Bruno Hans Bürgel
Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle
Bruno Hans Bürgel

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Gespenster-Heinrich

Wenn wir zum alten Ulebuhle wollten, dann mußten wir durch eine stille, dunkle Gasse, und in der lag ein uralter Klosterfriedhof mit windschiefen Kreuzen und hohen alten Bäumen, in denen klagend der Wind harfte. Das war denn am Abend immer so ein bißchen gruselig, wenn wir Größeren auch so taten, als ob wir uns vor Hölle und Teufel nicht fürchteten. Wir gingen dann immer nahe beieinander und auch merklich schneller, denn so ganz behaglich war es uns doch nicht da in der Dunkelheit. Einmal aber war ein kleines Mädchen hinter uns zurückgeblieben. Und wie sie nun so dahintrappte, kam etwas Weißes über die Kirchhofsmauer geflattert. Es war nichts weiter als ein Leinentuch, das der Pförtnerin von der Wäscheleine geflogen war, aber es genügte, um die kleine Urschel in Todesangst zu versetzen, weil sie glaubte, ein Gespenst sei hinter ihr her. Da lief sie denn laut kreischend und weinend uns nach und kam noch immer weinend bei der alten Christine und dem Doktor Ulebuhle an.

Die alte Christine brachte Tee und Kuchen und tröstete unsere ängstliche Kameradin, aber der Doktor Ulebuhle ging knurrend und brummend auf seinen mächtigen Filzschuhen im Zimmer umher und schimpfte über das unvernünftige »Weiberzeug« und über die Mägde und Ammen, die den Kindern Gespenstergeschichten erzählen und sie so verängstigen, daß sie in kein dunkles Zimmer zu gehen wagen.

»Kinder«, sagte er, »die Toten kommen nicht wieder heraus aus ihren Gräbern, um kleine Mädchen zu erschrecken. Sie schlafen da unten im Frieden und bewegen kein Zehenspitzchen mehr. Gespenster gibt es nicht, aber es gibt allerlei Angstmeier, die an Gespenster glauben, und von so einem will ich euch jetzt etwas erzählen. Er wohnte auch hier in dieser Stadt und war Kutscher und Diener beim alten Doktor Horn. Mit dem mußte er dann und wann über Land fahren, zu den Kranken, oder er mußte ihnen die Medizin bringen. Aber überall sah er in der Dunkelheit Gespenster, so daß ihn die Leute ›Gespenster-Heinrich‹ nannten. 132

Der gute Doktor hatte seine Plage mit dem dummen Heinrich, und sooft er ihm auch zeigte, daß all seine Gespenster ganz harmlose Dinge waren, er fand immer neue Gespenstersorten. Von einigen seiner Schreckbilder aber will ich euch hier erzählen, damit ihr selber nicht so töricht werdet, an solchen Schnickschnack zu glauben!

Einmal, im Winter, war droben auf dem Steinberge der Bergwirt krank geworden, und der Doktor Horn schickte den Heinrich mit einer Flasche Medizin noch spät am Abend hinauf in den Tann. Anfangs war es noch ein wenig schummrig, und der Schnee leuchtete genügend, aber langsam wurde es dunkel. Da steckte denn der Heinrich seine große Stallaterne an und trabte weiter, immer bergan. Das ging eine Weile ganz gut, und nichts konnte dem Burschen beängstigend in den Weg treten. Schließlich aber kam er aus den Tannen heraus auf eine freie Hochfläche, über der dichter Nebel zog.

Es war bitter kalt, und Heinrich stellte einen Augenblick seine Laterne hinter sich in den Schnee, um sich die Handschuhe anzuziehen. Wie er eben damit fertig ist und wieder aufschaut, erschrickt er derart, daß ihr die Haare wie Stricknadeln in die Höhe fahren! Vor ihm, nicht weit fort, steht ein riesenhafter Kerl, ganz schwarz und körperlos, wie aus dunkler Pappe geschnitten. Er ist gut ein Haus hoch und in dem Nebel nur undeutlich zu sehen, aber es ist wahr und wahrhaftig keine Täuschung, er steht leibhaftig da!

›Heiliger Gottseibeiuns!‹ sagt der Gespenster-Heinrich und bleibt wie angewurzelt stehen, aus Angst, der Riesenkerl könnte eine harmlose Bewegung als eine Drohung auffassen und auf ihn losfahren. ›Heiliger Gottseibeiuns! Was für ein gottvermaledeiter Türkenteufel ist jetzt das nun wieder! Da wünscht' ich doch, der Doktor Horn stände zur Stund' an meiner Stelle, damit er endlich einmal sieht, was für ein unchristliches Lumpenvolk sich nachts in den Wäldern und Bergen herumtreibt, denn wenn ich's ihm morgen erzähle, dann lacht er mich wieder aus und sagt: Jochen Päsel, wat büst du für'n Esel!‹

Verstohlen guckt sich Heinrich den schwarzen Spuk vor ihm an. Der steht vollkommen still und scheint zu warten, was der gute Heinrich beginnen wird. Kaum aber hebt der vorsichtig ein wenig den Arm, da nimmt auch der schwarze Kerl schon zum Angriff den seinen hoch, so daß der Heinrich schleunigst kehrt macht, in seiner Angst gegen die hinter ihm stehende Laterne rennt, so daß sie umfällt und 133 verlischt, und dann saust er wie ein Hase mit seiner Medizinflasche den Berg wieder hinunter.

Am Waldrand bleibt er endlich pustend und schnappend stehen und schaut sich um. Der Riese ist ihm nicht nachgekommen; keine Spur ist von ihm zu sehen. – Schwerenot, denkt der Heinrich, wenn ich nur meine Laterne mitgenommen hätte, denn nun so durch den dunklen Tann stapfen, das ist auch wieder nicht das rechte. Ob du noch einmal ganz vorsichtig hinaufgehst und sie wieder aufklaubst? Der Heinrich nimmt seinen gesamten Mut auf einen Haufen zusammen und stapft wieder ganz vorsichtig zu der Hochfläche hinauf. Er findet seine Spur im Schnee leicht wieder, und . . . da liegt auch wirklich die Laterne noch, der elende Höllenbraten hat sie also nicht 134 mitgenommen, und von ihm selbst ist nichts mehr zu sehen, nur der dicke Nebel zieht noch immer wie eine weiße Wand daher.

Der Gespenster-Heinrich zieht sein Feuerzeug hervor, um die Laterne wieder zu entzünden. Dabei überlegt er, wie sie wieder auf ihn schimpfen werden, wenn er unverrichteter Sache nach Hause kommt und der Bergwirt auf dem Steinberge seine Medizin nicht zu schlucken kriegt. Ob er's wohl noch einmal versucht? Es ist ja nur eine Viertelstunde Wegs noch, und der Schwarze ist vielleicht inzwischen auf und davon.

Die Laterne brennt nun wieder, und der Heinrich hockt vor ihr am Boden, um noch seine Pfeife anzuzünden. Wie er ein wenig zur Seite blickt: Kreuzmillionen Türkenteufel, da drüben hockt auch wieder der schwarze Höllenspuk und ist womöglich noch größer geworden!

Vorsichtig richtet sich unser Heinrich auf, aber der Schwarze erhebt sich ebenfalls und wächst hinauf bis in den Himmel. Nun aber ist kein Halten mehr. Der Gespenster-Heinrich erwischt noch schnell seine Laterne, und dann trabt er talwärts, daß der Schnee wie Puder hinter ihm herstiebt.

Und wie er ein Weilchen gelaufen ist, da kommt auch vor ihm wieder eine schwarze Gestalt, aber die ist Gott sei Dank kleiner. Immerhin, heut ist es mal wieder ganz und gar zum Hinwerden, denkt der Heinrich und bleibt wie angewurzelt stehen. Hinten ein großer Teufel, vorn ein kleiner, das ist doch gegen alle Polizeiverordnung. Da kommt der kleine Teufel näher und ruft: ›Heinrich, bist du es, mein alter Rabe?‹

Dunnerkiel, denkt Heinrich, das ist ja der Doktor! Na, Gott sei Lob und Preis! Und so ist es wirklich. Der Bergwirt hat dem Doktor sagen lassen, daß es ihm schlechter geht, und der brave alte Arzt hat sich darum selber auf die Beine gemacht, um nach dem Manne zu sehen. Er denkt, der Heinrich kommt schon wieder vom Berge zurück, und ist ganz erstaunt, als er hört, daß er noch gar nicht oben war. Da erzählt denn der Gespenster-Heinrich sein schreckliches Erlebnis.

›Heinrich‹, sagt der Doktor, ›es ist wirklich doch zum Haarausraufen mit dir! Du wirst jeden Tag dümmer und furchtsamer. Jetzt kommst du mit mir. Wer weiß, was du wieder gesehen hast! Einen verkrüppelten Baum oder einen Felsen, der dir im Nebel wie ein schwarzer Riese erschienen ist. Paß mal auf, wenn ich bei dir bin, ist der Riese fort.‹ 135

So steigen sie denn also aufwärts und kommen bald an die Stelle, wo unser Heinrich den greulichen Spuk gesehen hat. Der Nebel ist noch immer da, aber vom Riesen keine Spur.

›Wie war das nun?‹ fragt der Doktor.

›Jä‹, sagt der Heinrich, ›das war nu so: Also hier hatte ich meine Lampe hingestellt un will meine Hannschen anziehn, un wo ich nu hinkucke, da steht der Kerl da!‹

Damit stellt der Heinrich seine Laterne wieder so hin, wie sie damals stand, und zeigt dann nach vorn, und dann kreischt er los:

›Dunnerschlag und Hagel, Härr Dukter! Da, da is er wieder, nä, Deubel ok, jetzt sinn es zwaa!

Und wirklich, es ist so! Zwei riesige schwarze Gestalten stehen da vorn im Nebel. Der Doktor putzt seine Brille und schaut noch einmal hin, und dann lacht er aus vollem Halse, daß es nur so hallt und schallt. ›Jochen Päsel, wat büst du für'n Esel!‹ sagt er zu dem betroffenen Gespenster-Heinrich, ›Menschenskind, das ist ja dein eigener Schatten, den die Laterne, die hinter dir steht, auf die Nebelwand vor dir wirft, und du bist also vor deinem eigenen Schatten davongelaufen! Du brauchst ja nur die Arme zu schwenken oder mit den Beinen zu strampeln, dann wirst du sehen, daß der schwarze Teufel da vor dir all diese Bewegungen nachmacht, denn er ist nichts anderes als dein Schatten, nur daß er nicht auf den Erdboden fällt, wie er es tut, wenn dich die Sonne bescheint oder der Mond oder eine Straßenlaterne, sondern daß er auf der Nebelwand vor dir entsteht, weil deine Laterne tief unten am Boden steht!‹

Das sah denn auch der gute Heinrich ein, und still ging er mit hängenden Ohren neben dem Doktor her und nahm sich vor, ein andermal verständiger zu sein.«

Doktor Ulebuhle klopfte seine Pfeife aus und stopfte sie aufs neue. »Ja«, sagte er, »da seht ihr nun, was es mit den Gespenstern für eine windige Sache ist! Die Erscheinung, die der Heinrich da gesehen hatte, ist in den Bergen gar nicht selten, man nennt sie das ›Berggespenst‹ oder ›Brockengespenst‹, denn auf dem Brocken, dem höchsten Berge im Harz, ist sie besonders häufig. Da ziehen viele Tage im Jahre dichte Nebelschleier um die Bergkuppe, und wenn die Sonne aufgeht, dann wirft sie unseren Schatten auf die Nebelwand, die zuweilen ein ganzes Endchen von uns entfernt ist, wodurch dann der Schatten 136 riesenhaft vergrößert erscheint. Aber ihr werdet zugeben, daß das ein recht harmloses Gespenst ist, das niemand etwas zuleide tut und mit dem Nebel in alle Winde zerflattert. Ich selbst sah es an einem Wintermorgen auf dem Brocken bei Sonnenaufgang!«

»Ulebuhle«, fragte das kleine Mädchen, »hat denn der Heinrich später noch andere Gespenster gesehen?«

»Ei freilich, Urschel! Er war ein dummer Tropf und erfand immer neuen Spuk, als wenn er dafür bezahlt bekommen hätte! Einmal mußte er des Abends spät über Land, um seinem Herrn allerlei winzige Instrumente zu bringen, denn ein Kranker hatte ein böses Geschwür, und das mußte aufgeschnitten werden. Drüben sah er das Dorf jenseits der Wiesen liegen, und er beschloß, sich den Weg abzukürzen und quer durch Wiesen und Felder zu wandern. Es waren aber auch große Seen in der Nähe, und an manchen Stellen waren die Wiesen sehr sumpfig. Langsam wurde es dunkel, und nur ganz fern in dem Dörfchen brannten ein paar Lichter, so daß sich der Heinrich immerhin zurechtfinden konnte, wenn er auch aufpassen mußte, nicht in den Sumpf zu geraten. Das ging eine ganze Weile gut, aber plötzlich wurde ihm gar sonderbar zumute! Vor ihm tanzte in der Dunkelheit ein merkwürdiges Lichtlein, es hüpfte auf und nieder, war bald hier, bald dort und kam einmal seiner Hand so nahe, daß er es greifen konnte, und da verlöschte es.

Zugleich merkte unser Heinrich, daß er vom Wege abgekommen war und daß unter ihm der feuchte Moorboden wabberte. Er blickte sich um und sah nun hinter seinem Rücken da und dort einen schwachen Lichtschein. ›Aha‹, meinte er, ›das sind die Lichter vom Dorf, da wär ich beinahe in der Irre umhergelaufen.‹

So ging er denn auf jene Lichter zu. Aber da flackerte wieder vor ihm das seltsame Flämmchen, das frei in der Luft tanzte, nicht weit über dem Boden. ›Tanz du nur, Höllenspuk‹, sagte er, ›ich gehe meines Weges, und wenn du willst, so komm mit!‹

Auf einmal war er ganz dicht bei den Lichtern, von denen er glaubte, sie seien noch weit fort und gehörten zum Dorfe. Er sah, daß auch sie nicht feststanden und immer vor ihm hertanzten, und als er sich nun seitwärts wandte, da flackerten auch dort und ringsum die hüpfenden Flämmchen. Dazu zischelte und wisperte es so seltsam in der Runde, als ob's im Teekessel siedete, und der Boden wurde 137 immer weicher und wabberte wie Gummi. Mitunter klang es wie verhaltenes Kichern um ihn herum, und wenn er sich in Trab setzte, um dem Spuk zu entgehen, dann wichen die grünlichen Flämmchen vor ihm aus und verschwanden seitwärts, aber neue tauchten vor seinen Füßen auf und schienen aus dem Boden zu kriechen.

Schließlich blieb der arme Heinrich zitternd stehen. Das Wasser ging ihm schon dann und wann oben zu den Stiefelschäften hinein, und der Lichterspuk nahm kein Ende. Da stand der arme Kerl nun und wußte nicht mehr aus noch ein. Er war vollkommen vom Wege ab und konnte nicht einmal mehr feststellen, in welcher Richtung das Dorf lag, denn andere Lichter als die hier hin und her hüpfenden grünen Flämmchen waren nirgends zu entdecken.

›Was mag es nur für Teufelszeug sein, das hier umherwimmelt‹, sagte er zu sich selbst, ›sicher sind es Geister. Ich glaube, Geister sind immer etwas grünlich, oder es sind die Seelen Verstorbener, vielleicht 138 in diesem Teufelsmoor Ertrunkener. Großmutter hat davon erzählt. Gespenster sind es auf jeden Fall, denn sie treiben sich hier zur Nachtzeit umher und belästigen mit ihrem Tausendsapperlot-Getänzel und -Geflunker anständige Christenleute und bringen sie vom richtigen Wege ab. Ich möchte wohl wissen, was mein Herr, der Doktor Horn, nun wieder über diese vermaledeite Türkenteufelei für Sprüchlein machen würde!‹

So stand der Gespenster-Heinrich eine ganze Weile unschlüssig, denn er wußte wirklich nicht, wie er sich aus der Klemme ziehen sollte. Zuweilen kamen die seltsamen Flämmchen so nahe heran, daß er sie mit der Hand erwischen konnte, und das tat er in seiner Wut auch mehrmals, aber es geschah nichts weiter, als daß sie wie ein wesenloses Nichts zwischen seinen Fingern verlöschten, wobei auch nicht eine Spur von Wärme zu spüren war.

Heinrich mochte wohl eine Viertelstunde da gestanden haben, als er plötzlich freudig die Ohren spitzte. Irgendwo, aber noch fern, klang es, als ob ein Wagen im Sandweg dahinmahle. Gott sei Dank, er kam langsam näher, und nach einer Weile hörte man auch, daß sich zwei Männer auf dem Wagen unterhielten. Schließlich konnte der Gespenster-Heinrich auch in einiger Entfernung das rötliche Licht der Wagenlaterne erkennen, und nun lief er spornstreichs drauf zu, daß das Wasser nur immer so um ihn her spritzte. Bald hatte er das Gefährt erreicht.

›Hallo, hallo!‹ schrie er.

›Hallo!‹ antworteten die Leute vom Wagen.

›Geht hier der Weg zum Dorf, und fahrt ihr selber hin?‹

›Ei freilich! Wenn Ihr mitwollt, so kommt nur herauf!‹

Da sprang der Heinrich schnell auf den Wagen und war seelenvergnügt, es so gut getroffen zu haben.

›Ihr kamt ja aus dem Moor heraus‹, sagte der eine der Bauern, ›habt Ihr Euch verlaufen? Da ist es nicht geheuer in der Dunkelheit, denn man ersäuft, ehe man's recht selbst merkt!‹

Und nun erzählte Heinrich, wie es ihm ergangen und wie ihn die hüpfenden Lichter vom Wege abgeführt.

›Ei der Deubel‹, riefen die Bauern, ›das waren die Irrwische. Die haben manchen schon betrogen, die Teufelsdinger. Sie lockten ihn vom rechten Pfade ab, führten ihn immer weiter ins Moor, und da ist er lautlos ersoffen. Die Leute sagen, vor vielen hundert Jahren hätten 139 hartherzige Bauern im Dorf gewohnt, und es seien einmal in einer Regennacht hungrige Musikanten gekommen, die hätten um Nahrung und Obdach gebeten, und die Bauern hätten sie davongejagt. Da seien die Musikanten in das Moor geraten und seien ertrunken, und nun tanzten ihre Seelen da des Abends umher, um die Bauern auch ins Moor zu locken und zu verderben. – So sagen die Leute, aber der Pfarrer und der Lehrer meinen, das sei dummes Zeug, und mit den Irrwischen ginge das ganz natürlich zu!‹

›Tausenddonner, es sind vermaledeite Gespenster und Türkenteufel, sage ich!‹ schrie noch immer erbost der Heinrich. ›Die Polizei muß sich darum kümmern, aber die kommt nur, wenn man mal ein Gläschen über den Durst getrunken hat und des Nachts ein Liedchen singt auf der Gasse!‹

›Ja, ja‹, meinten die Bauern, ›so ist dat!‹ Aber dann riefen sie ›Hüh‹ und ›Hott‹, und die Pferde setzten sich in Trab und bogen in die Dorfstraße ein. Der Heinrich aber hütete sich, dem Doktor sein Erlebnis mitzuteilen, denn er wußte, daß jener ihn doch nur auslachen würde . . .«

»Solche Lichter habe ich auch schon gesehen«, sagte eines der Kinder, »aber sie flogen im Sommer des Abends draußen zwischen den Bäumen herum und waren sehr spaßig, wie lauter kleine grünliche Laternchen, nicht größer als ein Nadelkopf.«

»Oho, das waren nicht solche Irrwische, wie sie dem Gespenster-Heinrich begegnet sind, das waren sogenannte Glühwürmchen oder Johanniswürmchen«, antwortete Ulebuhle. »Die fliegen in warmen Sommernächten um die Büsche oder liegen im Grase, und jeder freut sich über diese seltsamen leuchtenden Kerle. Aber die Irrwische, die sind von ganz anderer Art, und daß durch sie Leute in Sümpfen und Mooren in der Irre umhergeführt worden sind, das kann wohl vorgekommen sein, denn nur an solchen feuchten Stellen, wo im Boden viele Pflanzen verwesen, bilden sich die hüpfenden Flämmchen. Aber das geht alles natürlich zu, und es ist nichts Gespenstisches dabei! Seht! Überall da, wo etwas verwest, bilden sich Gase, und die verwesenden Pflanzenmassen der Wiesenmoore erzeugen ebenfalls solche Gase. Wenn man bei ruhigem Wetter in der Abendstille durch ein solches Gelände schreitet, dann hört man es merkwürdig leise wispern und zischeln, ganz so, wie es der Gespenster-Heinrich gehört hat, aber das sind nicht irgendwelche Geister, sondern 140 das Singen und Zerspringen von Millionen winziger Gasbläschen, die aus dem Boden emporsteigen. Diese Gase aber haben zuweilen die Eigentümlichkeit, daß sie sich von selbst entzünden und in Gestalt von kleinen Flämmchen über dem Sumpf- und Moorboden schweben. Das sind die Irrlichter oder Irrwische. – Ihr seht, Gespenster sind es nicht, und doch sind sie geheimnisvoll, denn die gelehrten Herren haben noch nicht ganz sicher herausgebracht, wie sich diese Gase entzünden, denn richtige Flammen, wie die Gasflammen in den Laternen, sind es nicht, sondern sie leuchten nur so ähnlich wie der Phosphor an alten Zündhölzern, in einem kalten, merkwürdigen Schein, der wie ein leichter Nebelbausch beim leisesten Windhauch hin und her treibt, so daß es aussieht, als hüpfe er tanzend über das Moor.

Ja Kinder, es gibt sonderbare Dinge in der Welt, und man darf es den Leuten, die nicht viel haben zur Schule gehen können, nicht verargen, wenn sie bei manchen Dingen an Wunder und Zauberei glauben; aber immer, wenn man die Dinge genau ansieht und erforscht, dann zeigt es sich, daß sie nicht wunderbarer sind als die Wolken, die am Himmel schweben, oder als die Kornähre, die aus einem winzigen Samenkörnchen wächst. – Der Gespenster-Heinrich war aber darin ein schnurriger Kauz! Er blieb bei seinem Gespensterglauben und ließ sich nicht belehren, auch als alter Knabe, und da aller guten Dinge drei sind, so will ich euch noch ein Stücklein von ihm erzählen!

Da ging er einstmals im Spätsommer abends durch den dunklen Wald zurück von Hahnenklee nach Goslar. Es war eine schöne, laue Nacht, aber es war sehr finster im Tann und der Himmel dunkel und verhangen. Es knackte überall so seltsam in den Zweigen, und dem guten Heinrich, dem immer das Gruseln nahe war, kamen wieder allerlei dumme Gedanken.

Plötzlich hörte er ein erschrecktes Kreischen und einen schweren Flügelschlag, und da sah er dicht vor sich im Tann ein seltsames Ding stehen.

Es war gut mannshoch und leuchtete in einem seltsam gelbgrünen Licht vom Kopf bis zu den Füßen. Der Kopf war dick und unförmig, man sah in ihm nur ein paar dunkle mächtige Augenflecke, und breite Haarbüschel fielen bis in die Stirn. Die wehten ständig hin und her, obgleich kein bißchen Wind im Walde ging. Auch starke Arme waren zu sehen, sie waren kohlschwarz und weit ausgespannt, als ob sie den 141 Heinrich beim Vorbeischreiten festhalten wollten. Dazu miaute das unheimliche Wesen in schrecklichster Weise. Bald wimmerte es wie ein kleines Kind, bald stöhnte und krächzte es gottserbärmlich.

Je länger der Gespenster-Heinrich hinschaute, je stärker sah er den greulichen Spuk leuchten in der tiefen Dunkelheit, und er blieb wie angenagelt stehen, weil er sich nicht vorbeitraute.

Aber innerlich schimpfte er um so mehr auf diese ›vermaledeite Türkenteufelei‹ und das ganze ›polizeiwidrige Gespenster-Lumpengesindel‹. Das Ding stand da und rührte kein Glied, nur die Haare auf seinem Kopf sah man auf der hellen Stirn hin und her fliegen. Die Arme aber hielt es noch immer weit ausgespannt.

Plötzlich ließ der zitternde Heinrich seinen Wanderstock fallen. Da kreischte der Spuk vor ihm laut auf, und es rauschte etwas miauzend auf den Gespenster-Heinrich zu. Dieser aber sah und hörte schon nichts mehr! Er drehte kurz um und stürzte laut schreiend durch den Tann, daß ihm die Zweige nur so das Gesicht peitschten. Erst als er weit fort war, hielt er schnaufend inne und ging über den nächsten Holzfällerweg in einem weiten Bogen um das Waldstück herum und kam sehr spät erst, müde und ausgehungert daheim an.

›Diesmal‹, sagte er, ›will ich's aber doch dem Doktor gehörig auseinandersetzen! Ich werde ihm sagen, was da wieder für eine elende Himmelhöllenschwerenot im Tann gewesen ist und daß ich meinen schönen Krückstock eingebüßt habe und daß ich überhaupt nicht mehr nachts allein zu solchen Botengängen herhalten will. Da bin ich doch gespannt, was er nun wieder für Ausreden hat für diesen neuen Spuk!‹

Das tat der Heinrich denn auch, und der alte Doktor, der ihn schon genügend kannte und der den sonst so braven Kerl nicht noch mehr verärgern wollte, sagte zu ihm:

›Gut, mein bester Heinrich! Heut abend werden wir zusammen den Weg gehen, denn ich muß sowieso einmal nach dem kranken Lehrer in Hahnenklee schauen. Wenn ich dir die Sache nicht an Ort und Stelle ganz harmlos erklären kann, dann sollst du recht behalten und brauchst nicht wieder nachts Medizin durch die Wälder zu tragen. Wenn du aber wieder ein Hasenfuß gewesen bist, dann kann ich nichts weiter tun als sagen: Jochen Päsel, wat bist du für'n Esel!‹

Am Abend gingen sie denn richtig los, und sie kamen auch bald an die Stelle, wo unser Freund gestern solche Angst ausgestanden. Da lag 142 auch noch unberührt auf dem Waldwege der Krückstock, und zehn Schritt davon stand ein abgebrochener, ganz vermorschter hoher Baumstumpf, von dem nur noch die Hälfte übrig war. Hinter ihm stand eine kleine Fichte, die seitwärts ihre Arme hinter dem faulenden Stumpf hervorstreckte, und oben auf dem morschen Stumpf wuchsen Farnkräuter, die weit herniederhingen. An allerlei Unrat und Federn sah aber der Doktor, daß oben auf diesem Stumpf wohl dann und wann ein KäuzchenDas Käuzchen gehört zu den Eulen, und sein eigenartiges Geschrei vermag im nächtlichen Walde furchtsame Leute zu erschrecken. zu rasten pflegte.

Aha! sagte der Doktor bei sich, das ist das Gespenst. Zum Heinrich aber bemerkte er lachend: ›Da, schau her, mein Lieber, das ist der greuliche Spuk, der dich genarrt. Faules Holz leuchtet sehr häufig stark im Dunkeln, und wenn wir heute nacht, wenn es ganz finster sein wird, zurückkehren, dann wirst du den Stamm auch wieder leuchten sehen. Die Augen waren nichts als diese beiden Moosbüschel, die da wachsen, und die Haare waren die Farnkräuter. Was du für Arme gehalten hast, sind die beiden großen Zweige der Fichte da hinter dem Stumpf, und das Miauze und Gewimmer kam von einem Käuzchen, das oben auf dem Stumpfe saß und auch die Farnkräuter, die Haare deines Gespenstes, bewegte. – Als du deinen Stock fallen ließest, hat sich der Vogel erschreckt und flog kreischend davon. – So, das ist die ganze Geschichte!‹

Der Heinrich war halb schon überzeugt, aber ein wenig mußte er sein Gespenst doch noch verteidigen. ›Es leuchtete gar zu gruselig‹, bemerkte er, ›aber wenn es heute nacht wirklich ebenso flimmert an dem alten Wurzen da, so will ich es wohl glauben, daß ich mich geirrt!‹

Als der Doktor seine Geschäfte erledigt und sie zu später Stunde wieder beim Heimweg an den morschen Stamm kamen, da schimmerte und flimmerte er wirklich so stark, wie es auch der Doktor noch selten erlebt. ›Siehst du es nun, ungläubiger Thomas, daß ich recht hatte!‹ sagt er. ›Brich ein wenig ab und nimm es mit nach Hause, es leuchtet so stark, daß du nachts die Taschenuhr bei dem Lichte ablesen kannst. – Ich will dir auch sagen, wie das Leuchten zustande kommt! Es gibt eine ganze Anzahl leuchtender Bakterien und Pilze. Faulende Fische und faulendes Fleisch leuchten in dunklen Räumen sehr stark, besonders 143 wenn es warm ist, denn auf ihnen haben sich Millionen solcher leuchtenden Bakterien angesiedelt. In den Wäldern Südamerikas trifft man Pilze, die leuchten gar gespenstisch aus dem Walddunkel hervor. Dieser alte Baumstamm aber ist durchwachsen von unendlich vielen, ganz winzigen Pilzsträngen, die das Faulen des Holzes hervorrufen und die verwesende Masse zum Leuchten bringen. – Nicht wahr, das ist nicht so schwer zu begreifen, alter Knabe, aber es wird alles nichts helfen, und du wirst immer wieder neue Gespenster sehen. Darum aber bleibe ich dabei und sage: Jochen Päsel, wat bist du für'n Esel!‹« 144



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