Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Der alte Baum

Höret nun die Geschichte von dem alten Baum, ihr Kinder, der da wohl ein Jahrhundert im stillen Walde stand und ein merkwürdiges Ende nahm.

Kerzengerade war er gewachsen, denn das ist für eine rechtschaffene Fichte eine Ehrensache. Sein dunkelgrünes Nadelkleid war dicht und voll, und wenn der Wind durch den Wald fuhr, dann rauschte er durch das Geäst des alten Baumes und klapperte mit dürren Zweigen wie ein Storch mit seinem Schnabel. Die kleinen Vögel saßen auf den breiten Fächern von Nadeln, die so schön nach Harz dufteten, und sangen ihre Lieder. Der Specht hämmerte, daß ihm der Kopf brummte, und die Eichkätzchen jagten auf und nieder und spielten Verstecken in dem Dunkel des dichten Geästes.

Im Winter lagen mächtige Schneewuchten auf den breiten Armen der Fichte, und im Frost knackten ihre mit tausend Diamanten behangenen Zweige, daß man es weithin schallen hörte. Dann kamen Hirsche und Rehe und schnoberten an der Rinde, denn sie litten Hunger. Reinecke, der Fuchs, schnürte mit gespitzten Ohren vorüber, wartete hinter dem breiten Stamm auf Lampe, den Hasen, und nachts saß zuweilen eine Eule auf dem Wipfel und schrie und miauzte wie ein Wickelkind. 37

Aber am schönsten war es doch im Sommer, wenn die Sonne so warm schien und die Vögel sangen. Einmal kamen ein alter Mann und ein altes Mütterchen. Sie gingen Hand in Hand. Sie blieben vor dem alten Baum stehen.

›Dieser war es‹, sagte der alte Mann und putzte seine Brille.

Und dann suchte er ringsum am Stamm und betastete die rissige Rinde.

›Ja‹, rief er plötzlich fröhlich, ›da ist es! Oh, wie lange ist es her, und wie jung waren wir damals!‹

Richtig, da war ein Herz in die Rinde des alten Baumes eingeschnitten, und zwei Buchstaben standen darunter, aber man konnte sie kaum noch lesen, denn die Zeit hatte sie zernagt und verwischt. Ja, vierzig Jahre sind eine lange Zeit, und so lange war es her, daß der alte Mann, der damals ein ganz junger war, die Zeichen hier eingegraben in die Rinde. – Lange standen die beiden Alten vor dem Baum und redeten kein Wort, und dann gingen sie Hand in Hand weiter.

Ja, so ein alter Baum ist wie ein treuer Freund, und der junge Jäger, der oft in seinem Schatten ruhte, wenn die Mittagshitze über der Welt lag, liebte ihn wie einen Menschen.

Aber eines Tages nahm das alles ein Ende. Da kamen die Holzfäller mit blanker Säge und scharfer Axt, und viele Bäume mußten sterben. Der Förster kam und machte mit Kreide drei Kreuze an den Stamm der alten Fichte, und das war ihr Todesurteil.

›Es tut mir leid, alter Bursche‹, sagte der Grünrock, ›aber es ist nicht zu ändern, die Welt braucht Holz!‹

Ach, es war nicht zu ändern! Da kamen die Männer und sägten den Stamm durch. Die Vögel hörten den alten Baum ächzen und stöhnen, erschreckt flogen sie weit fort. Der Star, der da oben im Wipfel eine Dachkammer bewohnt hatte, mußte schleunigst ausziehen. Er setzte sich auf den nächsten Baum und schnatterte und schimpfte stundenlang auf die Störer des Waldfriedens.

Dann legten die Männer ein Seil um den Baum, riefen ziehend ›Horuck! . . . Horuck!‹ und krachend stürzte die Fichte nieder auf den moosigen Waldboden.

Äste und Zweige wurden abgeschlagen, die dicke braune Rinde abgelöst, und der lange, kahle Stamm lag wie ein Leichnam im Walde. Nach ein paar Tagen aber kam ein riesiger Wagen mit vier Pferden 38 daher, und der Stamm wurde davongefahren, fort aus der grünen Heimat, hinunter in die Stadt, zum Sägewerk.

Da kreischten die Sägen von früh bis spät, schnitten den Stamm in lauter kleine Scheiben, und dann hackte die Hackmaschine das alles in tausend Trümmer. Ja, das Sägewerk war schrecklich. Ganze Wälder hatte es schon gefressen, und die Leute, die den grünen Wald liebten, mochten die blanken Sägen mit ihren tausend Raubtierzähnen nicht leiden.

Als die beiden alten Leute nach Monaten, im Frühlingssonnenschein, wieder durch den Wald schritten, da fanden sie den alten Baum nicht mehr. Nur ein breiter Stumpf ragte noch aus dem Boden. Lange standen sie da, und als sie fortgingen, glänzten Tränen im Auge des alten Mütterchens.

Der junge Jäger aber schimpfte und wetterte, als er seinen Liebling nicht mehr fand, und mißmutig warf er die Flinte über die Schulter und ging heimwärts.

Die Trümmer des Baumes waren inzwischen weitergewandert. Sie kamen in eine große Fabrik, da machte man Papier. Man warf sie in mächtige Kessel, in denen kochte ein scharfer Teufelssaft, und schließlich wurde ein dicker Brei aus dem Holz der alten Fichte. Der Brei wurde weiß gefärbt, kam auf mächtige Siebe, das Wasser wurde verdampft, und da war ein dünner, feuchter Filz aus dem Holzbrei geworden. Der ging dann durch viele Walzen und Pressen, wurde immer dünner und dünner, und endlich wurden schöne glatte Papierbogen daraus.

Ja, es ist eine tolle Geschichte, was die Menschen alles aus so einem alten Baume machen können! Aber was nutzt das ganze schöne Papier, wenn es nicht beschrieben oder bedruckt wird, sagten sich die Leute. Das sagte auch der langgelockte Dichtersmann, der da drinnen in der großen Stadt hauste, und so nahm er ein paar von den schönen weißen Bogen, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb lauter Reime und Gedichte auf das Papier. Ja, da besang er den Wald mit seinen grünen Bäumen und die Vögel, die da in den Zweigen wohnen, und sagte, daß es nicht Schöneres gebe in Gottes weiter Welt als den stillen Wald mit den rauschenden Wipfeln. – Ach, er dachte nicht daran, daß der alte Baum sterben mußte, damit der Dichter auf dem Papier seine Lieder über den Wald niederschreiben konnte. 39

Aber das meiste Papier, das aus dem Fichtenstamm entstanden, kam in eine große Druckerei, und da wurden die Gedichte über den Wald zehntausendmal abgedruckt, und aus dem Baum waren zehntausend Bücher geworden, die hinauswanderten in alle Welt.

Eines kam auch hinauf in das Forsthaus im Walde, wo der junge Jäger wohnte. Der nahm es mit sich in die grüne Einsamkeit der Tannen und Buchen. Er lagerte sich unter einem hohen Baum und las darin.

›Schnedderengteng!‹ sagte er ärgerlich. ›Da hauen die Städter die Bäume um und machen Papier daraus, und aus dem Papier machen sie Bücher, und in den Büchern schreiben sie, daß man in den grünen Wald gehen soll und ihn heilig halten muß. – Es ist ein verrücktes Zeug, und es ist schade um den Baum, der deswegen sterben mußte!‹

Da nahm er das Buch und warf es weit fort in das grüne Walddunkel.

Lange lag es da! Die Ameisen krochen zwischen den Seiten. Reineke, der Fuchs, beschnoberte es mißtrauisch und konnte über das seltsame Ding nicht klug werden, und der Starmatz pfiff darauf und benahm sich noch weiterhin unanständig, denn er verstand nichts von 40 Geschichten. Die Sonne vergilbte das Papier, dörrte es aus; der Regen durchweichte es, der Frost zerriß es, die Mäuse knabberten daran, der Schnee des Winters löste es auf in einen Brei. Der Brei sickerte langsam in den Erdboden hinein, gerade da, wo ein ganz winziges Fichtenzweiglein wuchs. Seine feinen Wurzeln saugten die Nahrung ein, und das zerstörte Buch gab der jungen Fichte wieder, was es dem alten Baum genommen hatte.

So ist die Welt, Kinder, sie steigt und fällt, ist Leben und Tod, Freude und Not. Achtet darauf! Alles wird, alles vergeht, das Neue lebt vom Alten, aus Gräbern steigt neues Gekribbel und Gekrabbel. ›Kreislauf der Natur‹ nennen es die gelehrten Herren, und kein Stäubchen in der weiten, herrlichen Gott-Natur geht verloren und ist wertlos! 41



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