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Elftes Kapitel.
Eine neue Fährte beginnt

Ein gewöhnlicher Reiter wäre jetzt, müde vom langen Ritt und schwer im Sattel hängend, in hohem Bogen durch die Luft geflogen. Er wäre gegen die Felsen geschleudert und zumindest schwer verletzt worden oder, was noch wahrscheinlicher war, er hätte sich in den Steigbügeln verfangen und das Gewicht des stürzenden Tieres hätte ihn unter sich erdrückt. Aber Dan saß immer leicht wie eine Feder im Sattel, und als die Stute in die Knie brach, waren seine Füße bereits aus den Steigbügeln geglitten. Er landete wie eine Katze auf allen vieren, ohne im geringsten Schaden genommen zu haben.

Grey Molly war aus der Ferne, auf übermäßig weite Distanz, zu Fall gebracht worden. Selbst für einen Schützen vom Kaliber des Sheriffs war der Schuß nichts weiter als ein glücklicher Zufallstreffer. Jetzt sah man, weit, weit hinten,, die sechs Reiter über einen Hügelkamm jagen. Sie fegten ins Tal hinunter in der Gewißheit, ihre Beute tot oder zumindest betäubt von dem furchtbaren Sturz zu finden. Barry aber hatte kein Auge für die heranrückende Gefahr. Er rannte zu der gestürzten Stute, umschlang ihren Hals mit beiden Armen und hob ihren Kopf. Das Tier hatte wild gekämpft, um wieder auf die Beine zu kommen. Als es seine Hände spürte, wurde es ruhig und stieß ein leises Wiehern aus. Das linke Vorderbein lag furchtbar verbogen und verkrümmt unter dem Körper. Es war gebrochen. Grey Molly hatte ihr letztes Rennen gelaufen! Als Barry neben ihr kniete, ihren hübschen Kopf fest an sich gepreßt, stöhnte er tief auf und wandte den Blick ab. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Aber die Schwäche dauerte nur einen Augenblick. Seine Hand zog den Revolver aus dem Halfter.

Durch die dünne, klare Gebirgsluft hörte man deutlich, immer näher, wirbelnden Hufschlag. Das Aufgebot raste heran. Barry warf einen Blick hinüber, der von tiefstem Abscheu erfüllt war. Sie hatten ein braves Tier getötet, um einen Mann zu Fall zu bringen. Für Barry war das schlimmer als Mord. Was hatte das arme Tier getan, außer seinen Reiter treu und rasch zu tragen? Die Tränen schossen ihm in die Augen, Tränen des Jähzorns, der unbändigen Trauer, Tränen, wie sie ein Kind, und nur ein Kind, bisweilen weint. Jeder von den sechs hatte bei dem Tod der unschuldigen Kreatur die Hand im Spiele gehabt. Für ihn, mit seiner halb tierhaften, halb kindlichen Art zu denken, war jeder von den sechs ein Mörder.

Während die Finger seiner Linken liebkosend über die Stirn des Tieres glitten, drückte die Rechte die Mündung des Revolvers an Mollys Schläfe. Er flüsterte – als sie seine Stimme vernahm, hörten ihre schmerzzitternden Nüstern auf zu beben –: »Brave Molly, wackeres Tier! Sie werden dafür zahlen! Tod um Tod! Und ein Menschenleben für ein Pferd!« Der Funke, den die lange Hetzjagd in seinen Augen entzündet hatte, war jetzt zu schwelender Flamme erwacht. »Du hast's nicht weit, Molly! Nur einen Schritt, dann bist du dort, wo's keine Sättel gibt und keine Sporen, die dich peinigen, Molly! Nur Wiesen, die das ganze Jahr grünen – und du hast nichts zu tun, als in der Sonne herumzustrolchen und in den Wind zu schnuppern. Gute Fahrt, kleine Molly!«

Ein kurzer, scharfer Knall. Er bettete das schlaffe Haupt liebevoll auf den Boden.

All das hatte sich in wenigen Sekunden zugetragen. Das Aufgebot ritt eben durch den Fluß. Es war noch immer einen tüchtigen Büchsenschuß von ihm entfernt. Barry zog sein Gewehr aus dem Futteral am Sattel. Die Distanz war weit, und es dämmerte bereits. Schon der Sheriff hatte aufs Geratewohl gefeuert. Inzwischen war es noch dunkler geworden. Trotzdem drückte Barry beinahe im selben Augenblick ab, in dem das Gewehr an seiner Schulter lag. Eine Sekunde verging. Bei den Reitern drüben war nichts Besonderes zu bemerken. Dann plötzlich wankte einer im Sattel und schlug, lang ausgestreckt, in das aufspritzende Wasser.

Seine Gefährten drängten sich um ihn, zogen ihn heraus und brachten ihn ans Ufer. Gleich darauf waren sie aus den Sätteln und suchten, so gut es ging, Deckung hinter den herumliegenden Felsblöcken. Sie hatten nicht die geringste Lust, sich weiteren Kugeln eines Schützen auszusetzen, der auf diese Entfernung und bei solcher Dunkelheit, sein Ziel nicht verfehlte. Aber als sie ihre Gefechtsstellung bezogen hatten, war das Wild ihnen bereits entschlüpft. Sie hatten als Ziel für ihre Kugeln nichts weiter als die Felswände, die die heraufkommende Nacht dunkler und dunkler färbte.

»Gott, allmächtiger!« schrie Ronicky Joe. »Wollt Ihr's wirklich zulassen, daß dieser mörderische Halunke heil davonkommt, Pete? Wer macht mit, Boys, wir laufen hin und fallen über ihn her.«

Denn es war Harry Fisher, Ronicky Joes Freund und Kumpan, der gefallen war und nun, mit ausgestreckten Armen, ein kleines rotes Loch mitten in der Stirn, auf dem feuchten Sand des Flußufers lag.

»Ihr bleibt liegen, wo ihr liegt«, befahl der Sheriff. Übrigens hatte Ronicky Joes Aufforderung durchaus keinen begeisterten Widerhall gefunden.

»Ihr verdammten Schlappschwänze!« ächzte Joe. »Gebt mir 'ne Chance und ich will mit Vic Gregg mutterseelenallein fertig werden. Bei Nacht oder bei Tag, zu Pferd oder zu Fuß. Wollen wir, fünf Mann hoch, vor ihm das Hasenpanier ergreifen?«

»Wenn das Vic Gregg wäre,« antwortete der Sheriff, der Joes Beleidigung mit völliger Gelassenheit überging, »dann hätt' ich nicht gesagt, ihr sollt in Deckung gehen. Aber das ist nicht Vic.«

»In Dreiteufels Namen, Pete, was meint Ihr damit?«

»Ich sage, das ist nicht Vic«, sagte der Sheriff. »Vic ist ein ganz tüchtiger Kerl im Sattel und er ist nicht übel mit dem Revolver in der Hand, aber in seinem ganzen Leben hat er nicht reiten können wie der Kerl, der jetzt da drüben in den Felsen steckt, geschweige denn so schießen!«

Und zur Bekräftigung deutete er nach Harry Fishers Leiche hinüber.

»Ihr könnt den Hügel drüben stürmen, wenn ihr Lust habt, aber ich für meinen Teil bekenne, daß ich noch keine Lust habe, zu sterben.«

Nachdenkliches Schweigen bei den anderen. Schließlich unterbrach Sliver Waldrons tiefer Baß die Stille. »Pete, Ihr seid nicht weit vom Ziel. Es ist mir just so was Ähnliches vorhin durch den Schädel gefahren, wie der Kerl droben über der Schlucht im Kugelregen stand und uns mit dem Hut gewinkt hat. Soviel Kaltblütigkeit hat Vic in seinem Leben nicht gehabt.«

Das ganze untere Tal war schon in Grau getaucht. Nur die höchsten Bergspitzen glänzten noch im Licht. Der Sheriff verließ sein Versteck und ging den anderen nach dem Platz voran, wo die tote Stute lag. Sie sahen dort genug, was geeignet war, des Sheriffs neue Theorie zu bestätigen. Jeder von ihnen kannte Vics silberbeschlagenen Sattel. Der Sattel aber, den das tote Pferd trug, war ein alltägliches Stück wie tausend andere.

Sie beschlossen, mit Harry Fishers Leiche nach der nächsten Ortschaft zu reiten. Die Pferde gingen im Schritt mit losen Zügeln. Alles war von dem wilden Ritt des Tages erschöpft. Die Dunkelheit wurde dichter. Auch auf den höchsten Gipfeln war der letzte Tagesglanz erloschen; die purpurnen Tinten des Sonnenuntergangs am Himmel waren längst ausgebleicht, als sie das Tal hinter sich ließen und bergan ritten. Hier und da stieß eines der Pferde ein kurzes Schnauben aus, sonst herrschte tiefes Schweigen in dem kleinen Zug. Selbst der Hufschlag wurde von dem dichten, kurzen Gras gedämpft. Keiner sprach ein Wort.

Und ganz sicher wäre ohne dieses Schweigen, ohne die ungewohnte Langsamkeit des Marsches in der Dunkelheit niemals das eingetreten, was sich jetzt ereignete. Sie hatten eine Berghöhe überschritten und tauchten in eine enge Schlucht hinab. Die Wände drängten sich so eng zusammen, daß schließlich nur einer hinter dem anderen reiten konnte. Die Schlucht machte unvermutet eine scharfe Wendung nach rechts. Mit einemmal hörten die, die zuhinterst ritten, den Sheriff rufen:

»Halt da! Die Hände hoch, Mann, oder Ihr habt ein Loch im Kopf!« Alle beugten sich rechts und links über den Sattelbug, um etwas von den Vorgängen zu erhaschen. Sie reckten sich die Hälse aus und entdeckten einen Schatten zu Pferde, der dem Sheriff gegenüber hielt. Dann hörte man des Sheriffs Stimme von neuem:

»Gregg, ich bin recht froh, daß wir uns endlich doch getroffen haben.«

Hätte dieses seltsame Zusammentreffen sich an einer anderen Stelle ereignet, hätte Vic Gregg wohl versucht, unter dem Schutz der Nacht zu entrinnen. Aber in der engen Schlucht konnte er weder nach rechts noch nach links ausbrechen. Wenn er den Versuch gemacht hätte, sein Pferd herumzuwerfen, hätte ihn der Sheriff mit Revolverkugeln gespickt. In feierlichem Schweigen drängte sich das Aufgebot um seinen Gefangenen. Er trug bereits die Handschellen an den Gelenken.

»Allright, Boys«, sagte er. »Erwischt habt ihr mich, aber ihr werdet auch zugeben, daß das Glück ganz und gar auf eurer Seite war.«

Als die scharfe, nur zu gut bekannte Stimme des Sheriffs ihn im Dunkel anrief, war Vic einen Augenblick lang geradezu froh, daß seine einsame Flucht durch die Nacht so oder so ein Ende gefunden hatte. Früher oder später wäre es ja doch so gekommen. Er war bereit, mit zurückzukommen und sich dem Richter zu stellen. Er kannte drei Männer, die beschwören konnten, daß Blondy zuerst zum Revolver gegriffen hatte.

»Kann sein, wir haben Glück gehabt«, sagte der Sheriff. »Wie seid Ihr eigentlich wieder hierher zurückgekommen?«

»Ich bin glattweg im Kreis geritten«, kicherte Gregg amüsiert. »Ich bin wie ein Narr drauflosgeritten, ohne mich umzusehen, wo die Reise hinging, und zu guter Letzt war's Nacht, bevor ich so viel Vernunft besessen hatte, Ausschau zu halten, in welcher Richtung die Sonne unterging.«

»Seid reichlich guter Laune, Nachbar«, mischte sich Ronicky Joe ein. Seine Stimme war trocken wie die dürren Blätter, die im Herbstwind wirbeln.

»Ich hab' noch lang keinen Grund, mich schon mit 'nem Trauerflor zu behängen«, antwortete Gregg. »Das Dümmste, was ich je getan hab', war, einfach auszureißen. Der alte Captain unten in der Kneipe kann's euch haarklein erzählen, daß Blondy seinen Revolver zuerst herausgezogen hat. Er hatte ihn aus dem Halfter, eh ich überhaupt meine Waffe berührt hatte.«

Er hielt inne. Die schattenhaften Gestalten um ihn bewahrten ein düsteres Schweigen, das ihn unheilvoll berührte.

»'s ist meine Pflicht, Euch darauf hinzuweisen,« sagte Pete Glass, »daß alles, was Ihr jetzt sagt, später vor den Geschworenen als Belastungsmaterial gegen Euch verwendet werden kann.«

»Du lieber Himmel, Boys,« platzte Vic heraus, »habt ihr euch wirklich in den Kopf gesetzt, daß ich ein richtiger verkommener Halunke und Meuchelmörder bin? Harry, habt Ihr kein Wort für mich übrig? Seid Ihr auch wie die anderen hier?«

Niemand antwortete.

»Harry,« sagte Ronicky Joe, »warum antwortet Ihr nicht?«

Es war eine Roheit, aber selbst in seinen besten Augenblicken war Ronicky Joe niemals eine zartbesaitete Natur gewesen. Er strich kratzend ein Zündholz an und hielt es hoch. In dem unsicheren, zuckenden Licht tauchte plötzlich das Totenantlitz Harry Fishers vor Gregg auf. Er starrte hin, unfähig, wegzublicken. Das Streichholz brannte herunter bis auf Ronickys Fingerspitzen und fiel, einen roten Lichtstreif durch die Dunkelheit ziehend, auf den Boden.

Der Sheriff sprach, seine Stimme klang hart und kalt.

»Partner,« sagte er, »es hat Zeiten gegeben, da hätt's Euch was genutzt daherzureden, wie Ihr redet. Aber die Zeit ist vorbei. Ihr habt den Streit mit Blondy vom Zaun gebrochen. Ihr wußtet, daß Ihr das Schießeisen rascher heraus haben würdet, und daß Hansen in dem Kampf keine Spur von 'ner Chance hatte. Er war der schlechteste Schütze in ganz Alder. Und ganz Alder weiß es. Ihr habt den Streit vom Zaun gebrochen und – Euern Mann in aller Ruhe abgeschlachtet. – Und dafür werdet Ihr baumeln.«

Völlige Stille. Kein abfälliges Murmeln, kein Zeichen des Beifalls. Der Sheriff fuhr fort:

»Aber es gibt noch einen Ausweg, Gregg, und ich werd' ihn Euch zeigen. Wir hatten darauf gebrannt, Euch zu erwischen, und erwischt haben wir Euch ja, aber es gibt jemand, an dem liegt uns noch ein ganzes Ende mehr. Nicht auszudenken, wieviel mehr! Gregg, helft mir den Kerl finden, der Harry Fisher ausgelöscht hat und Ihr könnt sicher sein, daß Ihr nicht vor den Geschworenen stehen werdet. Ich geb' Euch mein Wort darauf.«


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