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Dreiunddreißigstes Kapitel.
Der Sprung

Dan mäßigte Satans Tempo zu einem leichten Galopp. Die Schlucht machte einen Bogen, und als er um die Ecke kam, sah er, daß er gefangen war. Er brachte Satan zum Stehen. Vor ihm zog sich ein hoher, starker Drahtzaun quer durch das ganze Strombett. Hinter dem Zaun bildeten außer Gebrauch gesetzte Geflügelkörbe, alte Faßreifen und tausend andere Dinge, die den Hinterhof einer Farm im Westen zieren, einen riesigen Kehrichthaufen. Zur Linken konnte er, über die alles verdeckende Böschung hinweg, den obersten Giebel eines Hauses erblicken.

Er sah unschlüssig über die Schulter zurück. Es war schon zu spät, um wieder zurückzureiten, eine Stelle zu suchen, wo Satan die steile Böschung zu erklimmen vermochte und querfeldein weiterzujagen. Das Aufgebot brauste wie ein Wirbelwind daher. Sie schrien jetzt und schossen in die Luft. Sie wollten Aufmerksamkeit erregen. Und es gelang ihnen auch anscheinend. Dan erblickte einen hochgewachsenen Mann in den besten Jahren, der im Sturmschritt vom Haus herunterkam, daß ihm der Bart über die Schulter wehte. Er hatte eine doppelläufige Jagdflinte in den Händen. Er gehörte zu den Leuten, denen man auf den ersten Blick ansieht, daß sie nicht wissen, was ein Fehlschuß ist – wahrscheinlich, weil Munition so teuer ist – ein Mann, dem in den Weg zu geraten, wenn er eine doppelte Ladung Rehposten in den Läufen hat, sicherer Tod ist.

Der Farmer hatte haltgemacht. Den breitrandigen Strohhut weit in den Nacken geschoben, spähte er die Schlucht hinauf und hinunter und bot ein ausgezeichnetes Ziel. Barrys Hand glitt nach dem Gewehr hinab, aber seine Finger weigerten sich, die Waffe zu fassen.

»Ich kann's nicht, Satan!« flüsterte er. »Wir müssen's riskieren. Vielleicht kommen wir so vorbei. Der da hat mit Grey Molly nichts zu schaffen gehabt.«

Ein böses Risiko! Das kurze Zögern hatte das Aufgebot beträchtlich näher gebracht. Und der Farmer hatte jetzt den Flüchtling erblickt und brachte sein Gewehr in Anschlag. Black Bart raste, fiebernd vor Ungeduld, in engen Kreisen rund um seinen Herrn. Das Aufgebot stieß einen wilden Jubelschrei aus. Hallend brach er sich an den Wänden der Schlucht. Das Wild war gestellt.

»Siehst du's?« flüsterte Barry, sich zu Satan hinabbeugend. »Boy, siehst du, was du tun mußt?«

Der Rappe hatte den Kopf zurückgeworfen – sein ganzer Körper bebte – und beäugte den Zaun. Es war eine mörderische Höhe, und alle Chancen waren gegen ihn – der lange Lauf, den er hinter sich hatte, das Ansteigen des Bodens gegen den Zaun hin, und das grobe Geröll, von dem er abspringen mußte.

»Du kannst es!« sagte sein Herr. »Du mußt es! Spring, Boy! Wir gewinnen oder verlieren zusammen!

Er beugte sich vor. Der Rappe stürmte voran, daß der Kies auf beiden Seiten davonstob. Jenseits des Zaunes hob der Farmer gemächlich die Flinte an die Backe und nahm den Reiter sorgfältig aufs Korn. Er wußte, was das Ganze zu bedeuten hatte. Er hatte von Barry, dem Banditen mit dem schwarzen Pferd und dem Wolfshund schon genug gehört – jedermann hatte ja übrigens von ihm gehört – davon abgesehen, war der Anblick des Aufgebots, das jetzt in vollem Galopp herankam, Aufklärung genug. Wieviel ging durch seinen Kopf, während er mit halb zugekniffenen Augen den glänzenden Lauf entlang visierte! Er dachte an die unendlich langen Jahre der Arbeit auf der Farm, an die Hypothek, die jedes Jahr den besten Teil der Ernte auffraß, an die kummergebeugten Schultern seiner Frau, an die hungrigen Gesichter seiner Kinder – er dachte vor allem an die zehntausend Dollar Belohnung. Um seiner Sache ganz sicher zu sein, ließ er sich auf die Knie nieder. Der Lauf seines Gewehrs ruhte in seiner Hand wie angeschmiedet. Prachtvoll brauste der Rappe heran, die Ohren aufgestellt, den Kopf zurückgeworfen. Ein gutes Hindernispferd weiß, wie es den Kopf zu tragen hat.

Der Farmer beobachtete mit Kennerblicken, wie der Verfolgte sein Pferd unter sich zusammennahm. Nur zu gut kannte er die Bewegung, mit der die Faust die Zügel kürzer und fester faßte – sie gab dem Pferd den letzten kleinen Ruck nach oben, der unter Umständen über Leben und Tod entschied. Nur zu gut kannte er die Bewegung, mit der sich der Mann in den Steigbügeln hob und nach vorne beugte. Das Herz ging ihm auf. Er dachte an die Pferdekoppeln daheim im alten Kentucky, deren blaugrünes Gras in der Sonne funkelte.

Vor Roß und Reiter lief der Wolfshund. Dicht am Boden hingleitend erreichte er den Zaun und schoß in einem eleganten hohen Bogen darüber.

Dann der Ruf des Reiters: »Auf! Auf!«

Und der Rappe bäumte sich und sprang. Seine Hufe setzten dicht am Zaun vom Boden ab. Es sah aus, als müsse er das Hindernis streifen. Im Fliegen tasteten seine Vorderhufe unsicher nach dem obersten Stacheldraht, dann aber schnellte er, dicht zusammengeduckt, die Beine unter den Körper gezogen, glatt über das Hindernis. Der oberste Draht schwirrte wie eine Baßsaite.

Der Farmer warf sein bestes Jagdgewehr achtlos beiseite – es flog ein Dutzend Schritte weiter in den Sand – und riß den Hut vom Kopf.

»Gute Fahrt, Junge! Gott segne Euch und viel Glück!«

Die Hand des Reiters erhob sich zu einem stummen Gegengruß, und als er vorbeischoß, erhaschte der Farmer einen Blick auf ein zartes, hübsches Gesicht. Es lächelte ihm zu.

Er legte die Hände zum Trichter an den Mund und brüllte dem Fliehenden nach:

»Das linke Tor! Das linke Tor!«

Und als der Reiter durch das obere Tor davonstob, machte der Farmer kehrt, um sich mit dem Aufgebot auseinanderzusetzen. Sie hielten bereits vor dem Zaun, und die Männer zogen ihre Drahtscheren aus der Tasche.

Barry hatte die Bodenerhebung jenseits des Farmhauses erreicht. Er sah sie unten die Drähte auseinanderschneiden. Nur ein paar Sekunden und die unterbrochene Verfolgung setzte wieder ein. Aber Sekunden zählten jetzt dreifach.

Fünfunddreißig Meilen waren es, seit sie Rickett am Morgen verlassen hatten, und immer noch glitt Satan rasch und federnd dahin. Dan Barry hob den Kopf. Ein jubilierendes Pfeifen kam von seinen Lippen. Es stieg und fiel und schien den Luftraum mit seinem Rhythmus zu füllen. Es lockte Bart zu seinem Herrn zurück. Es veranlaßte Satan, den Kopf stolz aufzuwerfen. Seine glänzenden Augen schielten einen Augenblick lang zu seinem Herrn zurück. Dies Pfeifen war die Verheißung, daß die Schlacht so gut wie gewonnen sei und daß bald die Ruhe winke. Und vorwärts ging es, in pfeilgerader Linie, wie der Vogel fliegt, auf Caswell City zu. Wenn der Rappe anfing zu ermatten, so ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Unermüdlich griffen seine Beine aus, Felsen und Büsche flogen rechts und links vorbei, leicht wie im Flug glitt er bergauf und ab. Ganz anders als die Pferde, die hinter ihm sich abmühten. Der Boden dröhnte unter ihren schwerfällig stampfenden Hufen, sie ächzten unter dem Gewicht ihrer Fünfzigpfundsättel und der schweren Reiter.

Wieder und wieder schickte Mark Retherton die frischen Pferde von Wago zu einem Vorstoß vor. Jedesmal vergrößerte sich die Entfernung zwischen dem Rappen und seinen Verfolgern. Vergebens hob Mark nach jeder Meile, den Feldstecher und suchte, bis ihm die Augen tränten, nach Zeichen der Ermüdung in Satans Gangart. Es änderte sich nichts. Noch immer trug das Tier den Kopf hoch, noch immer bewegten sich seine Beine im gleichen, unermüdlichen Rhythmus.

Jetzt schoben sich die Wago-Berge in den Weg des Flüchtenden, kaum Berge, eher steile und zerklüftete Hügel. Aber zwischen diesen Hügeln steckten, wenn die Leute in Wago Mark Retherton nicht angelogen hatten, die Männer von Caswell City: rund vierzig Mann konnte Caswell City mühelos auf die Beine stellen. Mühelos konnten sie von den Höhen herunter Dan Barry kommen sehen und ihm den Weg verlegen. Ein Hinterhalt – eine Salve – und der denkwürdige Ritt war zu Ende!

Die Hügelkette kam rasch heran. Hatten die Männer von Caswell City ihre Pflicht verabsäumt? Dann war der Verfolgte bereits so gut wie in Sicherheit. Zwei Meilen jenseits dehnten sich weidenbestandene Marschen, wo der Asper zahlreiche Furten bot. Kein Mensch auf den Höhen! Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie lagen in einem Hinterhalt oder sie hatten sich über die Richtung getäuscht, aus der Dan Barry zu erwarten war. Das war doch kaum möglich! Besorgt musterte Mark Retherton mit dem Glas den ganzen Hügelrand. Da erst fiel ihm der dunkle Fleck auf, der vor dem Banditen dahinschoß – sein Hund. Gesehen hatte er ihn längst, aber nie beachtet. Jetzt aber bemerkte er die sonderbare Art, in der das Tier in dem rauhen Gelände hin und herjagte, sah, wie es an hochgelegenen Punkten haltmachte, wie es eifrig in unaufhörlichen Zickzacklinien den Weg, den sein Herr nahm, kreuzte.

Wie ein Späher! dachte Retherton. Bei Gott, jetzt kommt er seine Meldung erstatten!

Black Bart hatte kehrtgemacht und kam schnurstracks zu Dan zurückgerast. Er brauchte nicht zu heulen und zu winseln. Allein die Eile, mit der er gelaufen kam, bedeutete etwas ganz Besonderes. Barry mäßigte Satans Tempo und warf einen ungläubigen und verzweifelten Blick nach den Hügeln hinauf. Es war ja einfach unmöglich, daß dort oben jemand im Hinterhalt lag, um ihm den Weg abzuschneiden. Es gab kein lebendes Wesen, das die Entfernung zwischen Rickett und Caswell City rasch genug durchmessen konnte, um den Ort zu alarmieren. Und trotzdem kam jetzt Bart mit seiner Unglücksbotschaft. Eine einzige Möglichkeit war, rasch nach Osten abzubiegen, rund um die gefährliche Gegend herumzureiten und das Marschland schon unterhalb der Hügel zu erreichen. Ein Schenkeldruck. Er warf Satan herum und gab ihm noch etwas mehr die Zügel frei.

Sie mußten seine Absicht sofort erraten haben. Kaum hatte er angefangen ostwärts zu galoppieren, als es in den Hügeln laut wurde. Mit wilden Rufen brachen vierzig Reiter in rasendem Tempo aus ihrem Versteck. Sie stürmten über die Hügelkämme, quollen aus den Bodenfalten hervor. Ein halbes Dutzend jagte bereits ostwärts – auch dort war also ein Entrinnen nicht mehr möglich – und der Rest kam in einer langen Linie auf Barry zu, während der abfallende Boden ihren Pferden noch vermehrte Geschwindigkeit verlieh.


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