst zu wissen. – – –

Was weiter geschah, mein lieber Ulebuhle, das weiß ich selber nicht. Ich weiß nicht, ob alles das, was mein Gehirn mir in späteren, ruhigen Tagen davon berichtet hat, mein wirkliches Erleben war, oder 179 ob es sich in wilden Fieberträumen abspielte. Mir ist, als hätte ich tagelang, halb wahnsinnig vor Hunger und Durst, in Sümpfen herumgelegen, als hätte ich mich gewehrt gegen Schlangen und Raubkatzen, als hätte die Sonne in dem stinkenden, jahrtausendealten Morast mir das Fell vom Leibe gesengt. Einmal – und das muß Wirklichkeit gewesen sein – taumelte ich an einem weißen Skelett vorbei, das halb im Schlamm versunken war und noch ein Sichelmesser, wie wurfbereit, in der Knochenhand hielt. Tausende von Ameisen überwimmelten es.

Als ich wieder zu mir selber kam, wirklich Herr meiner fünf Sinne geworden war, lag ich auf Decken in jener Höhle, die ich ein paar Tage mit dem schwarzen Mahumba bewohnt hatte. Aber nicht sein Kopf mit den drei Baumwoll-Chausseen beugte sich über mich, sondern Robertsons braunes Gesicht. Das erste, was ich denken konnte, war: Robertson hat eins gegen den Schnuffel bekommen, denn er trägt einen weißen Verband quer über seine Denkerstirn, über Riechhaken und Backe, und dieser Verband zeigt verdächtige rote Flecke.

Das erste Wort aber, das ich von Robertson hörte, war die Frage, ob ich noch irgendwo in aller drei Deibel Namen einen Fingerhut voll Rauchtabak aufgehoben hätte.

Später, als ich in der Lage war, klar und richtig zu erfassen, was man mir sagte, hat mir mein alter Jagdgefährte alles der Reihe nach auseinanderposamentiert. Ja, es war wirklich eine reiche Beute an Elfenbein gemacht worden, und wenn auch Robertson dabei eins gegen den Kopf bekommen hatte, daß man meinte, er müsse einen neuen aufgesetzt bekommen, im großen und ganzen war es gut gegangen. Als man auf dem Rückmarsch war, kam Mahumba, mein Abgesandter, und erstattete Bericht, aber als die Karawane endlich den alten Lagerplatz erreicht hatte, war von mir keine Spur mehr zu entdecken, alles Rufen, alles Schießen, Suchen half nichts, man mußte fast annehmen, ich wäre aus irgendeinem Grunde davongelaufen, wenn das auch seltsam schien.

'Zwei Tage lagerten wir bereits', so berichtete mir Robertson, 'da sahen wir gegen Abend ein Tier aus dem Dickicht des Waldes herauskriechen. Wir konnten wegen der Entfernung und des Schattens nicht ausmachen, was es für ein Wesen sei, aber wir griffen zu unseren Flinten, denn ein saftiger Braten war uns allen zu gönnen.

Da berührte einer der schwarzen Kerle meinen Arm und bedeutete 180 mir, daß es ein Mensch sei, der da kröche. Ich sagte eben zu Van der Meylen, daß mir augenblicklich ein Warzenschwein lieber wäre als der König aller Neger Afrikas, es sei denn, der Kerl brächte uns endlich wieder einmal ein paar Pfeifen Tabak, da bemerkte ich auch schon, daß die sonderbare Gestalt ein paar Fetzen europäischer Kleidung an sich trug. Sofort schoß uns allen der Gedanke durch den Kopf, daß es unser langer Schaumlöffel sein könne, und wir stürzten auf die Gestalt zu.

Die sah uns ankommen und raffte sich auf. Schaumlöffel, geliebter Balthasar, ich will dir nicht wehe tun, aber du sahst wie ein besserer Affe aus, der dem Zirkusdirektor ein paar Lumpen entwendet hat. Noch schlimmer war's! Du warst nur noch ein mit braunem Pergamentpapier überzogenes Skelett. Ein paar Fetzen Tuch flatterten um deine Segelstangen, ein fürchterlicher Urwald von Haaren fiel dir in die Stirn, umrahmte dein Gesicht, in dem ein Paar Augen brannten, daß einem angst werden konnte. Wir erkannten dich durchaus nicht sofort; erst an den Kleiderfetzen merkten wir's, daß dies einmal ein Schaumlöffel gewesen, über den eine hübsche Dame Kullertränen aus großen Mandelaugen vergossen. Hätte sie dich so gesehen, sie hätte wirklich geweint und wäre mit dir im Zweispänner-Auto sofort zum Standesamt gesaust. Du schwanktest, dich aufrichtend, wie ein Bär, der erst seit einer Woche Tanzunterricht hat, du sahst uns mit blutunterlaufenen Augen an, schwangst einen mörderischen Baumast und schlugst damit auf uns ein, aber dann fielst du um wie ein nasser Strumpf, und wir haben dich behutsam und wie die alten Weiber schluchzend in diese Höhle getragen, wo jeder, selbst die schwarzen Pfefferkörner, das Beste taten, um dich wieder auf deine langen dürren Beine zu bringen. Selbst das Haar hat dir die kleine dunkle Kruke dort, die auf den schönen Namen Wallawahaua hört, abgesäbelt und auch den Bart mit der Zimmermannsaxt zurechtgehauen. – Ich denke, Sahnenlöffel, das ist immerhin eine Pfeife Tabak wert, auf die ich seit vier Tagen erpicht bin. Wenn du also noch irgendwo ein paar Körner davon versteckt haben solltest, so wollte ich ergebenst darum gebeten haben, denn du selbst darfst noch nicht rauchen, das verbiete ich dir, als der Chefarzt dieses Tropen-Krankenhauses, dem es selber nicht ganz gut geht, denn ein Elefantenrüssel hat mir wider jedes Recht quer über den Schnuffel geschlagen.' – 181

So machte der alte gute Robertson seine Späße mit mir, die mich zum erstenmal seit langer Zeit wieder lachen ließen. – Leider konnte ich dem vortrefflichen Kameraden, für den Mangel an Rauchkraut ärger war als ein knurrender Magen, nicht durch Überreichung eines gefüllten Tabaksbeutels danken, aber sein Kummer hatte bald ein Ende, denn schon am andern Nachmittag kehrten wir alle endlich nach Jakoma zurück, wo wir uns trennten, da fast jeder von uns unruhigen Abenteurern andere Pläne hatte. – – – –

Wie du dir denken kannst, Freund Ulebuhle, habe ich Robertson alles, was ich in jenen Tagen erlebt, erzählt. Er schüttelte bedenklich den Kopf. 'Du hast trotz allem Unglück Glück gehabt, Schaumlöffel', sagte er. 'Wahrscheinlich hast du eine giftige Frucht gegessen, die du für einen Strychnus hieltest. Sie muß dich in den schrecklichen Zustand versetzt haben, der deine Sinne verwirrte, denn an deine Riesen-Saurier aus der Jurazeit glaube ich nicht. Das ist doch barer Unsinn, denn die schauerlichen Biester sind, gottlob, einige Millionen Jährchen schon ausgestorben.'

'Robertson', sagte ich, 'darüber kein Wort! Das habe ich erlebt, so wahr ich hier vor dir stehe.'

'Fieberwahn', antwortete er.

'Nein! Dreimal nein! Außerdem: wie willst du es erklären, daß die Schwarzen doch auch um jene Ungeheuer wußten und darum nicht zehn Meter weit in den Urwald hineingingen?'

'Möglich, daß sie einmal ein besonderes großes Krokodil oder dergleichen dort gesehen. Du weißt, daß sie sehr abergläubisch sind und dann aus der Maus einen Elefanten machen. Dir sind in deinem Hunger- und Vergiftungswahn in diesem schauerlichen Urwalde die Redereien der Wilden eingefallen, und du glaubtest zu sehen, was sie berichteten. Schließlich kann ja auch ein Elefant oder ein anderes mächtiges Tier tatsächlich aus dem Dickicht hervorgebrochen sein, und du hast daran deinen Fiebertraum geknüpft. An die Riesensaurier kann ich nicht glauben; denn niemals hat man etwas davon gehört, daß solche Vorzeitschrecken noch irgendwo leben.'

'So so! Und die Seeschlange? Haben nicht die ernsthaftesten und ruhigsten Kapitäne bei ihrer Ehre erklärt, daß ihnen dies fünfzig Meter lange Untier draußen auf dem Ozean begegnet ist? Die Gelehrten behaupten, daß es Täuschung gewesen sei, daß Wesen dieser 182 Art heute nicht mehr existieren, und doch haben wir lange, von vielen Augenzeugen unterschriebene Berichte, die sie sahen. Wer kann wissen, was sich noch alles in den unzugänglichen Tiefen der Meere verbirgt? Und warum sollen sich in den Urwäldern Zentralafrikas, in denen ein Klima und eine Pflanzenwelt angetroffen wird, die an die Verhältnisse der Jurazeit erinnert, nicht noch ein paar jener greulichen Wesen erhalten haben?'

'Laß mich mit deinen vertrackten Biestern in Ruhe, Schöpflöffel', sagte Robertson. 'Laß sie dir kochen und in Essig einlegen, ich will von ihnen nichts wissen, und damit Schluß, aus, alle, Finish und Punktum!'

Da ließ ich ihn laufen, den ungläubigen Thomas, mein lieber Ulebuhle, und beschloß, keinem Menschen mehr etwas von meinem Abenteuer zu erzählen. Heute habe ich, weil wir hier so gemütlich am Lagerfeuer beieinandersitzen und mir alles so wieder in den Sinn kam, den Entschluß einmal beurlaubt und dir davon berichtet; aber ich wette, du glaubst mir ebensowenig wie William Robertson, was natürlich nicht hindert, daß ich alles von A bis Z so erlebt habe und bis ans Ende meiner Tage dabei bleibe, daß dieses Erlebnis lautere Wahrheit war!‹«

Hier schloß der Doktor Ulebuhle seine Erzählung und seinen Bericht über Balthasar Schaumlöffel. Er kratzte die Tabakasche aus seiner langen Pfeife, und wir Kinder atmeten hörbar auf, um all die Schrecknisse sozusagen hinter uns zu bringen, von denen wir gehört.

Wir hatten gar nicht bemerkt, daß die alte Christine schon vor längerer Zeit mit der Teekanne erschienen war. Sie stand mit dem Rücken am warmen Ofen und schüttelte nun das graue Haupt.

»Ih, du lieber Gott, Herr Doktor, wie kann man den Kindern so grausliche Geschichten erzählen, wonach sie vor Schrecken aus dem Schlaf erwachen!«

»Rede Sie keinen Unsinn, Christine! Ihre alten Gespenstermärchen sind noch viel grauslicher!«

»Und haben denn solche schauerliche Höllenbesen wirklich einmal auf der Erde gelebt, wie es Euer Freund, der Schöpflöffel oder Sahnenlöffel, oder wie er nun hieß, behauptet?«

»Das haben sie wirklich und wahrhaftig, Christine. Ich selbst habe ausgegrabene Reste von ihnen im South-Kensington-Museum in London gesehen. So einen Beinknochen vom Brontosaurus excelsus, 183 und dieser Knochen war größer als ich selbst, obwohl es nur der Unterschenkelknochen des Monstrums gewesen war. In Wyoming in Nordamerika haben sie Skelette ausgegraben, die über dreißig Meter lang waren, und im Berliner Museum für Naturkunde ist ein Skelett eines solchen Riesen aufgebaut, der längst nicht der größte war und neben dem man etwa so aussieht wie eine Maus neben einem Schäferhund. – All das hat es wirklich gegeben, aber ob mein Freund Schaumlöffel den Kampf solcher Ungeheuer, die ja längst ausgestorben sind, wirklich in jenem Urwalde Zentralafrikas gesehen hat oder ob sein Wahn es ihm vorspiegelte, das kann ich nicht wissen.«

»Ich möchte solchem Drachen jedenfalls nicht im Traume begegnen«, sagte die alte Christine und setzte die Teekanne auf den Tisch.

»Aber was ich noch fragen wollte: Was ist eigentlich zum Schluß noch aus Eurem Freunde, diesem Schaumlöffel, geworden? Hat er das schöne Mädchen noch geheiratet?«

»Nein«, sagte Doktor Ulebuhle nachdenklich und schlürfte vernehmlich seinen Tee. »Bei Sebastopol hat er auf seiten der Russen mitgefochten und fiel mitten im Schützenfeuer.«

»Da sieht man es, Doktor, was bei dem Herumschnökern in der Welt herauskommt. Wäre dieser Schöpflöffel im heimischen Suppentopf geblieben, so lebte er sicher heute noch!«

So sagte die alte Christine und schlurfte hinaus. 184



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