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Zweites Kapitel.
Grey Molly

Wenn Mame, der Esel, irgendwie für Enthusiasmus empfänglich gewesen wäre, hätte er die Reise pünktlich und fahrplanmäßig zurücklegen können, aber Mame war eben nur ein Esel und höchstens dazu fähig, einen Packen zu schleppen, der gut halb so schwer war wie er selbst, von einer Handvoll Futter zu leben, bei dem selbst eine Geiß verhungert wäre, und in Zeiten der Dürre auf fünfzehn Meilen Entfernung Wasser zu wittern. Eile dagegen war ein Wort, das er nicht kannte, und infolgedessen war es nicht Morgen, sondern bereits Spätnachmittag, als Gregg mit ihm Murphys Pass passierte und hoch über Alder aus den Gebirgen herauskam. Wie auf Verabredung machten sie beide halt, und Mame klappte eins seiner langen Ohren vorwärts, als lausche er dem Rauschen des Doaneflusses. Zu ihren Füßen beschrieb das schäumende braune Wasser einen weiten Bogen, und an dieser Stelle, planlos hingestreut, hier ein riesiger Felsblock, dort zur Abwechslung ein Haus, lag das Städtchen Alder. Es bestand aus erstaunlich gebrechlichen Gebäuden. Man wunderte sich, daß sie nicht unter den Schneelasten des Winters zusammengebrochen waren, daß der Doanefluß nicht eine lange gierige Zunge ausgestreckt und das ganze Nest krachend in die Strömung hinabgefegt hatte. Ein Haus glich dem andern wie ein Ei, aber Vics Blick drang durch die altvertrauten Dächer. Er sah in Witwe Sullivans wacklige Hütte, in Hezekiah Whittlebys in feierliches Schweigen gehüllte »Gute Stube« hinein, er sah sogar den ewig feuchten, schmutzigen Fußboden in Captain Lorrimers Kneipe, aber sein erster und letzter Blick galt der kleinen Flagge, die in leuchtenden Farben über dem Dach des Schulhauses knatterte; die bedeutete etwas für Vic. Sie sprach: »Dies ist deine Heimat!«

Mame ließ sich zu einem ganz ordentlichen Zuckeltrab herbei, als es den letzten Abhang hinunterging. Im Zuckeltrab und mit einem protestierenden Schnaufen bei jedem Schritt ging es durch die einzige lange, gewundene Straße des Orts. Pfeifend kam Vic hinterher. Wenn er in der Stadt war, wohnte er bei seinem Freund Dug Pym, der eine Bodenkammer für ihn reserviert hielt. Und so ging's jetzt geradeswegs nach Dug Pyms Haus.

Der alte Garrigan war in seinem Gemüsegarten und gackerte hinter ihm her, doch Vic begnügte sich damit, ihm zuzuwinken und eilte weiter. Vorbei auch an Gertie Vincent, die ihm sehnsüchtig nachrief (Gertie Vincent war »sein Mädel« gewesen, ehe Betty Neal nach Alder gekommen war); vorbei auch mit heldischer Entschlossenheit an der Veranda von Captain Lorrimers Kneipe, obwohl Lorrimer selbst einen Gruß herunterbrüllte und »Chick« Stewart vielsagend über die Schulter hinweg mit dem Daumen nach der offenen Kneipentür deutete. Er machte erst halt, als er die Schmiede erreicht hatte und sah zu Dug hinein, der sich gerade abmühte, Simpsons unruhigem Rotschimmel ein rotglühendes Eisen anzupassen.

»He, Dug!«

Pym hob die berußte, schweißbedeckte Stirn.

»Du bist's? Still, verdammtes Biest! Hallo, Vic!« Er stemmte den Hinterhuf des unruhigen Tieres gegen seinen Schenkel und streckte Vic die Hand entgegen.

»Laß dich nicht stören, Dug, ich kann jetzt doch nicht bleiben; 's einzige, was ich will, ist ein Lasso. Ich will Grey Molly einfangen.«

»Verdammter roter Teufel!« – dies galt dem Pferd – »Da drüben hängt ein Lasso, Vic. Du wirst nicht viel Arbeit haben, um Molly einzufangen. Die ist jetzt zahm wie ein Lamm. Steh' doch still, verdammtes Vieh! Der ist von 'ner Rasse, die keine Spur von Verstand im Kopf hat! – Wohin so eilig, Vic? Zur Schule hinauf?«

Mit einem Grinsen auf dem schweißbedeckten Gesicht blickte er Vic nach, der mit dem Lasso auf der Schulter die Schmiede verließ. Als Vic nach dem Wohnhaus hinüberkam, drückte ihn Nelly Pym liebevoll an ihren umfangreichen Busen; bei ihrem Fett und ihren vierzig Jahren durfte sie sich dergleichen schon herausnehmen. Sie blieb auch unten an der Treppe stehen und unterrichtete ihn, nach der Dachkammer hinaufbrüllend, wo er sich in fieberhafter Hast rasierte und in seine besten Kleider zwängte, über alles, was man sich im Städtchen erzählte. Er antwortete höchst einsilbig und beinahe ohne hinzuhören.

»Bist du mit deiner Arbeit fertig, Vic?«

»Keine Spur.«

»Richtig dünn geworden bist du von der vielen Arbeit. Ich hoff nur, dein Leichnam ist damit einverstanden.« Sie kicherte. »Krank bist du nicht gewesen, was?«

»Keine Spur.«

»Weißt du schon, wen wir jetzt hier haben? Sheriff Glass!«

Er zerrte gerade wütend an einem Stiefel, der ihm gut anderthalb Nummern zu klein war, aber trotzdem war das eine Nachricht, die auch sein inneres Ohr erreichte.

»Pete Glass!« wiederholte er. Dann: »Hinter wem ist er her?«

»Keine Ahnung. Vic, er sieht gar nicht so bösartig aus, wie man sich vorstellt.«

»Er ist bösartig genug«, versicherte Gregg von oben. »Ah–h–h!«

Er hatte den Fuß glücklich in den Stiefel hineingezwängt, aber seine Zehen standen Folterqualen aus.

»Well«, rumpelte es von unten, – Mrs. Pym schien in philosophische Überlegungen vertieft –: »Denke, just die Burschen, die so ruhig aussehen, sind von der gefährlichen Sorte. Aber wenn du dir Glass ansiehst, würdest du dir's nie träumen lassen, daß er so vielen das Lebenslicht ausgeblasen haben soll. Weißt du schon von dem Ball?«

»Keine Spur.«

»Drunten bei Singer wird heute getanzt. Geht Betty mit dir?«

Er riß die Tür ganz auf und bellte zu ihr hinunter: »Mit wem soll sie sonst gehen?«

»Immer sachte mit die jungen Pferde«, sagte Mrs. Pym. »Ich weiß wirklich nicht, mit wem sie sonst gehen sollte. Tiptop siehst du aus mit dem roten Hemd, Vic!«

Er grinste halb besänftigt und halb beschämt und verschwand wieder in seiner Kammer. Gleich darauf humpelte er unbeholfen die Treppe hinunter. Seine Stirn war gerunzelt, er fragte sich, ob es ihm gelingen werde, in solchen Stiefeln zu tanzen.

»Ich fühl' mich so komisch in den ungewohnten Kleidern. Wie seh' ich aus, Nelly?« Er stand jetzt unten im Flur und drehte sich langsam um seine Achse, um sich bewundern zu lassen.

»Wie ein junger Prinz. Da kannst du Gift drauf nehmen.« Und als er durch die Haustür hinausschoß, brüllte sie ihm noch nach: »Gib ihr noch einen Kuß auf meine Rechnung, Vic.«

Vic stand schon im Mittelpunkt der kleinen Pferdekoppel und legte die Schlinge seines Lassos zurecht. Die drei Pferde, die hier gegrast hatten, fegten in federndem Galopp rundum, den Zaun entlang, als suchten sie nach einem Weg zur Flucht. Das ganze Doanetal hinauf und das Aspertal hinunter gab's kein Tier, das Grey Molly einholen konnte, wenn sie loslief wie jetzt. Vics Augen strahlten vor Stolz, als er ihr zusah. Er ließ den Lasso über dem Kopf kreisen, und während die anderen beiden Pferde weiter galoppierten und stumpfsinnig in die Gefahrzone hineinliefen, wirbelte Grey Molly herum, wie ein Fuchs, der einen Haken schlägt, und war mit einem Sprung außer Reichweite.

»Braves Tier!« rief Vic unwillkürlich. Er rannte ein paar Schritte. Wieder schoß der Lasso in die Luft, die Schlinge öffnete sich zu einem unregelmäßigen Kreis und schwirrte herab. Der Graue sah die Gefahr, aber es war schon zu spät. Noch ehe er kehrtmachte, glitt die Schlinge ihm über den Kopf. Das Pferd spreizte schleunigst alle Viere, stemmte die Hufe ins Gras und kam nach kurzem Gleiten schnaubend zum Halten. Das erste, was ein Pferd auf der Ranch draußen lernt, ist, daß man besser tut, einen Lasso nicht stramm zu ziehen, wenn die Schlinge um den Hals liegt.

Wenige Minuten später war Grey Molly dabei, sich nach Herzenslust auszubocken. Das muß jedes Cowboypferd, das etwas auf sich hält, wenn es lange Zeit auf der Weide war, ohne arbeiten zu müssen. Es gibt eine hohe Schule des Bockens, und Grey Molly wußte darin Bescheid. Mrs. Pym stand, mit einem breiten Schmunzeln der Bewunderung auf ihrem roten Gesicht, unter der Tür und sah zu. Sie wußte, was ein guter Reiter war, wenn sie ihn sah. Mit einemmal hörte das Toben auf und das Tier stand wie ein Standbild mit stolz erhobenem Kopf, bebend vor Energie, mit gespitzten Ohren. Gregg warf seinem Liebling mit halblauter Stimme ein paar zärtliche Flüche an den Kopf. Er verstand das Tier, er kannte es von den Fesseln bis zu den Zähnen.

Draußen kamen schrille Kinderstimmen die Straße herunter. Die Schule war aus. Vic mußte sich beeilen, wenn er mit Betty nach Hause reiten wollte. Er winkte Mrs. Pym einen letzten Gruß zu und trabte davon. Seit zwei Tagen hatte er sich fieberhaft auf das Zusammentreffen mit Betty gefreut, den ganzen Winter über hatte er sich nach ihr gesehnt. Jetzt, wo der Augenblick näher und näher kam, wurde er schwach. Das war immer so, wenn er dem Mädchen in die Nähe kam. Nicht etwa, daß ihre Schönheit ihn überwältigt hätte, wenn sie auch mit ihrer strotzenden Gesundheit und ihrem netten, sommersprossigen Gesicht hübsch genug war. Aber er hatte Betty gewählt, wie ein Indianer sich einen Feuerstein zu seinem Stahl sucht. Aus Betty Neal ließen sich Funken schlagen. Wenn er weit von ihr entfernt war, liebte er sie, ohne zu zweifeln und ohne an ihr irre zu werden. Sein Vertrauen strömte zu ihr hin wie ein Fluß, der seinen Weg zum Weltmeer sucht. Er wußte, ihr Herz schlug so stark und treu für ihn wie das Herz keines anderen Wesens auf der Welt, Grey Molly ausgenommen. Aber in ihrem Benehmen war sie wetterwendisch, und wenn er ihr nahe kam, wurden Unbehagen und Mißtrauen immer wieder in ihm wach.


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