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Siebentes Kapitel.
Joan ist ungehorsam

Als Vic wieder erwachte – er erwachte aus einem bösartigen Traum, in dem er das Gefühl hatte, hilflos durch den leeren Luftraum geschleudert zu werden, während irgendwo am Horizont das riesige Gespenst eines Wolfes drohend aufragte – stellte er fest, daß er in einem Bett lag. Ein breiter Sonnenstreif fiel blendend über die weiße Decke. Zu seiner Rechten sprang eine Tür auf. Auf der Schwelle stand der Wolfshund, der ihn im Traum verfolgt hatte. Er trug ein kleines Mädchen von fünf Jahren auf dem Rücken.

»Geh da nicht rein, Bart!« flüsterte das Kind. »Marsch, troll dich! Zurück!«

Ihre dicke kleine Faust packte eine der spitzen Wolfsohren und zerrte energisch daran, aber Bart hatte blitzschnell den Kopf zurückgeworfen. Seine riesigen Zähne schlossen sich über der kleinen Hand. So furchtbar war der Anblick, daß Vic der Schreckensruf in der Kehle steckenblieb. Das Kind aber stieß nur einen kleinen Laut des Ärgers aus, griff mit der freien Hand zu und packte den Hund bei der Schnauze.

»Böser Bart!« flüsterte sie. Augenblicklich gab er die Hand frei. Auf der runden braunen Kinderhand konnte Vic die weißen Male sehen, die Barts Zähne hinterlassen hatten. »Böser Hund!« wiederholte die Kleine, und ihre ohnmächtige kleine Faust trommelte dem Tier auf den Nacken. Der Wolf duckte sich scheu und machte kehrt.

»Komm nur 'rein!« lud Gregg das Kind ein. Er war überrascht, wie dünn seine Stimme klang. Sie hatte eine merkwürdige Neigung, plötzlich piepsend umzuschlagen. Die Kleine warf die goldenen Locken zurück, die ihr schwer in die Stirn hingen, und blickte zu Vic hinüber. »Oh!« rief sie, immer noch mit gedämpfter Stimme. Sie grub die eine Hand tief in das struppige Nackenhaar des Hundes, um sich sicher im Gleichgewicht zu halten, mit der anderen packte sie das Tier wieder am rechten Ohr und zwang es mit heftigem Zerren, kehrtzumachen, bis sie wieder ins Zimmer hineinsehen konnte. Diesmal begnügte sich Bart, die Zähne zu zeigen, aber er lehnte sich nicht auf. Er zuckte nur ein oder zweimal mit dem mißhandelten Ohr, als sie es freigab.

»Komm nur 'rein!« wiederholte Gregg.

Sie legte den Kopf auf die Seite und musterte ihn aus furchtlosen blauen Augen.

»Ich möchte schon«, seufzte sie.

»Und warum kannst du nicht, Liebling?«

»Mutter sagt nein.«

Er versuchte sich im Bett herumzudrehen, um sie besser zu sehen. Ein wilder Schmerz in seiner rechten Schulter hinderte ihn daran. Er entdeckte jetzt, daß ein verwickelter Verband seinen Arm bewegungslos an den Körper gefesselt hielt.

»Wer ist deine Mutter?« fragte Vic.

»Mutter?« wiederholte sie, verwundert die Stirn kraus ziehend. »Mutter is – meine Mutter.«

»Oh,« sagte er lächelnd, »und wer ist dein Papa?«

»Was?«

»Wer ist dein Vater? Wer ist dein Dad?«

»Daddy Dan! – Du fragst aber viel!« fügte sie mißbilligend hinzu.

»Komm nur 'rein,« drängte Vic, »und ich werd' dich auch nichts mehr fragen.«

»Mutter sagt nein«, wiederholte sie.

Trotzdem war sie noch unentschlossen. Einstweilen rupfte sie Bart am Fell. Er knurrte leise und drohend. Aber sie schenkte ihm nicht die mindeste Beachtung.

»Mutter wird schon nicht böse sein«, versicherte Vic.

»Weiß ich,« nickte sie, »aber Daddy.«

»Klapse?«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Was wird er dir denn tun, wenn du hereinkommst, um mich zu besuchen?«

»Er wird mich anschaun.« Der Gedanke daran schien sie ganz atemlos zu machen. Sie warf einen scheuen und schuldbewußten Blick über die Schulter.

»Aber Liebling«, gluckste Gregg amüsiert. Seine Stimme war noch immer schwach. »Ich nehme alle Schuld auf mich. Komm du getrost herein. Daddy kann ja mich böse anschaun.«

Er mußte an den schlanken, so jugendlich aussehenden Menschen denken, dem er seine Rettung verdankte. Der Mann hatte doch so große, braune Samtaugen gehabt. Freilich, ein Kind, das unter dem Einfluß der väterlichen Autorität stand, konnte selbst vor so milden Augen ein wenig Angst empfinden.

»Wirst du auch wirklich?« sagte das Kind gespannt.

»Mein Ehrenwort!«

»Schön.« Sie hatte sich sofort entschlossen. Ihr Gesicht glänzte vor Begeisterung. »Los, Bart!« Und damit stieß sie dem Wolf kräftig die Hacken in die Weichen.

Das Tier machte ein paar gleitende Schritte und war schon mitten im Zimmer. Man hörte es nicht, nur die Pfoten machten ein leichtes, rasselndes Geräusch auf den Dielen des Bodens. Vor dem Bett, aber sorgfältig außer Reichweite, machte das sonderbare Reittier halt. Und als Vic mühsam versuchte, der Kleinen seine linke Hand hinzustrecken – er mußte dabei über seinen durch Bandagen gelähmten Oberkörper hinweggreifen –, fuhr Bart zurück und stieß ein drohendes Brummen aus. Vic hatte schon so manchen bissigen Hund gesehen, hatte miterlebt, wie Hunde miteinander kämpften, aber niemals hatte er einen Laut wie das Knurren Barts gehört. Das Tier zog die Lefzen hoch, daß das ganze Gebiß entblößt dalag. Sein Knurren schien nicht aus der Kehle zu kommen, sondern aus der Tiefe seiner Brust. Es war ein Ton, der Vic eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ein Biß dieser fürchterlichen Fangzähne genügte, um einem Mann die Kehle aufzureißen. Aber das Kind trieb dem Hund unbekümmert noch einmal die Hacken in die Weichen.

»Voran!« rief sie.

Der Wolf zitterte, aber er wollte sich nicht um einen Zoll näher rühren.

»Ungezogener Hund!« Sie ließ sich auf den Boden gleiten. »Ich werd' ihm beibringen, daß er herkommt«, erklärte sie.

»Wenn dir's gleich ist,« sagte Vic hastig, »wär' mir's genau so lieb, wenn das Vieh bliebe, wo es ist.«

»Er muß gehorchen!« antwortete sie. Sie drohte mit ihrem winzigen Zeigefinger. »Bart, gleich kommst du jetzt hierher!«

Der Hund richtete seine flammenden Augen auf sie und stieß ein Knurren aus, das seine Flanken zum Erbeben brachte.

»Kusch!« kommandierte sie und gab ihm einen heftigen Klaps auf die Nase. Er blinzelte und duckte den Kopf, aber wenn das Knurren auch verstummte, sah man doch seine Zähne blitzen. Die Kleine packte ihn mit ihren winzigen Fäusten rechts und links am Kopf unter dem Kiefer und zerrte ihn vorwärts.

»Laß ihn in Ruhe!« mahnte Vic.

»Er hat zu kommen!«

Und wirklich – er kam! Widerspenstig, langsam, Schritt für Schritt sich schleifen lassend. Sein Schnaufen und Brummen hallte im Zimmer wider. Einmal trat das Kind ein wenig zur Seite. Vic konnte die Augen des Tieres sehen, die einen giftigen Glanz hatten und rot unterlaufen waren, und er erschrak. Diese Augen waren unablässig auf das Gesicht der Kleinen gerichtet. In Vics wachsende Beunruhigung, angesichts der riesigen, ungezähmten Bestie, mischte sich noch ein zweites seltsames Gefühl: es war geradezu unheimlich zu sehen, wie entschlossen und furchtlos das Kind mit dem Tier umsprang! Als sie ihn endlich losließ, blieb der Hund zitternd stehen. Aber seine Aufmerksamkeit galt noch immer nicht dem Mann, den er entweder so haßte oder so fürchtete, daß er nicht in seine Nähe kommen wollte, sondern nur dem Kind.

»Kannst du ihn jetzt streicheln?« fragte die Kleine, die den Hund keinen Augenblick aus den Augen ließ.

»Nein, aber er ist nah genug«, versicherte er. »Ich will ihn gar nicht näher haben.«

»Er hat zu kommen!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Bart, kommst du jetzt her?!«

Widerspenstig drückte er sich einen Zoll näher. »Bart!« Sie ballte ihre Fäustchen. Ihr ganzer kleiner Körper bebte vor Energie und Entschlossenheit. Der Wolf schob seine abstoßende Schnauze auf den Bettrand.

»Jetzt streichle ihn!« befahl sie Vic.

Zoll um Zoll und mit sehr gemischten Gefühlen streckte Vic seine Hand nach dem grollenden Ungetüm aus.

»Er wird mir den Arm abbeißen«, klagte er. Trotzdem schämte er sich, den gefährlichen Auftrag rundweg abzulehnen.

»Er beißt dich nicht ein bißchen,« erklärte das Kind, »aber wenn du Angst hast, werde ich ihm das Maul zuhalten.« Und ohne weiteres klammerte sie die Hände um die spitze Wolfsschnauze.

Sogar als Vics Hand über seinem Kopf schwebte, beachtete Bart ihn nicht. Das Tier schien unfähig, den Blick von dem Kind loszureißen. Einmal, ein zweites Mal, ein drittes Mal – mit einer Vorsicht, als ob er dünne Seifenblasen anfassen müßte – berührte Vic den mit Narben bedeckten Schädel.

»Ich hab's ihm beigebracht, zu kommen, nicht?« rief das Kind triumphierend und drehte Vic sein von Eifer erfülltes Gesichtchen zu. Aber in dem Augenblick, als es die Augen wegwandte, machte der Wolf einen Satz, der ihn durch die halbe Stube trug. Dort hinten, möglichst weit vom Bett, blieb er stehen. Schauer um Schauer lief über ihn hin. Er sah teuflischer aus als je. Die Kleine stampfte wieder mit dem Fuß.

»Böser, böser, böser Bart!« sagte sie zornig. – »Soll ich ihn wieder herholen?«

»Laß ihn in Ruhe!« murmelte Vic und schloß die Augen. »Laß ihn, wo er ist. Ich brauch' ihn nicht.«

»Oh,« sagte sie, »manchmal ist er so ungehorsam, aber Daddy Dan, der bringt ihn dazu, daß er alles tut.«

»Hm!« knurrte Vic. Er erinnerte sich an die Szene draußen im Wald. Wie Bart damals vor ihm gesessen hatte, wie die leibhaftige Mordlust, hungrig auf einen Vorwand lauernd, um ihm die Zähne ins Fleisch zu schlagen. Seltsame Leute mußten in diesem Hause wohnen. Lange, lange würde er brauchen, um den Eindruck des stählernen kalten Blicks loszuwerden, der ihn eben aus diesen Kinderaugen getroffen hatte.

»Joan!« rief eine Stimme von draußen. Vic erkannte sie wieder. Es war die samtene, schöne Stimme des Mannes, der den Rappen geritten hatte. Das Kind lief auf die Tür zu, aber kaum hatte es einen Schritt getan, als es innehielt und ängstlich zu Vic zurückflüchtete.

»Wenn du Angst hast, daß Dad dich hier findet, dann lauf doch!«

Sie spielte nervös mit ihrem Kleidchen.

»Daddy Dan wird's doch wissen«, flüsterte sie, ohne sich umzuwenden. »Und – und – er ist böse, wenn ich Angst habe – selbst vor ihm!«

Ein kleines Händchen glitt aufs Bett hinauf, suchte ein bißchen herum und fand Vics Daumen, den es sanft umschloß. Und nachdem sie sich so einen Trost und eine Stütze gesichert hatte, blieb die Kleine stehen und wartete, den Blick auf die Tür gerichtet.


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