Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.
Die Flucht

Im Dunkel der Kneipe sah man nur drei weiße Flecken, die kalkbleichen Gesichter Lorrimers, Stewarts und des alten Perkins. Zu Vics Füßen aber glühte ein roter Fleck, der größer und größer wurde. Vic drehte den dreien den Rücken – er wußte, daß keine Hand sich gegen ihn heben werde, kein Fuß sich rühren, um ihm nachzusetzen –, schritt wortlos aus der Tür und schwang sich in den Sattel. Noch zögerte er einen Augenblick und berechnete seine Aussichten. Er hatte Zeit. Vor ihm und hinter ihm lag die Straße völlig verlassen und öde, und kein Alarmruf drang aus der Kneipe. Beinahe wäre er der Versuchung erlegen, erst noch sein Quartier aufzusuchen, um seine Schlafdecken und ein paar andere Dinge zu holen, die er dringend brauchte, aber dann erinnerte er sich, daß die Männer des Städtchens verblüffend fix im Handeln waren. Er mußte damit rechnen, daß ihm innerhalb der nächsten fünf Minuten eine Handvoll erprobter Reiter auf den Fersen sein würde – Pete Glass an der Spitze! Es war eine besondere Tücke des Schicksals, die Pete Glass just an diesem Tag nach Alder geführt hatte. Des Sheriffs berühmte ruppige Stute stand noch vor der Kneipe angehalftert. Vic spielte mit dem Gedanken, ihr eine Kugel durch den Kopf zu jagen, um seinen Verfolgern die Sache nicht allzu leicht zu machen. Er hielt die Waffe schon in der Hand, aber er brachte es nicht über sich. Mit einem Fluch auf seine eigene Schwäche ließ er das Schießeisen wieder zurückgleiten. Ein Ruck an den Zügeln, und Grey Molly trug ihn in leichtem Trab die Straße hinunter. Noch immer schien Alder nicht zu erwachen. Um ihn und hinter ihm rührte sich nichts. Aber als er das letzte Haus hinter sich ließ und der Pfad sich den felsigen Berghang hinaufzuarbeiten begann, knallte weit hinten eine Tür. Eine Stimme schrie aus Leibeskräften: »Pete! Pete Glass!«

Grey Molly peitschte nervös mit dem Schweif – sie hatte den Schrei gehört –, aber Vic war zu vorsichtig, um mit einem eiligen Ritt den Berg hinauf ihre Kräfte vorzeitig zu verbrauchen. Ein leiser Schenkeldruck, und das Tier fiel wieder in Schritt. Vic drehte sich im Sattel, um nach dem Ort zurückzublicken, der rasch hinter ihm tiefer und tiefer sank. Da unten wimmelte jetzt die Straße von Menschen, die von seiner Höhe aus seltsam klein und dabei doch seltsam deutlich wirkten. Sie schienen aus dem Nichts aufzutauchen, Männer zu Pferd, Männer, die eben in den Sattel sprangen. Hier und da blitzten die schrägen Strahlen der Abendsonne auf einem Büchsenlauf, hier und da drangen ihre Stimmen lächerlich dünn und piepsend bis zu ihm hinauf. Als Vic den unteren Eingang zum Murphy Pass erreicht hatte, löste sich ein kleiner Reitertrupp aus dem Gewühl vor Lorrimers Kneipe und fegte die Straße hinunter, voran eine staubfarbene Gestalt auf einem staubfarbenen Pferd. Vic wußte, wer das war, obwohl Reiter und Tier kaum erkennbar waren. Dahinter der rote Klecks mußte Harry Fischer auf seinem Braunen sein und der Rotfuchs daneben, mit der weit ausgreifenden Gangart, konnte keinen anderen tragen als den grimmigen alten Slivers Waldron. Dahinter ritt einer, auf dessen silbernen Sporen das Licht funkelte – Mat Henshaw, der Dandy von Alder, dann kam der schwarze Guss Reeve und als letzter Ronicky Joe, der Mann, der sich auf alles verstand und ganz besonders aufs Schießen. Dies zeigte, wie rasch Pete Glass arbeiten konnte und wie gut er in Alder Bescheid wußte, denn Vic selbst hätte unter der Einwohnerschaft des Nestes keine fünf Männer finden können, die besser reiten konnten und tadellosere Pferde besäßen. Das Aufgebot fegte um die letzte Dorfecke herum und stürmte mit der sausenden Wucht einer ausholenden Peitsche bergan.

»Gut,« sagte Vic Gregg, »die verdammten Idioten werden ihren Pferden die Lungen aus dem Leib geritten haben, ehe sie noch bis zum Paß gekommen sind.«

Er setzte Grey Molly in leichten Trab, denn der Pfad durch den Paß war ebensowenig zu raschem Reiten geeignet wie der steile Hang vorher. Der Weg stieg plötzlich an und tauchte plötzlich wieder abwärts und war mit zackigen Felsen oder heimtückischen, plötzlich ins Rollen kommenden Steinbrocken dicht besät. Er hatte alles genau berechnet. Das Aufgebot konnte den Eingang der Paßschlucht nicht erreichen, ehe er selbst bereits den Ausgang auf der anderen Seite hinter sich hatte, und dann gab es nichts mehr, was ihm gefährlich werden konnte, als vielleicht durch einen unglücklichen Zufall ein ihm aufs Geratewohl nachgesandter Schuß aus der Ferne. So hatte er Zeit, sich umzusehen und den blaßsilbernen Fleck am Himmel zu bemerken, der durch die obersten Wipfel der Berge zur Rechten zu schimmern begann. Heute nacht war also Vollmond, das war schlecht für Vic und eine Chance mehr für Pete Glass.


 << zurück weiter >>